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Beitrag vom 13.01.2009
Stalking-ExpertInnen - Ein Interview mit Stefanie Thieme
Henriette Jankow
Seit März 2007 ist der Nachstellungsparagraph §238 im Strafgesetzbuch verankert. Um eine Einschätzung der rechtlichen Situation in Deutschland bezüglich des Themas Stalking baten wir die Juristin...
...In der Berliner Anwaltssozietät Jurati praktiziert die Rechtsanwältin in den Tätigkeitsschwerpunkten Strafrecht, Erbrecht und Familienrecht.
AVIVA-Berlin: Nach §238 I, IV StGB ist Stalking zunächst ein Privatklagedelikt. Eine einfache Nachstellung wird nur auf Antrag des Opfers verfolgt. Wie hoch schätzen Sie die Chancen der Opfer ein, tatsächlich juristisch gegen Stalker/innen vorzugehen?
Stephanie Thieme: Stalking wird überwiegend definiert als wiederholte Verfolgung und Belästigung einer Person, die bei ihr psychische Beeinträchtigungen auslöst. Wenn einer anderen Person beharrlich nachgestellt, aufgelauert oder in anderer Weise in ihren individuellen Lebensbereich eingegriffen wird, sieht das Gesetz eine entsprechende Strafe vor. Allerdings ist in diesem Gesetz eine Vielzahl "unbestimmter Rechtsbegriffe" enthalten, die in der Praxis Auslegungsschwierigkeiten provozieren.
Gemäß §238 IV StGB ist für die Verfolgung einer Tat nach Absatz 1 des § 238 StGB ein Strafantrag des Opfers notwendig, wenn nicht die Strafverfolgungsbehörden das sogenannte "besondere öffentliche Interesse" an der Verfolgung bejahen. In der Praxis sieht das aber so aus, dass zumeist erst durch eine Anzeige der Opfer die Strafverfolgungsbehörde überhaupt Kenntnis von der Tat erlangt. Verneint die Strafverfolgungsbehörde das besondere öffentliche Interesse an der Verfolgung des Täters, bleibt dem Opfer nur der Weg der Privatklage übrig, was schlichtweg heißt, dass es nun dem Opfer obliegt, die Ahndung der Tat zu betreiben. Hierzu sind ohne anwaltlichen Beistand nur sehr wenige bereit und in der Lage.
Die vom Gesetzgeber mit dem neuen Tatbestand erstrebte Verbesserung des Schutzes der Betroffenen wird wegen dieser verfahrensrechtlichen Ausgestaltung gerade nicht erreicht und viele Opfer werden deshalb davon absehen, ihre Interessen wirklich durchzusetzen.
Davon zu unterscheiden ist die zivilrechtliche Möglichkeit, eine einstweilige Verfügung zu erlassen - dem Täter wird damit untersagt, sich dem Opfer nur bis zu einer bestimmten Grenze zu nähern.
AVIVA-Berlin:Welche Kriterien bestimmen, ob und wann ein Stalking-Fall zu einem "besonderen öffentlichen Interesse" wird?
Stephanie Thieme: Für die Frage des öffentlichen Interesses wird eine besondere Intensität der Rechtsgutverletzung zur Voraussetzung für die staatliche Strafverfolgung gemacht.
Das den Behörden bei der Beantwortung dieser Frage zustehende Ermessen findet man unter der Nr. 86 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV),deren Absatz 2 "die Verletzung des Rechtsfriedens jenseits des Lebenskreises des Verletzten" durch die Tat verlangt. Für die Verletzung des Rechtsfriedens jenseits des Lebenskreises des Opfers und damit für ein öffentliches Interesse an der Verfolgung von Nachstellungen verbleiben also lediglich die Fälle, deren Folgen über schwerwiegende, dem Opfer bereits nicht mehr zumutbare Beeinträchtigungen hinausgehen.
Weitaus besser wäre es m. E. gewesen, auch in Anbetracht der Ziele des Opferschutzes, es bei der gesetzlichen Regel eines Offizialdelikts zu belassen und so den Strafverfolgungsbehörden einen grundsätzlichen Ermittlungsauftrag bei Vorliegen eines entsprechenden Tatverdachts zu erteilen.
AVIVA-Berlin: Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage, so besteht für das Stalking-Opfer die Möglichkeit als Nebenkläger/in aufzutreten. Welche Chancen bestehen in der Nebenklage für die Opfer?
Stephanie Thieme: Bei einer Nebenklage kann der Verletzte, also in der Regel das Opfer, neben dem Ankläger (Staatsanwaltschaft) als weiterer Ankläger auftreten. Das muss allerdings beantragt werden. Dem Nebenkläger stehen – ähnlich wie der Staatsanwaltschaft – eigene Verfahrensechte zu, die er als Zeuge nicht hat. Insbesondere ist der Nebenkläger zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. Weiterhin hat er – unter den gesondert geregelten Voraussetzungen – wichtige Rechte wie z. B. Richter- und Sachverständigen-Ablehnung, Beweisantragsrecht, Fragerecht etc. Darüber hinaus kann er unabhängig von der Staatsanwaltschaft Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen. Dem Nebenkläger ist es auch möglich, bereits in Strafverfahren gegen den Täter zivilrechtliche Ansprüche wie Schmerzensgeld geltend zu machen.
AVIVA-Berlin: Die Tatsache, dass Nachstellung in Deutschland anders als beispielsweise in Österreich ein Privatklagedelikt darstellt, wurde bei der Verabschiedung des §238 StGB unter anderem von den Grünen kritisiert. Denken Sie als praktizierende Juristin, dass die rechtliche Grundlage in Deutschland ausreichend ist, um nachhaltig gegen Nachstellungsdelikte vorzugehen?
Stephanie Thieme: Eine effiziente Verbesserung des staatlichen Opferschutzes kann aus meiner Sicht nicht damit erreicht werden, einerseits einen neuen Straftatbestand wie den § 238 StGB zu schaffen, die Verfolgung und Bestrafung des Täters aber nicht als unbedingte Aufgabe dem Staat aufzuerlegen, sondern es im Einzelfall dem Opfer zu überlassen, ob er den Privatklageweg beschreitet oder nicht. Hätte man es bei der gesetzlichen Regel belassen, den § 238 I StGB als sogenanntes Offizialdelikt zu regeln, würde dem Opfer eher der staatliche Schutz zukommen, der ihm mit Aufnahme des § 238 StGB ins Strafgesetzbuch versprochen wurde.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Gespräch.
Weitere Infos zu Stefanie Thieme und zur Anwaltssozietät Jurati finden Sie unter: www.jurati.de
Lesen Sie auch auf AVIVA-Berlin unser Feature "Stalking – Wenn Liebe zum Wahn wird" sowie unsere Interviews mit der Journalistin Susanne Schumacher und dem Psychologen und Mitarbeiter der Stalker-Beratungsstelle Stop Stalking Berlin Wolf Ortiz-Müller.