Interview mit Olga Grjasnowa - Der Russe ist einer, der Birken liebt - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.05.2012


Interview mit Olga Grjasnowa - Der Russe ist einer, der Birken liebt
Sonja Baude

AVIVA-Berlin sprach mit der in diesem Frühjahr viel beachteten und hoch gefeierten jungen Debütantin über ihren Roman und über gesellschaftspolitische Fragen, die sie um- und antreiben.




Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, geboren. Sie war elf Jahre alt als sie und ihre Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik kamen. Nach dem Abitur studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie ihr Romandebut zu schreiben begann. Verschiedene Auslandsaufenthalte führten sie in den letzten Jahren nach Israel, Polen und Russland. Sie lebt heute in Berlin. In diesem Roman meldet sich in Form und Inhalt eine neue Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu Wort, die eine mitunter unbekannte Welt eröffnet. Wir tauchen ab, verstehen etwas neu und sind am Ende der Lektüre reicher. Mit welchen Themen Olga Grjasnowa das gelingt, darüber sprach AVIVA im Rahmen der Deutsch-Israelischen Literaturtage 2012 mit der Autorin.

AVIVA-Berlin: Der Titel Deines Romans "Der Russe ist einer, der Birken liebt" ist auf einer unmittelbaren Ebene sehr poetisch, zugleich aber birgt er auch Ironie und verweist auf ein wichtiges Thema Deines Romans: auf die Etikettierung von Menschen. Deine Protagonistin Mascha und auch das übrige Personal, die allesamt Vertreter einer multikulturellen Gesellschaft sind, erfahren solche Zuschreibungen direkt oder auch auf perfide Weise immer wieder in der Geschichte. Mascha reagiert darauf mit Wut und sogar mit Gewalt. Wie wichtig ist es in der Realität, sich zu wehren und mit welchem Ziel? Und welche Rolle spielt dabei die Ironie?
Olga Grjasnowa: Ironie ist durchaus eine Strategie sich zu wehren. Je nachdem, wann wehren überhaupt noch etwas bringt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, es hat Grenzen, wenn die Erschöpfung erreicht ist. Und es kommt natürlich darauf an, von welchen Fällen man spricht. Wenn es Fälle direkter Gewalt sind, wenn beispielsweise jemand, der eine andere Hautfarbe hat als die Mehrheitsgesellschaft, angegriffen und seine Existenz in Frage gestellt wird, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu wehren. Ironie hilft dann nicht mehr weiter. Ironie hilft nur auf einer bestimmten intellektuellen Ebene, die meistens dann nicht mehr vorhanden ist, wenn es um rassistische Beleidigungen geht. Dabei ist es ein sehr großer Unterschied, ob ich die Straße entlang gehe oder andere Menschen, die mehr auffallen. Das erste Mal, als ich das gemerkt habe, war in der 7.Klasse. Eine Freundin von mir war Pakistanerin und trug traditionelle Kleidung. Das war in einer Kleinstadt irgendwo in Hessen. Es war ein riesengroßer Unterschied wie ich angeschaut wurde, nämlich gar nicht, und sie, die die volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es entstand immer eine angespannte Spannung, sobald sie den Raum betrat.

AVIVA-Berlin: Das heißt in so einem Fall geht ein bestimmter Exotikstatus mit einher, der selbst auch eine Zuschreibung bedeutet?
Olga Grjasnowa: Ja und das will man absolut nicht. Man wird zur Projektionsfläche, die sofort eröffnet wird, ohne dass man dazu jemanden eingeladen hätte. Das betrifft nicht nur die Herkunft, sondern z.B. auch bestimmte Berufe und natürlich spielt Exotik eine riesengroße Rolle dabei. Ich habe das Gefühl, wenn Machtverhältnisse umgedreht werden, wird schnell eine Grenze überschritten. Carolin Emcke beschreibt das gut in "Wie wir begehren": sobald jemand erfährt, dass der andere anders begehrt, lädt das dazu ein, die privatesten Details zu erfragen. Ähnlich ist es bei der Herkunft, so dass man auf einer Party plötzlich erklären muss, wo die eigene Oma herkommt oder wie sie den Holocaust erlebt hat, Dinge, die eigentlich sehr privat sind.

AVIVA-Berlin: In dem von Dir erwähnten Buch von Carolin Emcke heißt es an einer Stelle mit Bezug auf einen englischen Psychoanalytiker "Heimat ist das, von wo wir ausziehen, wo wir beginnen [...], nicht das, wo wir bleiben". Auf dem Buchrücken Deines Romans heißt es über Mascha: "sie könnte überall leben. Doch eine Heimat braucht sie nicht." Interessanterweise sind Begriffe, wie dieser der Heimat oder der der Identität, Begriffe, mit welchen die Protagonistin nichts anfangen kann. Trotz dieser Abwehr gibt es in der Figur der Mascha aber einen verzweifelten Wunsch nach Sicherheit. Als was würdest Du diesen Wunsch beschreiben, ohne das Wort "Heimat" dafür zu beanspruchen?
Olga Grjasnowa: Heimat ist nicht Sicherheit. Was mich interessiert, ist die Frage, wie unsere Gesellschaften gegenwärtig organisiert sind, ob wir immer noch davon ausgehen können, dass wir einen nationalen Staat haben? Deutschland behauptet seit ca. fünfzehn Jahren dass es ein Einwanderungsland ist, aber trotzdem ist es immer noch ein nationaler Staat. Es gibt zwar Menschen, die einwandern dürfen, aber sie gehören nie dazu und es wird von staatlicher Seite auch genau so festgelegt, vollkommen gewollt. Dazu gehört auch die Diskussion um Integration, was ja heißt, dass es jemanden gibt, der besser ist als andere und der den "Barbaren" beibringen muss, wie man zu leben hat. An diese Ausgangsvorstellung, dass alle gleich sind und gleiche Bedürfnisse haben, daran glaube ich nicht. Was ich von einem Staat oder Heimat, oder wie auch immer, gerne hätte, wären klar definierte Zugangsberechtigungen zu der Staatsbürgerschaft. Gleichzeitig finde ich es sehr gut, dass es festgeschriebene gesellschaftliche Normen gibt, z.B. das Konzept des Rechtsstaates oder Demokratie. Mir wäre es ganz lieb, wenn das einfach nur gewährleistet wäre und zwar unabhängig von der Herkunft oder dem Bildungsstand, unabhängig von sozialer oder kultureller Herkunft, wenn also praktisch ein postnationaler Staat daraus entstehen könnte. Das finde ich viel interessanter als folkloristische Heimatbetulichkeit.

AVIVA-Berlin: Deine Protagonistin ist Mitte Zwanzig, sie ist Jüdin, aber nicht religiös, sie lebt in Frankfurt am Main, aber geboren ist sie in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Sie begehrt Männer, aber auch Frauen. Sie ist eine flirrende Figur, hellwach und ehrgeizig, sie provoziert, sie ist zärtlich, einsam, wütend und traurig. Dieser rasante Wechsel oder auch die Gleichzeitigkeit all dieser Seins- und Gefühlslagen übertragen sich unbedingt auf die Leserin. Alles, was sie tut, ist von ungeheurer Dringlichkeit. Dazu zählt auch ganz besonders ihr Dolmetscherinnenstudium, das sie mit Bravour abschließt. Das Übersetzen ist für mein Empfinden eines der interessantesten Themen des Buches. Einerseits versetzt der Beruf der Dolmetscherin Mascha in die Lage, tatsächlich überall leben zu können. Aber dient das Übersetzen daneben noch etwas anderem? Wie würdest du das beschreiben?
Olga Grjasnowa: Was Mascha vor allem ausmacht, ist ihr Trauma und ihre posttraumatische Belastungsstörung. Als Kind hat sie miterlebt, dass alles sehr flexibel ist, dass Zuschreibungen nicht selbstverständlich sind, dass diese sich sehr schnell ändern können und immer wieder neu erschaffen und manifestiert werden und zwangsläufig dann auch dementsprechend gehandelt wird. Das Dolmetschen ist für Mascha etwas, was sie unter Kontrolle hat. Sie hat die absolute Kontrolle darüber, was gesagt wird, wie es gesagt wird und wie es bei dem Zuhörer ankommt. Dennoch ist es etwas, wo sie sich selber nicht positionieren muss. Anders als beim literarischen Übersetzen oder Schreiben braucht sie sich nicht persönlich einzubinden. Ich glaube, was sie noch hätte werden können, ist Chirurgin, etwas ganz Handfestes. Beim Dolmetschen ist für mich faszinierend, dass man sofort weiß, wie gut man ist, man kriegt das Feedback innerhalb von wenigen Sekunden. Und man lernt denjenigen, den man übersetzt sehr gut kennen.

AVIVA-Berlin: Mascha driftet im Verlauf der Geschichte immer mehr ab und ist nicht mehr in der Lage, die Dinge, die sie erlebt und wahrnimmt, in sich ordnen zu können. Stößt sie eine ganz eigene Grenze kultureller Übersetzbarkeit?
Olga Grjasnowa: Ja, sie scheitert zunehmend daran. Und proportional dazu, wie sie ihren Ehrgeiz verliert, umso mehr verliert sie sich selbst.

AVIVA-Berlin: Eine Vielzahl zeitgeschichtlicher Ereignisse spielt in Deinem Roman eine Rolle. Darunter die Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschanern und Armeniern um die Region Berg-Karabach Ende der 1980er/Anfang der 90er Jahre, die für die Geschichte von zentraler Bedeutung ist, da Mascha aus dieser Zeit, wie Du bereits sagtest, unter einem Trauma leidet. Zu diesem Gegenwartsbezug gehört auch Maschas Israelaufenthalt, währenddessen sie die Komplexität des Nahostkonfliktes erlebt. Dazu gehört auch eine sehr frühe Erfahrung auf der Ausländerbehörde in Deutschland, wodurch Mascha erkennt, dass Sprache Macht ist. Teilst du diese Erfahrung mit Deiner Protagonistin?
Olga Grjasnowa: Ja vollkommen. Sprache ist Macht. Man sieht das bei Englisch so wunderbar. Wenn man wirklich gutes Englisch spricht, entweder mit einer britischen oder amerikanischen Färbung, dann sagt es sehr viel über den sozialen Status aus, auch hier in Deutschland, dann wird man von den anderen anders wahrgenommen. Hingegen ist es nicht von Vorteil, wenn man auch noch Türkisch oder Arabisch spricht.

AVIVA-Berlin: Gibt es also Zweite-Klasse-Sprachen?
Olga Grjasnowa: Ja das sind Wertigkeiten. Wenn Menschen mit Türkisch und Deutsch aufwachsen, dann heißt es immer, die sind halbsprachig und können keine Sprache richtig, obwohl sich niemand die Mühe macht, nachzugucken, ob sie Jugendsprache, einen Slang oder einen Dialekt sprechen. Und da heißt es bei Arabisch oder Türkisch: oh, oh Hauptschule. Bei Persisch ist das auch so. Aber wenn z.B. jemand mit Französisch und Deutsch aufwächst, dann ist das immer sehr großartig und die Gesellschaft honoriert es. Es ist also eher eine Klassenfrage, die da verhandelt wird. Das heißt dann, dass sich jemand eine wunderbare Ausbildung leisten konnte oder über soziales Kapital verfügt.

AVIVA-Berlin: Die diesjährigen Deutsch-Israelischen Literaturtage standen unter dem Titel "beziehungsweise(n)". Die Veranstaltung, zu der du geladen warst, war betitelt mit "Fernbeziehungen", begleitet von der Frage, wie es ist, ein Leben überall zu führen. Deine Figuren führen ein Leben überall, sie bewegen sich in einem (ja fast) postnationalem Zustand. Das ist gelebte Globalisierung. Gesprochen in Kategorien der Wirtschaft von Gewinn und Verlust – wie würdest Du diese Art der Globalisierung bewerten?
Olga Grjasnowa: Ich finde tatsächlich, dass es nur ein Gewinn ist. Was man gewinnt, ist tatsächlich Freiheit. Verlust? Ich glaube, das wird immer nur dargestellt als ein Verlust, dass man angeblich eine Sprache, eine Heimat verliert. Ich weiß nicht, ob da soviel dahinter steckt, das hinterfrage ich. Es gibt natürlich Kulturen, in denen ich mich wohler fühle und ich merke, dass ich mir immer gewisse Strukturen suche, unabhängig vom Staat.

AVIVA-Berlin: Welche Strukturen sind das?
Olga Grjasnowa: Alles mögliche, Bars oder ich verlasse mich ganz gern darauf, dass der Nahverkehr funktioniert, dass man abends allein nach Hause laufen kann, als Frau nicht dumm angegafft wird - also gewisse Freiheiten. Oder nicht die Frage gestellt zu bekommen, wann heiratest du und bekommst Kinder. Im Kaukasus hätte ich das Verfallsdatum mit 27 längst erreicht, oder auch in Palästina.

AVIVA-Berlin: Am Ende Deines Buches steht eine Art Scheitern. Mascha weiß sich alleine nicht mehr zu helfen und bittet ihren Exfreund Sami, sie aus Ramallah abzuholen. Von einer Kritikerin wurde diese Situation als "Rückfall in vor-emanzipatorische Stereotypen" interpretiert.
Olga Grjasnowa: Was mich ärgert, ist die Heteronormativität, von der eine solche Interpretation ausgeht: dass eine Frau sich unbedingt wehren muss. Die Heteronormativität macht mir mehr zu schaffen als der Erlösungsgedanke. Und auch Postfeminismus ist nicht mein Konzept. Ich bin immer noch für den Feminismus. Bis zum Postfeminismus ist es noch ein weiter Weg. In der Figur geht es aber um etwas anderes. Weder ich noch die Hauptfigur haben ein Problem mit Männern. Nur gibt es beispielsweise manche Erfahrungen, die Mascha mit Cem, der schwul ist, deutlich eher teilen kann als mit einer heterosexuellen Frau, die das eigene Begehren noch nie in Frage gestellt hat. Es geht in dem Buch vor allem darum, dass nicht nur das Eine festgeschrieben ist.

AVIVA-Berlin: Wie würdest Du selbst das Scheitern der Figur beschreiben?
Olga Grjasnowa:Sie scheitert wirklich an dem Trauma. Egal wo sie hinkommt, die Strukturen ähneln sich. Egal ob Kaukasus oder Palästina. Dieses Wissen, dass von heute auf morgen jemand umgebracht werden kann oder als "der Andere" manifestiert wird. Egal, ob es sich um Palästinenser oder Juden, um Moslems oder um Christen handelt. Das beschäftigt mich persönlich auch sehr, diese Strukturen, die dazu führen, dass man jemanden als anders und fremd wahrnimmt und sich daraus dann sehr schnell gesellschaftliche Konsequenzen entwickeln. Das ist etwas, was ich immer noch nicht ganz verstehe und was mich antreibt. Und bei Mascha ist es das Trauma, das immer stärker wird und das Wissen, dass es nicht gut ist und dass es auch nicht gut werden kann, dass es kein Happy End geben wird, weil sich nichts verändert.

AVIVA-Berlin: Deinem Buch steht ein Zitat aus Tschechows "Drei Schwestern" voran. Deine Protagonistin heißt wie die mittlere der drei Schwestern. Für Tschechows Figuren scheint die Zeit stehen zu bleiben, und alles Leben wird auf ein Später verlegt, verbunden mit einer großen utopischen Sehnsucht, die nie eingelöst wird. In Deinem Buch bleibt die Zeit keineswegs stehen, die Figuren sind geradezu von Veränderung getrieben, immer in Bewegung. Menschen kommen und gehen und die Orte werden gewechselt. Gibt es etwas, was Deine Figuren und die von Tschechow dennoch gemeinsam haben?
Olga Grjasnowa:Ja, es ist wie bei Tschechow: trotz der Bewegung verharrt es sich. Aber ich will mich natürlich überhaupt nicht mit Tschechow vergleichen. Bei Tschechow ist es ja immer dieser Übergang in die industrielle Phase und es gibt diese Figuren, die immer noch in etwas Altem verharren. Wir haben den Postfordismus, wir haben gelernt, dass wir uns immer wieder verbessern müssen, aber trotzdem passiert nichts, trotz der Bewegung. Die verläuft dann irgendwie im Sande. Was ich bei Tschechow liebe ist dieses: Wir haben´s versucht und wir haben´s nicht versucht, aber wir kriegen´s nicht auf die Reihe.

AVIVA-Berlin: Planst Du ein neues Buch, verrätst du schon etwas?
Olga Grjasnowa:Ja. Diesmal hat es nichts mit Migration oder Hintergrund zu tun, sondern es geht um Homophobie und um Körperbilder, das interessiert mich.

AVIVA-Berlin: Herzlichen Dank für das Gespräch!



Olga Grjasnowa
Der Russe ist einer, der Birken liebt

Hanser Verlag, erschienen im Februar 2012
Gebunden, 288 Seiten
ISBN 978-3-446-23854-1
18, 90 Euro




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