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Beitrag vom 09.01.2019
Andrea Livnat, Herausgeberin von haGalil.com. Jüdisches Leben online im Interview mit Sharon Adler, Herausgeberin von AVIVA-Berlin
Sharon Adler
Andrea Livnat, Dr. phil., 1974 in München geboren und aufgewachsen, ist Historikerin, Journalistin und seit 2014 leitende Redakteurin des jüdischen Internetdiensts "haGalil.com. Jüdisches Leben online". Die Themen: Alles zwischen den Ergebnissen der CNN-Studie zu Antisemitismus in Europa über die Liebe zu Tel Aviv bis hin zu den großen Herausforderungen, das Internetportal zu finanzieren.
Seitdem ihr Studium sie vor 17 Jahren nach Tel Aviv führte, lebt sie dort und ist noch immer verliebt in diese Stadt, von der sie sagt "Jede Ecke hält eine Überraschung bereit, die das Herz der Historikerin höher schlagen lässt, das Auge der Kunstliebhaberin erfreut und dem Gaumen der Feinschmeckerin schmeichelt." Diese und weitere Liebeserklärungen an "Die weiße Stadt am Meer", die auch als "Big Orange" bekannt ist, findet sich in ihrem Buch "111 Orte in Tel Aviv, die man gesehen haben muss", 2015 im Emons Verlag erschienen und mittlerweile in überarbeiteter zweiter Auflage erhältlich. Außerdem ist 2012 von ihr bei Campus erschienen "Der Prophet des Staates. Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels".
haGalil.com wurde 1995 von ihren Eltern gegründet, David Gall und Eva Ehrlich. Auslöser für die Gründung war deren vergebliche Suche im Internet nach Informationen zum Judentum nach der Ermordung Yitzhak Rabins am 4. November des gleichen Jahres.
Das in München lebende Paar war geschockt davon, dass die Internet-Recherche "kaum etwas Seriöses ergab – weder zum Friedensprozess, noch zum Judentum noch irgendwelche Gebete oder Antworten auf religiöse Fragen". Eva Ehrlich erinnert sich: "Von einigen Agenturmeldungen abgesehen fanden wir vor allem rechtsextreme Seiten mit verzerrenden "Informationen" über Judentum".
Kurzentschlossen beschloss David Gall, eine Homepage zu gestalten - als Erinnerung an Rabin und dessen Weg zu den Friedensverhandlungen von Oslo, mit persönlichen Gedanken und Gebeten.
Der Name der Seite: Eine Kombination aus dem Nachnamen des Gründers, Gall, und Galiläa, Galil, einer der schönsten Gegenden in Israel. Gal heißt Welle auf Hebräisch, eine "neue Welle im Internet".
Das Motto der Plattform im noch jungen Medium Internet formulierte David Gall im ersten Editorial: "haGalil soll ein offenes Buch sein, ein virtueller Ort, der Raum für Begegnung, Lernen und Auseinandersetzung ist."
Diesen Raum besuchten bald immer mehr Menschen aus dem In und Ausland, die genau nach diesem Raum schon lange gesucht haben und haGalil.com wurde bald das größte jüdische Onlinemagazin in deutscher Sprache.
2014 starb David Gall an Krebs. Zeit, die Zukunft von haGalil zu besprechen, war nicht mehr. Die Seite wird seit seinem Tod von Andrea Livnat herausgegeben.
Andrea Livnat im Interview mit Sharon Adler
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Du bist 1974 in Deutschland geboren und in München aufgewachsen. Seit 17 Jahren lebst Du nun schon in Tel Aviv, und Du sagst "Ich bin fast jeden Tag froh darüber, dass meine Kinder hier aufwachsen". Dein Buch ("111 Orte in Tel Aviv, die man gesehen haben muss") liest sich wie eine Liebeserklärung an diese außergewöhnliche Stadt. Was sind – trotz aller realen Bedrohungen wie Terroranschläge und Messerattacken und steigender Lebenshaltungskosten - die Gründe dafür, was ist für Dich der große Unterschied zwischen München und Tel Aviv?
Andrea Livnat: In Tel Aviv kann jeder so sein wie er will. Es gibt hier alles, Juden, Muslime, Christen, Israelis, die hier geboren sind, unheimlich viele Menschen, die eingewandert sind, fast jeder hat einen "gemischten" Hintergrund. Die Stadt ist nachts um 1 lebendiger als München mittags um 12. Das Konservative und Zugeknöpfte an München geht mir definitiv überhaupt nicht ab. Anders ist es mit der Landschaft, mir fehlen die Berge und die Seen im Münchner Umland, auch der Schnee, aber trotzdem ist es herrlich auch im Dezember im Tshirt Fahrrad zu fahren. Israelis lieben Kinder, und auch wenn in Tel Aviv Familien in der Unterzahl sind, ist es eine wunderbar weltoffene und vielfältige Stadt, die auch den Kindern viel zu bieten hat.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: HaGalil berichtet über Israel und jüdisches Leben in Europa, über die israelische Linke und Rechte, über die Friedensbewegungen genauso wie offizielle Stellungnahmen von Netanjahu, über die verschiedenen Strömungen des Judentums, ob liberal, orthodox, oder säkular. Du selbst schreibst seit über zwanzig Jahren für HaGalil zu breitgefächerten Themen. Wie haben sich die Themen, Deine Themen, im Laufe der Jahre entwickelt?
Andrea Livnat: Ich fürchte, ich hatte früher mehr Zeit, auch größere historische Texte zu schreiben. Seitdem ich den Großteil der Redaktionsarbeit übernommen habe, funktioniert das weniger. Dabei habe ich eine ganze Liste mit Ideen. Sehr gerne stelle ich unseren Lesern historische Texte vor, da ich denke, dass die Originalbeiträge aus den 1910er-30er Jahren viel verstehen helfen. Außerdem liegt natürlich immer ein ganzer Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch und wartet auf Rezension. Insgesamt hat sich haGalil sicherlich auch thematisch etwas verändert, da es heute viel mehr jüdische Webseiten gibt, so dass mache Themenbereiche heute nicht mehr dringend von uns abgedeckt werden müssen. In den ersten Jahren gab es beispielsweise keinerlei praktische Informationen zu jüdischem Leben im Internet, also wo gibt es eine Gemeinde, wo die Möglichkeit, koscher einzukaufen. Was bleibt sind vor allem der Grundsatz: haGalil soll ein pluralistischer Ort sein, der für unterschiedlichste Meinungen und Themen Platz hat, auch solche, die woanders nicht unterkommen.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Unter dem Menuepunkt "Antisemitismus" finden sich auf haGalil aktuell Beiträge zu den Themen "Empirische Untersuchung zu rechtsextremistischen Einstellungen in Deutschland", weiterhin die Ergebnisse der zweiten Umfrage der EU-Grundrechteagentur (FRA) zu "Jüdischen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Hasskriminalität, Diskriminierung und Antisemitismus", oder zu einer neuen Studie zu Antisemitismus an Schulen der der Frankfurt University of Applied Science bis hin zu "Linke Angriffe gegen Israelunterstützer*innen und Journalist*innen" – um nur einige zu nennen. Welche Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen hältst Du für sinnvoll und lange überfällig?
Andrea Livnat: Es ist sicher hilfreich, dass es jetzt alle möglichen Initiativen gibt, dass es Antisemitismusbeauftragte gibt. Aber eines der größten Probleme ist, dass gerade im Internet der Antisemitismus ungehindert gedeihen kann. Es fehlen ganz einfach die Voraussetzungen, hier effektiv vorzugehen. Das NetzDG ist schön und gut, aber wird es auch strikt angewendet? Wenn man antisemitische, volksverhetzende, rassistische Inhalte in den sozialen Netzwerken meldet, dann merkt man schnell, dass Facebook, Twitter und Konsorten nur sehr lahm und oft genug gar nicht reagieren. Warum gibt es dann keine Bussgelder? Die Justizministerkonferenz hat im Sommer die Bundesjustizministerin zur Vorlage eines Gesetzesvorschlags aufgefordert hat, der Lücken in der Strafbarkeit in Bezug auf ausländische Internetseiten schließen soll. Das ist meiner Meinung nach ein ganz kritischer Punkt. Die allermeisten Hetz-Seiten werden ja mittlerweile im Ausland gehostet.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Du kommst aus einer Familie von Shoa‐Überlebenden. Deine Großmutter mütterlicherseits hat Auschwitz überlebt und wurde in Bergen‐Belsen befreit. Dein Großvater war Zwangsarbeiter.
Ende 2018 wurden die Ergebnisse der CNN-Studie zu Antisemitismus in Europa (edition.cnn.com) bekannt gegeben, wonach 40 Prozent der befragten jungen deutschen Erwachsenen im Alter von 18 bis 34 Jahren angaben, dass sie wenig oder gar nichts über den Holocaust wissen. Es verwundert nicht, dass antisemitische Stereotype weiter verbreitet sind, als bisher in der Öffentlichkeit bekannt. Was läuft Deiner Meinung nach falsch in der europäischen Bildungsarbeit?
Andrea Livnat: Ich denke, Empathie kann man am besten erzeugen, wenn man die persönlichen Schicksale erzählt, die hinter der riesigen Zahl der Ermordeten stehen. Die Stimme der Zeitzeugen ist das wichtigste in der Bildungsarbeit. Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass Menschen aus ihrem Leben gerissen wurden, wie sie den immer aggressiver werdenden Antisemitismus erlebten, wie sie alles aufgeben mussten, wie sie ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Und man muss Kindern auch nicht immer nur die Geschichten erzählen, die "gut" ausgegangen sind. Gerade die Stolpersteine bieten da zum Beispiel eine gute Möglichkeit für Klassen herauszufinden, wer das eigentlich war, dem da gedacht wird. Und wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, dann kann man sie durch Filmaufnahmen ins Klassenzimmer holen.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: 2018 hat der von Herzl und den ZionistInnen erträumte "Judenstaat" seinen 70. Geburtstag gefeiert. Den Anteil der Überlebenden der Shoa an der Staatsgründung hat haGalil in einem besonderen Projekt, der Artikelserie "70 Jahre Israel – Die Shoa-Überlebenden und die Entstehung des jüdischen Staates" (www.hagalil.com), sichtbar gemacht. Was bedeutet das für die Wahrnehmung und journalistische Arbeit heute, da die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hochbetagt oder bereits verstorben sind?
Andrea Livnat: Das Jahr 2018 hat ja diese Zäsur sehr deutlich gemacht. Im Dezember ist mit Simcha Rotem der letzte der Kämpfer des Aufstands im Ghetto Warschau gestorben. Ich fürchte, dass diese Zäsur für den Journalismus bedeutet, dass die Themen allgemein weniger bearbeitet werden, denn es ist sehr viel aufwendiger zu recherchieren, wenn man keine direkten Ansprechpartner mehr hat.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel "Deutschland und Israel heute: Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?" wird deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen hinsichtlich Akzeptanz, Interesse, Schuld, Erinnerung, Herkunft und Grenzen sind und die Meinungen auseinanderklaffen. Wie erklärst Du es Dir, dass viele Israelis heute ihre Heimat in Richtung der Länder verlassen, in denen ihre Familien in der NS-Zeit verfolgt, entrechtet und getötet wurden – besonders vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus´?
Andrea Livnat: Viele Israelis nehmen den Antisemitismus in Deutschland anders war als deutsche Juden. Ich finde es immer spannend, mich mit Israelis darüber zu unterhalten. Viele finden, dass das doch alles gar nicht so schlimm sei. Die Realitäten in Israel sind ja auch nicht einfach. Nicht nur die Sicherheitslage, auch der Alltag, die Lebenshaltungskosten. Da ist Europa doch eine gute Alternative.
Aber Tatsache ist ja auch, dass viele wieder nach Israel zurückgehen, wenn sie Kinder bekommen.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Auf haGalil können die BesucherInnen mittels eines Formulars antisemitische und rechtsextreme Propaganda melden. Bitte erläutere uns den Ablauf, was geschieht dann mit der Meldung, welche rechtlichen Schritte werden von eurer Seite aus eingeleitet?
Andrea Livnat: Wir schauen uns die gemeldeten Seiten an, sieben erstmal aus. Es werden sehr viele Facebook Profile oder Kommentare gemeldet, davon ist oft schon etwas gelöscht. Dann muss man beurteilen, ob das Gemeldete tatsächlich gegen ein Gesetz oder nur den guten Geschmack verstößt. Dazu haben wir juristische Beratung. Und was dann übrig bleibt, zeigen wir an. Ich verstehe absolut, dass viele anonym bleiben wollen und die Anzeige nicht selbst aufgeben möchten.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Was sind – damals wie heute, die großen Herausforderungen, das Internetportal mit Themen zu füllen und am Leben zu erhalten?
Andrea Livnat: Die meisten Leute, die die Webseite aufrufen, denken, es gibt Büroräume, es gibt eine große Mitarbeitercrew, doch das war noch nie so. Jeder von uns hat immer von Zuhause aus gearbeitet. Das spart Kosten. Konkret: mein Schreibtisch ist 1,20 Meter breit und steht hier in einer Ecke vom Wohnzimmer, mein Kontakt mit allen Mitarbeitern und Autoren läuft über Internet. Wir können natürlich nicht mit den großen Medien in der tagesaktuellen Berichterstattung konkurrieren. Wir leben davon, dass es ganz viele Autoren gibt, die an uns glauben und uns honorarfrei ihre Artikel, Recherchen und Fotos zur Verfügung stellen. Ihre Arbeit ist es, die haGalil so spannend macht.
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: haGalil e.V. erhält eine kleine Grundförderung und kann als eingetragener Verein auch Spenden annehmen – wie genau kann die Arbeit, das Verfassen und Veröffentlichen der Artikel, die Pflege und Weiterentwicklung der Webseite von haGalil unterstützt werden? Wie gestaltet sich die Finanzierung?
Andrea Livnat: Die kleine Grundförderung reicht für das Nötigste, gerade mal so, dass wir jedes Jahr über die Runden kommen. Die Spenden helfen uns dabei, zusätzliche Projekte zu entwickeln. In vergangenen Jahr war das zum Beispiel das erwähnte über den Anteil der Shoa-Überlebenden an der Gründung des Staates Israel, sowie ein Projekt mit Stimmen von Zeitzeugen zum 80. Jahrestag der Pogromnacht. Für 2019 ist auch schon einiges geplant. Wir freuen uns über jede Unterstützung, nicht nur in Form von Spenden, auch Textbeiträge sind eine wertvolle Unterstützung. Und natürlich die Treue unserer Leser!
AVIVA-Berlin, Sharon Adler: Danke für das Interview - wir wünschen euch weiterhin ganz viel Erfolg bei der Weiterführung eurer wichtigen Arbeit!
haGalil im Netz: www.hagalil.com
Fotos von Andrea Livnat: Sharon Adler