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Beitrag vom 19.09.2017
AVIVA-Interview mit der Verlegerin und Sozialwissenschaftlerin Ulrike Helmer
Yvonne de Andrés
"Bücher sind Klamotten fürs Hirn", so der Claim des Ulrike Helmer Verlags, der auf der Frankfurter Buchmesse 2017 mit Lesungen und Präsentationen seinen 30. Geburtstag feiert. Die Verlegerin Ulrike Helmer berichtet über die Entwicklung des Verlages, ihre wichtigsten Bücher und darüber, wie sich die Verlagslandschaft heute verändert hat.
Ulrike Helmer verlegt seit 1987 Bücher. Als Studentin der Soziologie ertastete sie sich den Buchmarkt, indem sie das Romanmanuskript "Beim nächsten Mann wird alles anders" einer befreundeten Nachbarin abtippte, gern Buchhandlungsluft atmete und zehn Jahre im Frankfurter Frauenbuchladen arbeitete. Seit Gründung des Verlages liegt ihr die ganze Bandbreite des "weiblichen Lebenszusammenhangs" (Ulrike Prokop) am Herzen – in Romanen, Biografien, historischen Werken und Fachliteratur zur Geschlechterforschung. 1985 schloss Ulrike Helmer ihr Studium an den Universitäten Frankfurt am Main und Oldenburg mit einem Diplom in Gesellschaftswissenschaften ab. Ihre Abschlussarbeit beschäftigte sich mit "Feministische Wissenschaft". 2004 erhielt die Verlegerin den "Dr. Gabriele Strecker-Preis" für gesellschaftspolitisches Engagement, 2009 wurde Ulrike Helmer als "BücherFrau des Jahres" vom Branchen-Netzwerk BücherFrauen e.V. ausgezeichnet.
AVIVA-Berlin: Wie kam es 1987 zur Gründung des Ulrike Helmer Verlags? Warum war es so wichtig, einen Frauenverlag zu gründen?
Ulrike Helmer: Während meines Studiums habe ich im Frauenbuchladen Frankfurt gearbeitet, einer Uninah gelegenen Fachbuchhandlung für feministische Bücher, in der neben Belletristik auch viel Literatur der Frauen- und Geschlechterforschung in den Regalen stand. In Zeiten, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann - solchen ohne Internet! - war das Abgebot in diesem Laden eine Insel der Glückseligkeit. Zugleich wuchs mein Wissen um historische Autorinnen, deren Werke nicht einmal im Frauenbuchladen und in den seit 1975 entstandenen Frauenverlagen oder -programmen zugänglich waren. Deshalb ging es mir mit der Gründung eines Verlages auch darum, historische Vorläuferinnen sichtbar zu machen, frühere Ansätze zu zeigen, damit man davon lernen kann. Denn
"Zukunft braucht Vergangenheit", so lautet der Titel des Buches der Historikerin
Gerda Lerner, das ich vor vielen Jahren verlegt habe.
Lernen kann man dabei zuallererst mal, dass es schon immer Frauen gab, die sich eingemischt haben, aktiv waren, kreativ waren. Auch wenn die Geschichte lange so tat, als sei das Gegenteil der Fall. In der Literaturgeschichte gab es nur Klassiker – als ob schreiben zu können männliche Geschlechtszugehörigkeit voraussetzt. Darum war es im Grunde sehr frech, unsere Reihe
"Edition Klassikerinnen" zu nennen.
Bis heute stellen der Buchmarkt wie auch die Literaturkritik das Licht von Frauen unter den Scheffel. Wie
Kirsten Reimers in einem erhellenden Beitrag vom 30. August 2017 im Deutschlandfunk ausgeführt hat, gehen beispielsweise im Krimibereich die meisten Preise an Männer, in den Jurys sitzen überwiegend Männer und es werden auch eklatant mehr Männer rezensiert. Obwohl mindestens fünfzig Prozent der Krimis von Frauen geschrieben wurden.
AVIVA-Berlin: Du hast vor 30 Jahren begonnen, Klassikerinnen der Frauenliteratur wie
Fanny Lewald sowie wissenschaftliche Fachliteratur zur Frauen- und Geschlechterforschung, Gender und Queer Studies zu verlegen. Wie war die Resonanz auf dieses Angebot?
Ulrike Helmer: Ich sprach einige Verlage auf meine Idee an, eine
"Edition Klassikerinnen" herauszugeben und historische Autorinnen zu reedieren. Die winkten ab. Also gründete ich selbst und allein ... Zur Resonanz darf ich in aller Unbescheidenheit sagen:
Meine kommentierten und neugesetzten Ausgaben von Fanny Lewald - also keine Reprints! - haben dazu beigetragen, dass die Vormärzautorin inzwischen in den Kanon der Literaturgeschichte aufgenommen ist. Auch in den USA richtet sich das Augenmerk seit Jahrzehnten wieder auf Lewald - nicht zuletzt als jüdische Autorin.
Was Frauen- und Geschlechterforschung angeht, hat kein anderer Frauenverlag den Fokus so stark auf wissenschaftliche Fachliteratur gesetzt wie wir. Unsere dreibändige Ausgabe
"Klassikerinnen feministischer Theorie" ist Grundlagenlektüre. Inzwischen hat sich im Segment Wissenschaft der Markt aber stark verändert, Genderthemen sind gesellschaftlich breit aufgegriffen worden. Sie werden oft aber auch schlicht missverstanden oder reaktionär zur Angriffsfläche verzerrt.
AVIVA-Berlin: Wie hat sich das Programm im Laufe der Jahre entwickelt und welches sind für dich die wichtigsten Bücher aus deinem Verlag?
Ulrike Helmer: Das wichtigste Buch? Immer das, an dem wir gerade arbeiten (lacht). Das Programm hat sich stärker hin zur Belletristik verschoben, einer mit starken Themen und starken Stimmen. Unser zentrales Buch in diesem Herbst –
"Wir sind nicht da, um zu verschwinden" der Pariser Autorin Olivia Rosenthal – wirft anhand eines Alzheimerfalls die Frage auf, was uns mit der Welt verbindet, wenn wir Verlust erleiden: geistigen, körperlichen, den von Verwandten, der Vorfahren (die bei Rosenthal teilweise 1938 aus Frankfurt am Main deportiert wurden und über die man also nichts mehr weiß). Olivia Rosenthal ist Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse 2017, die diesmal das Gastland Frankreich hat.
2013 haben wir unser Krimilabel CRiMiNA eröffnet. CRiMiNA ist
"ein Kaliber für sich", so der Claim. Es geht nicht um den klassischen Whodonit und es fließt auch nicht literweise Blut, dafür geht es mehr um psychische Verwicklungen, Grenzerfahrungen, gesellschaftliche Missstände. Los ging es mit
"Wir werden niemals darüber reden" - dem allerersten Krimi von Carolin Schairer, die neben Daniela Schenk, Veneda Mühlenbrink oder Mirjam Müntefering auch zu den erfolgreichsten Autorinnen unserer Lesbenromane zählt.
AVIVA-Berlin: Wie hat sich die feministische Öffentlichkeit deiner Meinung nach verändert und was bedeutet dies für den Ulrike Helmer Verlag? Wo steht der Verlag heute?
Ulrike Helmer: Die Buchpräsentation unseres Titels
100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht - und weiter? fand im Bundesjustizministerium statt, in Kooperation mit dem Deutschen Juristinnenbund. Es waren Frauen aus vielerlei Medien, Parteien, Initiativen, Frauenarchiven da. Auch an dem von Isabel Rohner und Rebecca Beerheide herausgegebenen Buch selbst wirkte ein breites Spektrum von Beiträgerinnen mit, von Rita Süßmuth bis Cornelia Möhring von der Linken, Sabine Lautenschläger von der Europäischen Zentralbank, Sharon Adler von der AVIVA-Berlin, bis Zana Ramadani von Exfemen, Terres des Femmes,
Mithu M. Sanyal... Ich fand, es war noch nie so selbstverständlich für Frauen der verschiedensten Couleur, sich in einem Punkt einig zu sein: Dass gewonnenes Frauenterrain verteidigt und ausgebaut werden muss und man sich da auch längst nicht mehr scheut, gar als Feministin zu gelten.
Auch auf das Lesepublikum bezogen, sind Frauenthemen
"angekommen". Es ist leichter, sie im größeren Rahmen als selbstverständlich zu setzen.
So sind auch Lesbenromane nicht mehr unbedingt Szeneromane. Andererseits bleibt es dabei, dass in der Öffentlichkeit Frauenbelange unterbelichtet sind und Frauen zu wenig und wenn, dann meist steroptyp sichtbar werden. Dies belegen auch aktuelle Zahlen. So zeigt eine von Maria Furtwängler initiierte Medienstudie aus dem Juli 2017, dass in Kino und Fernsehen der BRD zumeist Männer überwiegen und nicht nur quantitativ, sondern dass sie auch von der Funktion her, qualitativ, das Sagen, die Deutungshoheit haben. Dagegen gibt es nur halb so viele Frauen in den Hauptrollen, allerdings nur Frauen bis dreißig, und ihre Rollen sind obendrein stereotyp, d.h.,die Frauen befassen sich mit Liebe, Beziehung und Partnerschaft. Als Nachrichtensprecher (72%) und in Expertenrunden (79%), auch als Comediens fungieren in der Mehrheit Männer. Sie überwiegen also an Menge wie an Macht.
Feministische Öffentlichkeit ist weiterhin nötig, das dürfte damit glasklar geworden sein. Sie verkörpert sich aber nicht mehr allein in bestimmten feministischen Zeitungsorganen, sondern zeigt sich amorph, situativ, schwarmartig oder auch im Internet. Damit kann sich feministische Öffentlichkeit auch überraschend bilden. Wir sollten offen dafür sein, wo sich Gelegenheiten bieten, und sie ergreifen.
Du fragst, wo der Verlag heute steht? Immer noch auf dem Hochseil - da geht es uns nicht anders als anderen Verlagen. Allerdings sind wir geübte Seiltänzerinnen und arbeiten mit Netz (lacht). Im Ernst:
Netzwerke sind für die Arbeit heute wichtiger denn je, natürlich am liebsten mit Frauen, etwa dem Branchennetzwerk Bücherfrauen e.V. Als Unabhängiger Verlag unterstützen wir auch die Kurt-Wolff-Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene und pflegen unsere Kontakte zu Medien und Buchhandel. Der Handel schätzt unabhängige Verlage dafür, dass sie keine Wald- und Wiesenware präsentieren, sondern einen grünen Daumen für Entdeckungen haben.
AVIVA-Berlin: Wie stabil schätzt du Frauenbuchverlage hinsichtlich Vermarktung, Absatz und Interesse ein?
Ulrike Helmer: Das Marktsegment der Frauenverlage, von denen es vor zwanzig Jahren vielleicht zehn, zwanzig gab, die
"Bücher von Frauen für Frauen" machten, existiert nicht mehr. Heute gibt es von Frauen geführte Verlage, es gibt von Männern geführte Verlage mit Schwerpunkt auf Lesben bzw. Schwule, es gibt mehr oder weniger ausgewiesen feministische oder gar sozialistisch feministische Verlage, und es gibt den meinen, in dem z.B. nicht nur Autorinnen, sondern auch Autoren erscheinen.
Alle diese Verlage publizieren rund um das Thema Geschlechterdemokratie, Gender, Queer. Sie unterscheiden sich stark voneinander. Das macht aber nichts, denn sie bieten vielerlei Kooperationsmöglichkeiten. Wir ergreifen sie immer gern, denn auch hier gilt für mich: Vermarktung, Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung muss viele Wege finden. Das Interesse an unseren Themen ist da.
Unsere Zeit, die in vieler Hinsicht verunsichert, rüttelt auch an Geschlechterthemen. Einerseits sind junge Frauen so selbstbewusst wie nie, andererseits sind auch Geschlechterklischees so klebrig wie nie. Eine quietschrosa Wolke umhüllt Mädchen, himmelblaues Gendermarketing die Jungs, das vernebelt auch die Köpfe der Eltern. Es gibt viel zu tun, um gesellschaftliche Verängstigung in neues Bewusstsein und in Mut zu verwandeln.
AVIVA-Berlin: Welche Entwicklung im Buchmarkt hältst du aktuell für besonders wichtig, ist e-Book ein Thema für dich?
Ulrike Helmer: Wir verkaufen unsere Belletristik seit Jahren sehr erfolgreich im eBook, lassen nun auch Sachbücher folgen. Dieses Format ist für mich schlicht eine Ergänzung zum klassischen haptischen Glücksgefühl, ein papiernes Werk in Händen zu halten. eBooks haben mich andererseits auch dazu inspiriert, "echte Bücher" optisch aufzuwerten: Seit diesem Herbst gibt es bei uns besonders ausgestattete Hardcover. Olivia Rosenthals Buch über das Verschwinden trägt beispielsweise ein schwarzes Loch im Buchdeckel ...
Auf dem Buchmarkt schätze ich die Entwicklung hin zu runden Buchpreisen und beobachte mit Spannung die Entwicklung des Krimimarktes als Abbild bzw. kritisches Zerrbild der Gesellschaft.
AVIVA-Berlin: Welche Themen liegen dir besonders am Herzen?
Ulrike Helmer: Frauenrechte, Menschenrechte, Freiheit, Bildung, Demokratie und für alle genug Zeit und Geld, um Bücher zu lesen. Nicht umsonst heißt es bei uns
"Bücher sind Klamotten fürs Hirn".
AVIVA-Berlin: Wie wirst du das Jubiläum feiern?
Ulrike Helmer: Wir werden unser Jubiläum während der Frankfurter Buchmesse begehen, wo wir viele Lesungen und Präsentationen haben werden. Unter anderem lesen Olivia Rosenthal (Mittwoch abends in der Stadt und am Donnerstag vormittag auf der Messe), Carolin Schairer (samstags bei der lesbisch-schwulen Lesenacht) und am Sonntag ab 15.00 Uhr heißt das Motto auf der Lesebühne der Unabhängigen Verlage
"30 Jahre Ulrike Helmer Verlag" ...
AVIVA-Berlin: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Ulrike Helmer: Sehr gern!
Mehr Informationen zu Ulrike Helmer und zum Verlagsprogramm finden Sie unter:www.ulrike-helmer-verlag.deWeiterlesen auf AVIVA-Berlin – von AVIVA-Berlin rezensierte Literatur aus dem Ulrike Helmer Verlag:100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht - und weiter? Herausgegeben von Isabel Rohner und Rebecca BeerheideSchluss mit den Trippelschritten. Im November 1918 erhielten die Frauen gegen heftige Wiederstände das aktive und passive Wahlrecht. Eine feministische Emanzipationsgeschichte, ein leidenschaftlicher Prozess, der hartnäckig und zäh bis heute weitergeführt wird. Ein perspektivenreicher und politisch brandaktueller Sammelband mit Beiträgen von einflussreichen Frauen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. (2017)
Antje Schrupp - Vote for Victoria! Das wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838 - 1927)Sie war Wunderheilerin, Prostituierte, Wall-Street-Brokerin, Zeitungsmacherin und Politikerin. Das Leben der Victoria Woodhull war facetten- und abwechslungsreich. Die Autorin portraitiert in ihrer im Ulrike Helmer Verlag erschienen Biographie die Person Victoria und ihre politische Ideologie. (2016)
Elke Amberg - Schön! Stark! Frei! Wie Lesben in der Presse (nicht) dargestellt werdenDie Studie zur medialen Darstellung lesbischer Frauen belegt, dass die "Leerstelle Lesben" bei weitem nicht nur gefühlt ist, denn in der Presse sind Lesben vor allem eines: unsichtbar. (2012)
200. Geburtstag von Fanny LewaldAm 24. März 2011 jährt sich der Geburtstag einer der wichtigsten und produktivsten Frauen des 19. Jahrhunderts. Ein Grund für FemBio, den Ulrike-Helmer-Verlag und AVIVA-Berlin, die Frauenrechtlerin und Schriftstellerin im Portrait vorzustellen. Die Autorin Roswitha Hoffmann stellt in ihrer Neuerscheinung zum Jubiläum "Das Mädchen mit dem Jungenkopf. Kindheit und Jugend der Schriftstellerin" einen bislang wenig beachteten Aspekt in der Entwicklung von Fanny Lewald in den Fokus. (2011)
Erfolg buchstabiert sich T-U-N. Kluge Frauen über Macht, Erfolg und Geld . Herausgeben von Isabel Rohner und Andreas Franken
Im Ulrike Helmer Verlag erschien kürzlich dieses kleine Büchlein. Thematisch sortiert versammelt es historische und aktuelle Zitate von Frauen zu ´Karrierethemen´. Eine handliche Inspirationsquelle! (2011)
Immacolata Amodeo, Heidrun Hörner, Christiane Kiemle - Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in DeutschlandGrundlage des Bandes sind die Beiträge zu einem Literaturfestival, das im Herbst 2008 in Bremen stattfand. Auf der "Globale – Festival für grenzüberschreitende Literatur" waren AutorInnen unterschiedlicher thematischer und stilistischer Ausrichtung und Herkunft vertreten. (2009)
Feministische Medien - Öffentlichkeiten jenseits des MalestreamEine Bestandsaufnahme von deutschsprachigen feministischen Medien, die sich seit Anbeginn der Frauenbewegung zwischen Popkultur und Politik sowie DIY-Mentalität und Selbstausbeutung bewegen. (2008)
Andrea Brebeck - Wissen und Agieren in der feministischen MädchenarbeitFeministischer Mädchenarbeit und ihren Akteurinnen wird ein "unzeitgemäßer" Ansatz in der Geschlechterforschung und Praxis der Sozialen Arbeit vorgeworfen. Andrea Brebeck hinterfragte diese Kritik. (2008)
Einführung in die Feminismuskunde"Das F-Wort – Feminismus ist sexy", herausgegeben von Mirja Stöcker, räumt mit Klischees rund um den Feminismus und den natürlichen Unterschieden zwischen Frauen und Männern auf. (2007)