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Beitrag vom 19.10.2009
Interview mit Radka Denemarková
Katja Schickel
Aus einem Gespräch mit der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarková anlässlich des Erscheinens von "Ein herrlicher Flecken Erde" September 2009 in Prag
Katja Schickel: Was war Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben?
Radka Denemarková: Ich möchte die Leichen, die wir im Keller haben, nehmen und durchleuchten und zwar mit einer konkreten, literarischen Geschichte. Ein herrlicher Flecken Erde ist auch eine Geschichte des Gedächtnisses. Ich wollte zeigen, wie wir in Tschechien bestimmte Themen unter den Teppich gekehrt haben.
Katja Schickel: Woran entzündete sich der Streit um das Buch?
Radka Denemarková: Die Kontroversen entstanden, weil ich bestimmte Handlungen der Tschechen sehr prägnant beschreibe. Was mich fasziniert hat, dass eine bestimmte Gruppe, also die Gruppe der deutschsprachigen Menschen, verschwunden ist, ab 1948 auch andere Gruppen verschwunden sind, und niemand hat etwas dagegen. Hunderte Jahre haben Tschechen und Deutsche miteinander gelebt, egal, wie kompliziert auch immer. Es genügten zehn Jahre zwischen 1938 und 1948 und alle sind verschwunden, entweder im Konzentrationslager, im Exil oder sie wurden vertrieben, aber niemand wollte und will darüber sprechen. Es geht nicht mal hauptsächlich darum, dass Gita Lauschmannová Jüdin, eine deutschsprachige Jüdin ist, es geht darum, dass einem Menschen Unrecht geschehen ist.
Katja Schickel: Warum sagen Leute, das ist ein schlechtes Buch oder die Autorin eine Nestbeschmutzerin?
Radka Denemarková: Die erste Reaktion war, dass es zwar ein literarisch gut gemachtes Werk ist, aber diese Themen sind alt, die interessieren niemanden mehr, die Deutschen haben doch alles verursacht. Bisher war klar, wer Held und Opfer ist. Da ist das Böse und da ist das Gute. Aber Schwarz-Weiß gibt es nicht gibt, es ist viel komplizierter. Das ist der Grund für die Auseinandersetzung. Um das so zu schreiben, muss man es zuallererst anders sehen. Ich wollte, dass dieses Buch wie eine Kröte im Hals ist, keine süße Nachspeise nach dem Abendessen. Es sollte ein literarisches Experiment sein, die Sprache musste auch experimentell sein. Es ist zugleich eine Modellsituation: das Leben einer Frau in der männlichen Welt - also sehr aktuell. Darüber hinaus wollte ich wissen, warum Menschen so sind, sich Opfer suchen zu müssen, und es ist egal, ob es ein einzelner Mensch ist oder eine Gruppe. Aggression hat verschiedene Stufen. Ich möchte wissen, wie die Leute sind, was passiert ist, weil all das bleibt ja in der Luft, in der Atmosphäre, in der Mentalität. Man vergisst nie und nichts.
Katja Schickel: Wie kommen Sie zu den Figuren? Oder: Wie kommen die zu Ihnen?
Radka Denemarková: Die Geschichte fängt immer im Kopf an. Natürlich lese ich vorher viel. Und dann treffe ich eine Auswahl, wähle die Figuren, die ich beobachten möchte. Die Geschichte ist fiktiv, aber um sie glaubwürdig zu machen, müssen historische Kulisse und alle Details stimmen, wenn man wirklich die Essenz der Zeit beschreiben will. Man braucht einen kalten Kopf und muss die Worte präzise wie mit einer Pinzette hintereinander reihen.
Katja Schickel: Zum Umgang mit der Sprache: Einerseits eine Aneignung, man eignet sich nochmal oder sogar erstmalig die eigene Geschichte an. Aber es wird, durch die Art und Weise, wie Sie Sprache benutzen bzw. die beiden Gitas, die junge und die alte, auch eine Form von Distanz geschaffen. Der jungen Gita, die von sich sagt, sie trage schon die Greisin in sich, was man nach ihren Erlebnissen ja nachvollziehen kann, der wird eine Sprache in den Mund gelegt oder in die Gedanken, die manchmal auch ein bisschen altklug erscheint, nicht ´angemessen` sechzehn-jährig. Die alte Sechsundsiebzig-Jährige wiederum hat manchmal wiederum einen dermaßen jugendlichen Jargon drauf, den man bei einer so distinguierten Frau nicht erwartet, auch einen schnoddrigen Sarkasmus. Ist es so, dass in dem Maße, wie sich Geschichte angeeignet, eine eigene Sprache gefunden wird, auch eine Art von Distanz her muss, sonst kann man das alles gar nicht aushalten?
Radka Denemarková: Genau, Gita sagt, als sie aus dem Lager kommt: Alle meine Kinderworte sind verschwunden, Sie ist eigentlich eine Erwachsene in der Haut eines Kindes, eines jungen Mädchens. Und das ist nicht normal. Deshalb ist die Sprache, die sie benutzt, auch nicht normal. Dieses Mädchen ist labil, sie sucht auch in der Sprache danach, wer sie ist und was sie machen soll. Als alte Frau, die das alles durchgehalten hat - und auf einmal die Rolle der zeitgenössischen Frau spielt - hat sie immer noch Hoffnung. Das ist das Positive in dem Roman, aber es ist eine literarische, künstliche Sprache und eine künstliche Form, die es mir ermöglichte, die Wahrheit oder die Essenz dieser Zeit zu zeigen und zu durchleben.
Katja Schickel: Ihr Motto ist: "Sich am Riemen reißen, nicht zusammenbrechen, nicht schreien!", sie versucht, die Form zu wahren. Das wird auch in der Struktur von Zeit durchgehalten: Es gibt Prolog, Epilog und dazwischen ihre Rückkehren, die im Grunde lediglich Stippvisiten sind. Sie sagt auch: "Nur weg hier, das ist mein Ziel!". Aber um das erreichen zu können, muss sie durch alle Schichten und Zeitebenen hindurchgehen. Formal ist das sehr strukturiert, aber diese Ebenen sind immer miteinander verwoben, weil Zeit nie so funktioniert, dass man sie einfach jeweils in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerlegen könnte. Manchmal braucht man jedoch ein Korsett, einen Halt...
Radka Denemarková: Genau. Es ist wie ein Haus. Da ist eine spannende Geschichte, eine äußere Wand oder ein Zaun, und wenn man ins Haus geht, gibt es verschiedene weitere Geschichten und Gedanken. Es gibt Phasen oder Punkte im Leben, in denen sich ein Schicksal verdichtet. In diesen Zeiten wird dann alles in Zweifel gezogen, und wir müssen das Leben von Anfang an neu denken. Und das passiert dieser Gita Lauschmannová ganz häufig. Für mich ist sie eine sehr starke Frau, die es immer wieder schafft. Nur eines schafft sie nicht: Sie begreift nicht, dass sie Energie und Zeit verschwendet, wenn sie immer wieder in dieses Dorf kommt, weil das keine Chance ist. Die neue Generation wird von denselben Eltern und Großeltern erzogen, die immer wieder dieselben Klischees wiederholen.
Katja Schickel: Für Antisemitismus gibt es keinen Grund, aber der Junge sprayt dann den Judenstern doch an die Wand, das ist eine Wiederholung, die er vermutlich relativ unbewusst vollzieht, aber er hat trotzdem sofort das Zeichen parat, und es zeigt, dass es in den Köpfen der Leute immer noch existiert und deshalb funktioniert.
Radka Denemarková: Ja, und das ist sehr traurig, wo ist denn da eine Chance?
Katja Schickel: Gita muss feststellen, dass da Risse sind, die einfach nicht mehr zu kitten sind. Das ist das eigentlich Deprimierende. Aber sie versucht etwas, was ganz wichtig ist für sie persönlich als traumatisierte Person, nämlich durch eine Geschichte hindurch zugehen, aber auch für uns, weil wir solche Menschen brauchen, die uns die Vergangenheit erzählen, um das Vergessene neu zu lernen. Diese Wahrhaftigkeit ist auch schwer auszuhalten. Man darf die Menschen nicht zu sehr erschrecken, nicht zu sehr konfrontieren. Das ist eine Erfahrung, die sie macht, und die nicht sehr tröstlich ist.
Radka Denemarková: Wenn Gita Lauschmannová im Jahre 2005 in dieses Dorf zurückkehrt, ist es wie in einem antiken Drama, das mag ich sehr. Sie steht da eigentlich allein gegen den Chor oder in diesem Falle gegen das ganze Dorf, aber symbolisch gegen die Gesellschaft. Sie meint, dass sie schon alles weiß, sie hat sich an vieles erinnert, und am Ende stellt sie fest, dass ein Detail alles, was sie bisher geschrieben hat, verändern kann, dass z. B. ihr Vater das alles ganz anders erzählen würde und all die anderen Figuren, die in ihrer Geschichte vorkommen. Es ist oft so, dass Menschen die wichtigsten Fragen der Familie, den Verwandten, den Freunden nicht stellen, weil im Alltag dazu keine Zeit oder kein Mut ist, aber diese Fragen werden deshalb auch nie beantwortet werden. Das sind die schwarzen Löcher in jedem Leben – natürlich auch in der Geschichte und der jeweiligen Gesellschaft. Wenn man bestimmte Fragen nicht stellt, wird es gefährlich, dann entstehen die Tabus, Klischees und Vorurteile.
Katja Schickel: Es gibt in Ihrer Generation andere Autorinnen und Autoren, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen, vermutlich weil es eine zeitliche Distanz gibt, vielleicht auch, weil die Zeit reif dafür ist, es gibt Interesse.
Radka Denemarková: Ja, das ist meine Erklärung, dass ich das Thema gewählt habe, aber meine Hauptfrage ist, warum wiederholen sich diese Situationen in der Geschichte der Menschheit - und zwar überall. Ich beschreibe nicht sachliche, politische Situationen, sondern was sie mit Menschen machen. Mich interessieren konkrete Menschen und Schicksale. Und man darf nie vergessen, wenn da Unrecht war. Für mich ist die innere Welt der Person wichtig. Gita möchte wissen, warum sie nicht ihr eigenes Leben leben kann. Was soll ein normaler Mensch machen, wenn ihm so etwas passiert wie meiner Figur. Es geht um die Wunde eines jeden Menschen. Und ich wollte in der fiktiven Figur verschiedene Schicksale verallgemeinern.
Katja Schickel: Fehlt Ihnen in Tschechien, dass zu wenig Fragen gestellt werden, was war denn, was ist geschehen, wie sind wir da wieder raus gekommen und welche Fehler haben wir gemacht, also wo haben wir auch versagt? Das hat nicht stattgefunden. Und das heißt, da ist immer noch der Deckel drauf, Mehltau über allem. Ist das so?
Radka Denemarková: Das ist eine gute Interpretation, darum drehten sich die Kontroversen. Ich habe eine Figur, die Deutsch spricht, immer in Tschechien geblieben ist, sie wurde nicht vertrieben, sie war nicht im Exil, sie wollte da bleiben, und davon gab es Einige, aber darüber sprach und spricht man nicht.
Katja Schickel: Sie haben gesagt, Sie seien froh, dass Literatur nicht mehr die Funktion von Gewissen übernehmen muss. Aber Sie wollen Ihr Thema präsentieren und sagen: Jetzt beschäftigt euch mal damit! Das ist auch eine moralische Haltung, oder!?
Radka Denemarková: Ich möchte nicht strafen. Ich wollte bestimmte Situationen benennen, die Finger in die Wunden legen. Das ist wichtig, finde ich - und ist für die Kunst und auch für die Gesellschaft ganz gesund. Wenn wir so weiter machen, ändert sich nie etwas, dann können wir nichts diskutieren. Dann sind wir wie im Gefängnis. Aber das möchte ich nicht mitmachen. Dieses Thema zeigt, dass in der Luft etwas Kaltes ist, was auch mich persönlich nicht in Ruhe lässt. Ich sitze nicht am Schreibtisch und denke mir ein Thema aus, nein, mich interessiert wirklich der Raum, in dem ich lebe.
Katja Schickel: Gita Lauschmannová sagt: "Ja, ich werde weiter schreiben. Das Schreiben ist meine Rettungsweste."
Radka Denemarková: (lacht) Ja, das ist mein Satz, Motto meines Schreibens.
Katja Schickel: Ich fand einen Satz am Ende des Buches, der Motto wie Resümee sein könnte: "Mit verbundenen Augen hat sie sich rückwärts bewegt, dann mutig die Augenbinde abgestreift." Diesen Mut zu haben, auf sich selbst zu vertrauen und nicht auf fremde Blicke und dann zu schauen, was wirklich ist...
Radka Denemarková: Ja, dieser Mut zur Wahrheit, das ist der größte Mut, den ich kenne.
Katja Schickel: Gespräch mit Radka Denemarková über Ein herrlicher Flecken Erde - 23.09.09 in Prag, gekürzte Fassung
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Ein herrlicher Flecken Erde von Radka Denemarková.