AVIVA-Berlin >
Interviews
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 30.04.2006
Etta Scollo im Interview
Zilg / Pommerenke
Die italienische Wahl-Berlinerin und Musik-Künstlerin erzählt von ihrer Hommage an Rosa Balistreri, Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Kulturen, Cantohistorien, Klageliedern und von...
... neuen Projekten.
Mit "Canta Ro` in Trio" entdeckt Etta Scollo die vergessenen Volkslieder der Rosa Balistreri wieder –aber nicht wie auf dem vorigen Album mit Unterlegung des "Orchestra Sinfonica Siciliana", sondern in reduzierter Form, mit einem Trio. Die Aufnahmen klingen deshalb aber nicht weniger komplex: Durch den Einsatz von Gitarre, Akkordeon, Mandoline, Flöte, Klarinette, Trompete, Posaune, Tuba, Percussioninstrumenten, Harfe, Laute, Fiedel, Harmonikum und Maultrommeln entsteht ein Kaleidoskop an Klängen. Im TIPI in Berlin war das Abendprogramm mit sehnsuchtsvollen, ausdrucksstarken und temperamentvollen Liedern, das zugleich einen tiefen Einblick in die sizilianische Kultur und Geschichte bietet, im Herbst 2005 zu sehen.
AVIVA-Berlin traf die lebhafte Italienerin zu einem Gespräch über ihre vielseitige musikalische Tätigkeit, Recherchearbeit, persönliche Hintergründe und zukünftige Projekte.
AVIVA-Berlin: Sie haben sich für die aktuelle Live-CD auf Wunsch des Publikums entschieden. Würden Sie uns etwas über die Resonanz der ZuhörerInnen nach den Konzerten erzählen?
Etta Scollo: Sie waren sehr begeistert. Ich habe mich am Anfang schon gefragt, wie das deutsche Publikum auf eine Produktion über eine unbekannte Sängerin aus Sizilien reagieren wird. Wenn ich über Edith Piaf oder Marlene Dietrich gesungen hätte, könnte hier jedeR sofort etwas damit anfangen. Aber ich habe ein Projekt über eine Person gemacht, die in Deutschland komplett unbekannt ist. Die Biographie ist jedoch sehr spannend, jedeR kann etwas finden in ihrer Geschichte, wo der Gedanke entsteht: "Ja, das kenne ich, das habe ich auch erlebt." Ich wollte eine Brücke schlagen und zeigen, dass Dinge, die an einem entfernten Ort passieren, wo eine andere Sprache gesprochen wird, Gemeinsamkeiten haben mit der eigenen Kultur.
Da wir das Rosa Balistreri-Programm aufgrund der großen Nachfrage über ein ganzes Jahr ausgedehnt haben, entschlossen wir uns, daraus ein Live-Album zu produzieren. Es ist ein Dankeschön an unsere ZuhörerInnen, die uns soviel positives Feedback gegeben haben, aber ich will damit auch erreichen, dass das Thema - sizilianische Musik und Rosa Balistreri - noch mehr Boden bekommt und nicht gleich wieder vergessen wird. Sizilianische Kultur ist außerhalb von Italien nicht so bekannt wie beispielsweise Fado oder Flamenco, die mittlerweile oft zum kommerziellen Klischee geworden sind.
AVIVA-Berlin: Wie würden Sie denn sizilianische Musik im Vergleich zu Fado und Flamenco beschreiben?
Etta Scollo: Ich denke, im Norden von Europa haben viele Leute eine Vorstellung von Sizilien, die nicht ganz stimmt. Da ist oft das Bild von dem Mafiosi mit Schnauzbart, welches zu einseitig ist. Die Musik von Sizilien wurde im Laufe der Zeit von mehreren Kulturen beeinflusst – zum Beispiel vom griechischen und arabischen Raum. Im Mittelalter war Palermo eine Stadt mit 300 Moscheen. Als Friedrich der II, der deutsche König, sie eroberte, veränderte sich das wieder. Alle Kulturen haben stark miteinander interagiert. Es gab auch französische und spanische Einflüsse. Auf Sizilien gibt es Orte, wo ein französischer Dialekt gesprochen wird. Und so ist auch die Musik: Alle diese Elemente sind erkennbar in der Art, wie sich die Melodien strukturieren. Das Material, das überliefert wurde, besteht meistens aus einer Gitarre und einer Stimme, oft auch nur aus einer Stimme, oder aus einer Maultrommel und einer Stimme. Manchmal finden sich Besetzungen aus Geige, Cello, Mandoline. Das war ca. Anfang des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit bestanden viele Berührungspunkte zwischen der romantisch-klassischen Musik und der Folkmusik.
AVIVA-Berlin: Sie haben in ihrem Programm auch einen Bezug zu der Tradition der Klagelieder, die in vielen südlichen Ländern eine wichtige Rolle spielen. Welche Stellung nehmen diese in der sizilianischen Musik ein?
Etta Scollo: Jede Region hat eine ganz spezifische Form. Sizilien hat eine sehr starke Tradition der Klagelieder. Die unterschiedlichen Themen wurden dazu genutzt, um Geschichten zu erzählen, als Zeitungen noch nicht so weit verbreitet waren. Es gab auch Männer, die mit einem Caretto, einer kleinen Karre, durch das Land zogen. Sie waren vorrangig Warenhändler, haben aber auch Nachrichten verbreitet, indem sie mit einer Gitarre Lieder über die aktuellen Ereignisse vortrugen. Oft haben sie dazu auch gemalte Tafeln verwendet, auf denen die Handlung illustriert war. Das sind jedoch nicht die typischen Klagelieder, sondern Cantohistorien. Richtige Klagelieder sind für spezielle Situationen geschrieben worden. Wenn jemand verstorben war, holten die Angehörigen Frauen, die den Verlust beklagten. Diese Klageweiber entwickeln spezielle Gesänge nach einer vorgegebenen, überlieferten Art und Weise. Es ist jedoch schwierig, diese Gesänge zu erforschen. Mein Bruder, ein Musikwissenschaftler, und ich hatten Kontakt mit einer Frau, die wir darum baten, ein Klagelied von ihr aufnehmen zu dürfen. Sie bestand darauf, mit dem Mikro allein in einem Raum gelassen zu werden. Doch sie konnte es auch so nicht, da diese Gesänge mit viel Schmerz und Trauer verbunden sind, die es erschweren, sie in diesem Zusammenhang preiszugeben.
AVIVA-Berlin: Wie würden Sie Rosa Balistreri jemandem beschreiben, der noch nicht so viel über sie weiß? Was hat Sie persönlich an ihrem Weg fasziniert?
Etta Scollo: Mich hat fasziniert, dass eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen es mit ihrer Kraft und ihrem Mut geschafft hat, kulturelle und soziale Veränderungen zu initiieren, was eigentlich unmöglich ist, wenn keine Leute vorhanden sind, die einen unterstützen. Sie war zunächst keine Sängerin, sondern eine Frau mit einer guten Stimme, erst später konnte sie sich ausbilden lassen. Von ihrer Oma hat sie die traditionellen sizilianischen Lieder gelernt. Ihr Vater war ein einfacher Bauer, den sie oft zur Feldarbeit begleitet hatte, wobei sie die ländlichen Gesänge erlernte. Später ging sie von der Hafenstadt Licata, wo sie geboren wurde, nach Palermo. Sie arbeitete dort erst einige Jahre als Gouvernante und eine kurze Episode als Messdienerin in einer Kirche, wo der Priester sie schlecht behandelte. Jede andere Frau wäre einfach gegangen, aber sie hat rebelliert. Während der Messe kippte sie das Weihrauchgefäß um und stahl das Almosen. Der Priester drohte ihr mit einer Anzeige, aber sie sagte nur: "Holen Sie nur die Polizei, dann werde ich Sie auch anzeigen." Sie war überhaupt nicht schüchtern. Sie behielt das Geld und nahm den nächsten Zug nach Florenz. Es gab dann einige glückliche Zufälle. Nachdem sie eine Weile als Markt-Gemüseverkäuferin gearbeitet hatte, lernte sie immer mehr Leute aus künstlerischen Kreisen kennen und nahm an Musik- und Theaterprojekten teil. Von Anfang der 60er Jahre bis Ende der 70er Jahre wurde sie in Italien als die Folkssängerin aus Sizilien berühmt. Sie war ein Unikat, sie hat so viele abenteuerliche Sachen erlebt. Auf eine ganz besondere Art ist sie mutig ihren Weg gegangen und entwickelte einen großen Stolz, obwohl sie mit vielen Hindernissen konfrontiert wurde.
Ich habe versucht, meine Hommage so zu gestalten, dass sie sich darüber freuen würde. Ich habe sehr viel recherchiert und mich mit vielen Leuten unterhalten, die sie persönlich gekannt haben. Sie ist als Künstlerin immer noch umstritten, in Italien gab es auch Stimmen, die fragten, warum ich ausgerechnet über sie ein Projekt machen möchte.
AVIVA-Berlin: Gibt es Berührungspunkte zu Ihrer eigenen Biographie?
Etta Scollo: Ich bewundere Rosa Balistreri, seit ich 14 Jahre alt bin. Ich habe selbst Sizilien als 18-Jährige verlassen und geheiratet. Ein Jahr später wurde ich geschieden. Seit dieser Zeit lebe ich mit einer Sehnsucht nach gewissen Dingen, die ich dort nicht vollenden konnte. Aber ich konnte dieses Projekt vollenden und viele der unerledigten, persönlichen Hintergründe mit einfließen lassen.
AVIVA-Berlin: Sie haben den künstlerischen Prozess der Entwicklung für die musikalischen Interpretationen der Rosa-Balistreri-Titel als sehr experimentell beschrieben.
Etta Scollo: Nachdem wir das erste Canta Ro` - Projekt mit dem Orchester eingespielt hatten, dachten wir, es sei ein Höhepunkt erreicht, es gehe nicht weiter.
Aber Musik ist sehr plastisch: Sie kann immer wieder neu erfunden werden. Ich bekam die Idee, die Kompositionen zu reduzieren und zu schauen, wie es sich anhören würde, wenn sie mit ganz kleinen Elementen umgesetzt werden. Dies entspricht ja auch der Welt von Rosa Balistreri, sie hat sich selbst auf einer Gitarre begleitet. Manchmal hatte sie auch ein paar Musiker dabei, einen Mandolinenspieler und einen Trommler.
Mit den Musikern, die mich seit Jahren begleiten, enthüllte ich die Lieder wieder aus dem Orchestralen. Indem wir sehr viel ausprobiert haben, wollten wir herausfinden, welches Instrument zu welcher Stimmlage passen würde.
AVIVA-Berlin: Haben Sie ein Lieblings-Instrument unter den verwendeten?
Etta Scollo: Ja, die Harfe. In zwei Liedern setzen wir sie ein. Ich hätte zuvor nie gedacht, dass ich eine Harfe lieben würde, denn ich habe sie immer mit etwas engelhaft-süßem, sehr kitschigem verbunden. Björk ist einige der wenigen Musikerinnen, die sie zum Beispiel im Popbereich genutzt hat. Es kommt immer darauf an, wie ein Instrument verwendet wird. Ich war selber überrascht, dass ich ein Gefängnislied mit einer Harfe singe.
AVIVA-Berlin: Gibt es ein Lied, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Etta Scollo: Nein, ich habe kein Lieblingsstück in dem Sinn. Das verändert sich ständig, mal ist es das Eine, mal ein Anderes. Ich neige etwas mehr zu den traurigen Liedern mit Melodien, die Blues und Fado in sich tragen. Ich liebe die Kontraste, die Extreme: Zum Beispiel singe ich nach "Lu libbru di li nfami", dem Gefängnislied mit der Harfe, das zweideutig-erotische "U cunigghiu" - ein sehr schnelles Lied, das komplett anders aufgebaut ist. Es ist sehr humorvoll: Ein Mann wird mit einem Kaninchen verglichen. In einem Land wie Sizilien ist das eine ziemliche Provokation.
AVIVA-Berlin: Die CD-Hülle ist sehr aufwändig gestaltet in der Form eines kleines Kunstbüchlein. Wie ist diese Idee entstanden?
Etta Scollo: Ich habe es konzipiert und der Designer Walter Thielsch hat es umgesetzt. Er hat früher als Sänger bei Palais Schaumburg mitgewirkt und ist ein sehr intelligenter, vielseitiger Künstler. Er lebt in Hamburg in einem Haus voller Bücher, Kunst und Schallplatten. Er hat mir eine alte sizilianische LP mit traditionellen Gesängen aus der Stadt Modica geschenkt. Das ist eine große Rarität, ich war sehr überrascht, dass er diese LP hatte. Er hat schon viele Cover von mir gemacht. Für "Canta Ro` in Trio" habe ich Bilder von alten Cantohistorien-Tafeln ausgewählt. Sie sind von traditionellen sizilianischen Malern. Aus diesem Material hat Walter das Design entwickelt, die Farben, Strukturen und skizzierten Blumen sind aus seiner Handschrift.
AVIVA-Berlin: Gibt es schon Pläne für ein nächstes CD-Projekt?
Etta Scollo: Ich arbeite parallel an drei Projekten. Für 2007 plane ich gemeinsam mit Markus Stockhausen und sizilianischen Künstlern ein musikalisch unterlegtes Poesie-Theaterstück mit Musik. Es soll dort ein Festival eröffnen, das ähnlich der biennale in Venedig ist. Dieses Jahr mache ich ein Projekt mit sizilianischen Sängerinnen über Kinderschlaflieder. Ursprünglich wollte ich es alleine umsetzen, aber als ich für die Recherche in Sizilien war, lernte ich so viele gute Sängerinnen kennen, dass ich sie in die Arbeit einbezog. Dann sammel ich gerade Texte für mein nächstes Solo-Projekt. Diese Produktion ist für nächstes Jahr geplant. Ich habe dazu Poesie aus verschiedenen Epochen ausgewählt. Das reicht bis zum Frühmittelalter. Mir gefällt dabei, mit einer Art Täuschung zu arbeiten. Ich singe eine Sache und die ZuhörerInnen glauben zunächst, es sei eine andere Sache. Viele Geschichten, die in Sizilien passiert sind, verbinden sich mit anderen Geschichten. Zum Beispiel habe ich Poesie gefunden aus 1100 n.u.Z. von einem arabischen Poeten, der auf Mallorca gestorben ist. Er war zuvor Konsul von Sizilien. Nachdem er von den Normannen vertrieben wurde, hatte er aus Sehnsucht Poesie über Sizilien geschrieben. Sie klingt sehr modern, fast wie Avantgarde-Poesie. Niemand würde glauben, das sie vor fast 1000 Jahren geschrieben wurde. Diese Texte möchte ich verbinden mit einer Musik, die spürbar macht, dass die Inhalte ganz aktuell im Hier und Jetzt sind, und doch gleichzeitig sehr, sehr alt. Ich werde Poesie von ganz alten, aber auch von jungen Poeten verwenden. Ich habe Lyrik von einem Dichter um 1990, der aber schon verstorben ist, und von einem Gegenwarts-Poeten, der in Sizilien lebt und in einer sehr alten Sprache schreibt. Wenn diese Texte gelesen werden, ist das Gefühl da, in einer längst vergangenen Zeit zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie aus dem Jetzt.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für alle zukünftigen Projekte!