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Beitrag vom 19.03.2007
Interview mit Barbara Bongartz
Sabine Grunwald
Die Autorin des autobiographischen Romans "Der Tote von Passy" über die Kunst, die eigene Lebensgeschichte zu einem literarischen Werk zu verarbeiten.
Der autobiographische Roman von Barbara Bongartz ist eine Suche nach der eigenen Identität und der Herkunft. Die Protagonistin hegt bereits im frühen Kindesalter die Vermutung, nicht das Kind ihrer Eltern zu sein. Im Alter von vierzehn Jahren wird dieser Verdacht bestätigt, als der Vater ihr eröffnet, dass sie als Baby adoptiert wurde. Das Mädchen muss aber versprechen, dieses Geheimnis weiterhin für sich zu behalten. Erst als erwachsene junge Frau beginnt begibt sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Der Roman ist eine geschickte Verbindung von literarischer Fiktion und persönlicher Geschichte. Barbara Bongartz wurde 1957 in Köln geboren und studierte Theater- und Filmwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Paris, München und Köln.
Seit 2003 lebt sie in Berlin.
AVIVA-Berlin: Was war der Auslöser dafür, "Der Tote von Passy" zu schreiben?
Barbara Bongartz: Einen Auslöser in Form eines einzigen Moments hat es nicht gegeben. Der Stoff des Romans ist ein Teil meiner Lebensgeschichte. Ich habe sieben oder acht Versionen geschrieben, bis daraus "Der Tote von Passy" geworden ist. Das war interessant - denn die Fakten waren ja immer dieselben. Die Dramaturgie und die Erzählhaltung haben sich durch diese verschiedenen Fassungen allerdings sehr verändert. Der Roman ist zudem geschrumpft. Die erste Fassung hatte, wenn ich mich recht erinnere, über 400 Seiten.
AVIVA: Bereits in Ihren früheren Erzählungen und Romanen, z.B. "Die amerikanische Katze", haben Sie die Motive der Identitätssuche verarbeitet, die Rätsel um Ihre Herkunft sind zu Ihrem Schreibmotiv geworden. In Ihrem aktuellen Buch verdichten Sie dieses Thema zu einer fiktionalen Biographie. Hat die literarische Verarbeitung Sie von Ihrem persönlichen Trauma befreit, oder wird Sie diese Thematik auch in Zukunft begleiten?
Barbara Bongartz: "Der Tote von Passy" ist keine fiktionale Biographie. Die Fakten, wie gesagt, sind authentisch. Um die Befreiung von einem Trauma ist es bei der Bearbeitung des Themas nie gegangen. Das wäre Küchenpsychologie. Der Stoff war für mich eine literarische Herausforderung. Es ging um das "Wie erzähle ich das". Im Gegensatz zu rein fiktionalen Stoffen war das eine besondere Herausforderung. Ich konnte (und wollte) nicht einfach etwas verändern, was mir nicht in den Kram paßte. Ich mußte alles erzählerisch, d.h. literarisch lösen. Schummeln wollte ich nicht.
AVIVA: Sie beschreiben eindringlich, daß Sie früh die Scham Ihrer Mutter und die Spannungen im Elternhaus bemerkt haben. Das Schweigen Ihrer Eltern wurde nicht freiwillig gebrochen, sondern beruhte auf der Klausel des Adoptionsrechts. Waren Sie von der Wahrheit schockiert und/oder war es für Sie schlimmer, weiterhin schweigen zu müssen?
Barbara Bongartz (lächel): Das kann man im Roman nachlesen. Wir wollen hier doch keine Clues verraten.
AVIVA: Wie haben Ihre Eltern auf Ihre persönlichen Enthüllungen reagiert? Haben sie ihr damaliges Verhalten reflektiert?
Barbara Bongartz: Von "Enthüllung" kann zu diesem Zeitpunkt nun wirklich keine Rede mehr sein. Meine Mutter, d.h. meine Adoptivmutter, wußte, daß ich seit Jahren an dem Roman arbeite. Sie war dann eine der ersten, die "Der Tote von Passy" las. Sie mag das Buch sehr. Der Rest der Familie übrigens auch, was mich nicht wenig in Erstaunen versetzte.
AVIVA: Beinahe jede Familie hat ja ein "gehütetes Geheimnis". Wie stehen Sie zur Lüge, und können Sie die Lüge um Ihre persönliche Herkunft verzeihen?
Barbara Bongartz: Wer bin ich, mich zu erdreisten, anderen ihre Lebensgeschichte verzeihen zu wollen - denn damit hingen die Heimlichkeiten ja zusammen. Es ging weniger um Lüge als um Verschweigen und Geheimniskrämerei - und um deren Motive! Das hatte mit der Zeit und der Gesellschaft zu tun. Wenn wir über "Der Tote von Passy" und sein Grundmotiv sprechen, dann sprechen wir auch über die fünfziger und sechziger Jahre, die Wirtschaftswunderrepublik, in der jeder eine schöne Fassade haben wollte. Und Verheimlichen und Verdrängen hatte diese Generation nun wirklich gelernt. Bewußt oder unbewußt, gerechtfertigt oder nicht - damals gab es viele Gründe, sich zu "schämen". Für viele Menschen ist das heute unvorstellbar. Aber auch diese Zeit hole ich in dem Roman zurück.
Wie ich zur Lüge stehe? Ich bin Romanschriftstellerin!
AVIVA: Was lesen Sie zur Zeit und warum?
Barbara Bongartz: Ich lese die Schriften von Undine Gruenter, im Augenblick "Der Autor als Souffleur", ihre Notizen. Sie ist eine sehr unterschätzte Schriftstellerin gewesen - und leider so früh gestorben. Ich mag die Bilder und Atmosphären, die sie in ihren Erzählungen und Romanen entwirft. An ihr (die ich nicht persönlich gekannt habe) mag ich, daß sie sich so konsequent aller Öffentlichkeit entzogen hat, unbeirrbar ihren ganz eigenen Weg gegangen ist. Sie war wohl sehr eigensinnig, sehr radikal, diese schöne, filigrane Frau. Und dann lese ich Maeve Brennan. Alles, was von ihr zu haben ist.
AVIVA: Auf welche Neuerscheinung sind Sie gespannt?
Barbara Bongartz: Auf Barbara Köhlers "Odyssee", die Nach- und Neudichtung von Teilen des klassischen Epos aus einer - gelinde gesagt - anderen Sicht. Sie ist eine wunderbare Lyrikerin und Essayistin. Ich warte seit zehn Jahren auf diesen Text, von dem ich nur den Anfang kenne. Der allerdings war so eindringlich, daß ich ihn über die ganzen Jahre nicht vergessen habe. Barbara Köhler hat mir vor ein paar Wochen versprochen, daß das Buch im August bei Suhrkamp erscheint. Aber ich traue dem Braten noch nicht ganz. Sie brächte es fertig, mich noch weitere zehn Jahre warten zu lassen.
AVIVA: Welches Buch verborgen Sie niemals?
Barbara Bongartz: Ich verleihe überhaupt keine Bücher. Ich habe den Tick, meine Romananfänge immer in die Bücher zu schreiben, die ich gerade lese. Also brauche ich die alle. Aber es gibt zwei Bücher, die ich fast immer mit mir herumschleppe. Das eine ist "Nightwood" (Nachtgewächs) von Djuna Barnes, das andere "Rue des boutiques obscures" (Die Gasse der dunklen Läden) von Patrick Modiano. Das sind meine Paten.
AVIVA: Stellen Sie sich vor, Sie bekämen heute 1 Million Euro für Berlin? Welches Projekt würden Sie sofort ins Leben rufen?
Barbara Bongartz: Ich würde es veruntreuen. Ich würde davon gern einige junge afghanische Frauen studieren lassen.
AVIVA: Wer ist für Sie der absolute Shootingstar (im Kulturleben, weltweit) und wen halten Sie für unterschätzt?
Barbara Bongartz: Weltweit? Ich komme gerade aus Lahore. Da habe ich begriffen, daß "weltweit" ein sinnleerer Begriff ist. Ich kam mir vor wie eine Ameise, eine deutsch-französisch-gestreifte Ameise natürlich. Shootingstar? Klingt nicht nach Kulturleben, klingt nach jemandem, der beim Cocacolatrinken um sich schießt. Nein, dafür habe ich kein Faible. Weder für das Getränk noch für Schußwaffen.
Wen ich für unterschätzt halte? Oje, so viele von den Leisen ... wir wollen doch heute noch fertig werden ... aber Patrick Modiano hätte den Nobelpreis schon verdient.
AVIVA: Vielen Dank für das Interview.
Lesen Sie auch die Rezension zu "Der Tote von Passy".