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Beitrag vom 23.04.2016
Ein Interview mit der Berliner Bündnis 90/Die Grünen-Politikerin Anja Kofbinger
Christine Langer, Sharon Adler
Die Abgeordnete, als Quereinsteigerin in die Politik gelangt, sprach mit AVIVA-Berlin über Frauen und Gleichstellungspolitik, den Diversity-Ansatz, symbolische Straßenumbenennungen und die Auswirkungen der AfD-Wahlergebnisse auf ...
... Frauen und LGBTIQs.
Anja Kofbinger sitzt für die Grünen im Abgeordnetenhaus, ist Frauen- und Queerpolitische Sprecherin als auch Mitglied in der Jury des Hatun-Sürücü-Preises, der 2016 zum vierten Mal von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an Berliner Organisationen und Initiativen verliehen wurde, die sich für die Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen einsetzen. Bei der Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille war Anja Kofbinger Kuratoriumsmitglied. Mit der Medaille wurde am 21. April 2016 das "Desert Flower Center" des Krankenhauses Waldfriede in Berlin-Zehlendorf ausgezeichnet, das medizinische und psychosoziale Unterstützung für Frauen mit Genitalverstümmelung leistet.
Als ihren bisher größten politischen Erfolg bezeichnet Anja Kofbinger ihre Mitwirkung bei der Einführung der Eingetragenen Partnerschaft im Jahr 2001. Die 56-jährige Politikerin lebt in Nord-Neukölln, wo sie sich unter anderem gegen Gentrifizierung und für eine positive Kiezentwicklung engagiert. Für AVIVA-Berlin nahm sich Anja Kofbinger als Politikerin und Privatperson die Zeit für ein E-Interview im Rahmen der Reihe "9 Fragen an Berliner Politiker*innen".
AVIVA-Berlin: Sie leben seit 17 Jahren in Nord-Neukölln - was verbindet Sie persönlich mit diesem Bezirk und wie empfinden Sie seine Entwicklung vom sogenannten Problembezirk zum Szenekiez mit explodierenden Mietpreisen?
Anja Kofbinger: Die Entwicklung weg vom angeblichen Ghetto hin zu was neuem Innovativen finden wohl die meisten als wohltuend. Aber die damit verbundenen Verwerfungen, wie z.B. steigende Mietpreise und Verdrängung, wollen wir, die dort wohnen, nicht hinnehmen. Das ist gut so und es hat sich gezeigt, dass wir als Nachbarschaft funktionieren. Die Bürger*innen Nord-Neuköllns haben zusammen mit den Oppositionsparteien den Regierenden die Hölle heiß gemacht und ihnen 2 Milieuschutzgebiete per Einwohnerantrag abgerungen. Das war vielleicht ein Zirkus, jetzt wird es hoffentlich bald umgesetzt.
AVIVA-Berlin: Stichwort: "25 Jahre Berliner Gleichstellungsgesetz" (13. Januar 2016) – Sie engagieren sich für Frauen- und Gleichstellungspolitik und kritisieren auf Ihrer Homepage, dass das seit 2002 in der Berliner Landespolitik verankerte Prinzip des Gender Mainstreamings kaum angewendet werde. Wo sehen Sie bei der Umsetzung von Gleichstellungspolitik in Berlin Veränderungsbedarf?
Anja Kofbinger: Wenn wir über Gender Mainstreaming sprechen, spreche ich auch immer gerne übers Geld, da wird die ganze Sache nämlich schwierig und die Kollegen Staatssekretäre ganz schmallippig und geizig. Durch Gender Budgeting, der gerechten Verteilung des Geldes zwischen den Geschlechtern, kann man nämlich unendlich viel Gutes erreichen. Hier muss noch sehr viel umgesetzt werden, um eine faire und transparente Mittelvergabe sicher zu stellen. Ansonsten gilt: Nicht nur reden - machen! Das ist die größte Schwäche der Großen Koalition; mögen hätten sie schon gewollt, aber dürfen haben sie sich nicht getraut.
AVIVA-Berlin: In Ihren unterschiedlichsten politischen Ämtern und als Mitglied diverser Vereine und Organisationen setzen Sie sich für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ein. 2009 wurde vom Senat ein berlinweiter Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie unter dem Titel "Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt" beschlossen, an dem die Grünen intensiv mitgewirkt haben. Was hat sich seit der Umsetzung des Aktionsplans für LGBTIQs in Berlin Ihrer Meinung nach verändert?
Anja Kofbinger: Genau das, was er bewirken sollte, die Akzeptanz sexueller Vielfalt und Homophobie sichtbar zu machen und zu bekämpfen. Der Ursprungsantrag von meinem Kollegen Thomas Birk und mir hieß noch "Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie". Und genau darum geht es jetzt, aktiv der Homo- und Transphobie in Berlin mit verschiedensten Mitteln entgegentreten. Ich glaube, auch wenn der Plan in den letzten Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt wurde, dass die kommende Regierung auf sehr gute Strukturen zurückgreifen kann.
AVIVA-Berlin: Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Queerpolitik haben Sie sich für einen Paradigmenwechsel von lesbisch, schwul und trans* hin zu einem Diversity-Ansatz stark gemacht. Ein Teil davon war im vergangenen Jahr auch die Veranstaltungsreihe "Vielfalt konkret - Diversity in Berlin gestalten". Warum ist Ihnen dieser Wechsel wichtig und was kann er bewirken?
Anja Kofbinger: Wer erfolgreich sein will, muss die Kräfte bündeln und genau das kann mit einem guten Diversity-Konzept geschehen. Dieser Ansatz passt zu Berlin, gerade weil er weit über den üblichen Homo/Trans-Ansatz hinausgeht. Wenn man sich die Diversity-Dimensionen anschaut – Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion/Weltanschauung, Ethnie und physische Fähigkeiten – erkennt man ziemlich schnell, dass das der überwiegende Teil der Berliner Bevölkerung ist. Deshalb habe ich in den letzten Jahren kontinuierlich mit allen wichtigen Ansprechpartner*innen in der Stadt Kontakt gehalten und unser grünes Konzept weiterentwickelt.
AVIVA-Berlin: In den letzten 20 Jahren hat die gesellschaftliche Akzeptanz von LGBTIQs in Deutschland zugenommen. Dennoch kam die erste Studie des "Deutschen Jugendinstituts" zu Diskriminierungserfahrungen von LGBT*-Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass 82 Prozent der LGBT* Teilnehmer*innen und 96 Prozent der Trans* Teilnehmer*innen Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit erleben. Welche Ursachen sehen Sie für die Ergebnisse der Studie und welcher Handlungsbedarf ergibt sich daraus?
Anja Kofbinger: Die Ursache ist, dass die Gesellschaft als komplexes Konstrukt noch nicht so weit ist LSBTI-Jugendliche selbstverständlich zu akzeptieren. Ulrich Beck nannte das mal "verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre". Ein Problem, das mir als Feministin übrigens nicht unbekannt ist. Da helfen leider nur 3 Dinge: Kommunikation, Kommunikation und Kommunikation.
Mit den Eltern der mobbenden Jugendlichen, mit den mobbenden Jugendlichen selber und natürlich mit den vom Mobbing betroffenen Eltern wie Jugendliche. Nicht nur in der Schule, aber auch dort. Ein unendlich mühsamer Prozess, aber notwendig. Wir brauchen ein Empowerment der Jugendlichen und ebenso Schutzräume, wohin sie sich zurückziehen können. Für all das braucht man Ressourcen, die dringend zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn sich was ändern soll.
AVIVA-Berlin: "WISSMANN MUSS WEG!" - Sie haben am 8. März, dem Internationalen Frauentag, die symbolische Straßenumbenennung der nach einem Kolonialherren in Deutsch-Ostafrika benannte Wissmannstraße in die Charlotte-Wolff-Straße initiiert. Charlotte Wolff war Ärztin, Sexualwissenschaftlerin und lesbische Jüdin, die in Neukölln schwangere Frauen beraten hat, bevor sie 1933 vor den Nazis flüchten musste. Wie haben die Anwohner*innen auf die Aktion reagiert?
Anja Kofbinger: Erstaunlich positiv, das hat mich sehr gefreut. An diesem Tag hatten wir Kontakt zu drei Anwohner*innen, die sich spontan bereit erklärt haben, aus dieser symbolischen Umbenennung eine echte zu machen. Wir werden in absehbarer Zeit eine Veranstaltung mit den Anwohner*innen in der Werkstatt der Kulturen – ebenfalls von einer Anwohner*in – organisieren und dann schauen wir mal weiter. Ich bleibe auf jeden Fall am Ball.
AVIVA-Berlin: Welche Straßenumbenennungen sind in der Zukunft geplant?
Anja Kofbinger: Na, jetzt mach ich erst mal diese hier zu Ende.
AVIVA-Berlin: Spätestens seit den Wahlergebnissen der AfD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ist der Rechtsruck auch in Deutschland deutlich geworden. Welche Auswirkungen hat das Erstarken von rechtpopulistischen Parteien und Bewegungen auf Frauen und LGBTIQs in Deutschland und wie können wir ihm entgegenwirken?
Anja Kofbinger: Dieser Rechtsruck hat erst mal keine sichtbare Wirkung auf Frauen und LSBTIQs, weil die AfD im Augenblick noch ein Paria ist und von den anderen Parteien gemieden wird, ähnlich wie die NPD damals in Sachsen. Unterschwellig wird das Erstarken der Rechten aber einen negativen Einfluss z. B. auf die Akzeptanz sexueller Vielfalt und die Gleichstellungspolitik haben, da bin ich mir sicher. Das heißt aber einfach für uns alle, dass wir uns wieder stärker politisch einmischen müssen, um diesen Einfluss auch wieder zurück zu drängen. Das schafft man nämlich, wenn man sich gemeinsam für mehr Demokratie und ein solidarisches Miteinander einsetzt. Da habe ich natürlich gut reden, ich mache den ganzen Tag nichts Anderes und werde auch noch gut bezahlt dafür. Aber es ist mir sehr ernst. Wenn der Demokratie Ungemach droht, sind in erster Linie die Demokrat*innen zu ihrer Verteidigung aufgerufen.
AVIVA-Berlin: AVIVA-Berlin bietet u.a. aktuelle Literaturvorschläge von Frauen für Frauen an. Welches Buch würden Sie unseren Leser_innen empfehlen, das Sie zuletzt gelesen haben?
Anja Kofbinger: Das letzte Buch war natürlich ein Krimi. Von Wolfgang Schorlau "Die schützende Hand" ein sehr einfach geschriebener aber sehr gut recherchierter Krimi über den NSU-Komplex. Ich fand ihn spannend und lesenswert.
Anja Kofbinger, geboren 1960 in Gelsenkirchen, absolvierte nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Vermessungstechnikerin. Im Anschluss machte sie ihr Abitur und studierte Rechts- und Politikwissenschaft in Bochum und Berlin. Seit 1989 ist sie Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen und war unter anderem Sprecherin der BAG Lesbenpolitik (1997-2006).
Sie ist Mitglied des Abgeordnetenhauses für den Wahlkreis Neukölln, Stellvertretende Fraktionsvorsitzende sowie Mitglied im Petitionsausschuss. Die Politikerin ist außerdem Mitglied in diverseren Organisationen und Verbänden, wie unter anderem im Vorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg (LSVD) und der Überparteilichen Fraueninitiative Berlin – Stadt der Frauen e. V.
Mehr Informationen zu Anja Kofbinger unter:
www.kofbinger.de
www.parlament-berlin.de
www.facebook.com/people/Anja-Kofbinger
Weitere Informationen zum Interview finden Sie unter:
Hatun-Sürücü-Preis 2016 – Grüne Fraktion lobt zum vierten Mal Frauenrechtspreis aus
Vielfalt konkret! – Diversity in Berlin gestalten
Initiative "Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt"
Aktion zum Frauentag: Wissmann muss weg!
Louise-Schroeder-Medaille
"Desert Flower Center" Waldfriede
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Hatun-Sürücü-Preis 2016 – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeichnete Engagement für Mädchen und Frauen aus Am 5. Februar 2016 wurden zum vierten Mal drei Berliner Projekte und Initiativen gewürdigt. Ziel des Frauenrechtspreises ist es, Menschen in den Vordergrund zu rücken, die sich oft im Stillen mit viel Tatkraft für die Emanzipation und Gleichberechtigung von Mädchen und junge Frauen einsetzen. (2016)
Gedenkfeier für Hatun Sürücü zum neunten Todestag am 07. Februar 2014 Sie befreite sich aus einer Zwangsehe und führte danach ein selbstbestimmtes Leben in Berlin. Kurz vor dem Abschluss ihrer Gesellenprüfung als Elektroinstallateurin wurde die junge Mutter ermordet (2014)
Copyright Foto Anja Kofbinger: Sharon Adler