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Interviews
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Beitrag vom 22.07.2011
Chancen und Grenzen der Patientinnen-Mitbestimmung - Teil 1
Ilka Fleischer
Dr. Maren Stamer, wiss. Mitarbeiterin in der Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung und Mitglied im AK Genderperspektiven Public Health (Uni Bremen), im E-Interview
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BUCHTIPP: Maren Stamer: Der Umgang mit Risiken - Hausärztliche Versorgung zwischen Tradition und ModernePaperback, 240 Seiten Juventa Verlag Gmbh (Sep 2011) ISBN 978-3779919827 zur Verlagsankündigung |
AVIVA-Berlin: Nachdem zahlreiche internationale Studien einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Behandlungserfolg und PatientInnen-Mitbestimmung hergestellt haben, wird in den letzten Jahren immer wieder von einer Demokratisierung in der Beziehung zwischen Arzt/Ärztin-und PatientIn berichtet. Der/die "mündige Kranke" und eine "neue Selbstbestimmung" der PatientInnen werden verzeichnet und dem Fachbegriff
"Shared Decision Making" (SDM) zugeordnet.
Was genau ist darunter zu verstehen? Und: Gibt es tatsächlich einen deutlichen Trend zu mehr "Partnerschaftlichkeit" zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn? Maren Stamer: Traditionell ist davon ausgegangen worden, dass Ärzte und Ärztinnen aufgrund ihres Fachwissens anstehende Entscheidungen im besten Sinne für ihre Patienten und Patientinnen treffen. Viele verschiedene Gründe, z.B. sich verändernde gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, haben zu einem Überdenken dieses Versorgungsmodells geführt. Statt der/dem Patientin/en ein "eindeutig richtig" erscheinendes Behandlungsverfahren zu "verordnen", wird heute häufiger zwischen verschiedenen verfügbaren Verfahren abgewogen. Diese veränderte Grundhaltung, dass es nicht immer nur eine richtige Option gibt, kann dazu führen, im Gespräch zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin gemeinsam zu beraten, welcher Behandlungsweg für den einzelnen Menschen am besten ist. Beschrieben wird dieses Vorgehen mit dem Begriff
"SDM".
Ob es einen deutlichen Trend zu mehr Partnerschaftlichkeit gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Vermutlich sind alle Beteiligten – Ärzte/Ärztinnen und Patienten/Patientinnen – nicht frei von traditionellen Vorstellungen über ärztliche Behandlungsprozesse. Hinzu kommt, dass die aufeinander treffenden Personen sich in ganz verschiedenen Rollen befinden, was dazu führt, dass der Begriff "partnerschaftlich" missverständlich ist. Meines Erachtens ist es ausgesprochen wichtig, immer wieder aufs Neue zu hinterfragen, wie eine Patientin/ein Patient mit entscheiden möchte. Dazu gehört auch, "Räume" zu schaffen, die eine Partizipation von Patienten und Patientinnen möglich machen.
AVIVA-Berlin: In Ihrem Buch
"Der Umgang mit Risiken - Hausärztliche Versorgung zwischen Tradition und Moderne" (September 2011 im Juventa-Verlag) weisen Sie auf Unterschiede im Kommunikationsstil von Ärzten und Ärztinnen hin. Demnach pflegen Ärztinnen einen kooperativeren Umgang mit PatientInnen, was zu einer größeren PatientInnenzufriedenheit führt.
Inwieweit spielt der abweichende Kommunikationsstil von Ärzten und Ärztinnen auch eine Rolle bei der PatientInnen-Mitbestimmung? Maren Stamer: Ein
Forschungsteam hat z. B. festgestellt, dass Konsultationen mit Ärztinnen im Durchschnitt zwei Minuten (das entspricht 10%) länger dauern als mit Ärzten. Dieselben Kolleginnen kommen zu dem Schluss, dass Ärztinnen sich stärker als Ärzte für ein aktives partnerschaftliches Verhalten engagieren. In einer
Untersuchung im Rahmen gynäkologischer Praxen zeigte sich, dass ein patientinnenorientierter Gesprächsstil zu mehr Zufriedenheit bei den Patientinnen führt. Ein solcher Gesprächsstil, so auch das Ergebnis dieser Studie, werde häufiger von Ärztinnen denn von Ärzten praktiziert. Davon ausgehend, dass Gespräche eine wesentliche Grundlage für eine gleichwertige Mitbestimmung von Patientinnen und Patienten darstellen, erscheint danach die Chance auf SDM in Konsultationen mit Ärztinnen also größer als mit Ärzten. Zu betonen ist allerdings auch, dass es weiterer Forschung bedarf, um Aspekte der Kommunikation, Interaktion und Mitbestimmung auch unter genderspezifischen Gesichtspunkten genauer zu betrachten.
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Kolip, Petra / Lademann, Julia (Hrsg.): Frauenblicke auf das Gesundheitssystem - Frauengerechte Gesundheitsversorgung zwischen Marketing und IgnoranzPaperback, 258 Seiten Juventa Verlag Gmbh (2010) ISBN-13: 978-3779919827 zur Verlagsankündigung |
AVIVA-Berlin: Nach einer
Studie zur PatientInnenzufriedenheit des Wissenschaftlichen Instituts der Techniker Krankenkasse (WINEG / 2010) sind 95 Prozent der Deutschen mit ihrem Arzt/ihrer Ärztin grundsätzlich zufrieden. Sie wünschen sich von ihm/ihr jedoch mehr Informationen und möchten stärker in die Entscheidungen einbezogen werden. Zugleich kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass jede/r dritte die Verantwortung für die eigene Gesundheit nicht bei sich selbst sieht.
Von Seiten der PatientInnen scheint es also einerseits ein klares Votum für mehr "Beteiligung" zu geben, andererseits aber wenig Bereitschaft, die Verantwortung (mit) zu übernehmen. Wie geht das zusammen? Maren Stamer: Ergebnisse quantitativer Studien zeigen in der Regel eine konstant hohe Patienten- und Patientinnenzufriedenheit. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Oftmals kommen qualitative Studien, in deren Rahmen wesentlich differenzierter nach dem Erleben von Patienten und Patientinnen gefragt wird, zu anderen Erkenntnissen über patientenseitige Einschätzungen.
Auch die Frage nach der Bereitschaft, Verantwortung (mit) zu übernehmen, erfordert eine differenzierte Betrachtung. Zunächst ist zu fragen, wer welches (un)ausgesprochene Ziel mit einer Behandlung verbindet (gerade im Kontext chronischer Erkrankungen). Wie werden beispielsweise Wirkungen und Nebenwirkungen einer Therapie im Verhältnis zueinander erlebt und welche Entscheidungen werden daraus für die weitere Behandlung abgeleitet? Worin werden Ursachen für Erkrankungen ebenso wie Möglichkeiten und Grenzen einer Beeinflussung gesehen? Zu hinterfragen, wie Patienten und Patientinnen ebenso wie Ärzte/Ärztinnen zu diesen Fragen stehen, ermöglicht ein besseres Verstehen von Handlungsempfehlungen und Handlungsentscheidungen. So kann einer vermeintlich fehlenden patientenseitigen Bereitschaft eine Motivation zugrunde liegen, die sich ohne ein gemeinsames Gespräch nicht erschließen lässt.
AVIVA-Berlin: Im Rahmen einer Studie zu SDM und Risikokommunikation wurde festgestellt, dass Ärzte/Ärztinnen – anstatt PatientInnen an Entscheidungen zu beteiligen – häufiger Risiken betonen, um ihrerseits bereits gefällte Entscheidungen zu legitimieren.
Nicht wenige Ärzte/Ärztinnen sehen starkes Konfliktpotenzial zwischen ihrem ärztlichen Heilungsauftrag und "SDM". Was befürchten sie?Maren Stamer: Neben dem Wunsch nach einem größtmöglichen Wohlergehen von Patienten und Patientinnen ist davon auszugehen, dass Ärzte und Ärztinnen getragen sind von einem generellen Heilungsauftrag. Damit stehen sie nicht zuletzt unter dem Druck ihrer eigenen Profession, diesen Auftrag bestmöglich umzusetzen. Shared Decision Making wiederum kann damit einhergehen, dass Patientinnen und Patienten sich nicht per se an ärztlichen Empfehlungen orientieren, sondern davon abweichende Entscheidungen treffen. D.h., dass ärztliche Vorstellungen zum Heilungsauftrag nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen mit den Interessen und Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten. Aus ärztlicher Perspektive kann es als Konflikt erlebt werden, dass der aus ihrer Sicht empfehlenswerte Weg abgelehnt und ein möglicher Heilungserfolg damit gefährdet erscheint.
Meines Erachtens wird es kaum möglich sein, den möglichen Konflikt zwischen Heilungsauftrag einerseits und Verwirklichung von mehr Partizipation in der Gesundheitsversorgung andererseits (allein) in ärztlichen Sprechzimmern zu lösen. Vielmehr bedarf es einer breiten gesellschaftspolitischen Diskussion über Grundlagen zu gestaltender Versorgungsprozesse. Welche Erwartungen bestehen an Versorgungsprozesse und wie könnten diese gemeinschaftlich verwirklicht werden?
AVIVA-Berlin: Weltweit gibt ein Viertel der PatientInnen an, dass Ärzte/Ärztinnen ihre Fragen nicht ausreichend beantworten, sie nicht in die Entscheidungen bezüglich der Behandlung miteinbeziehen und medizinische Fachbegriffe verwenden, ohne sie zu erklären (vgl.
Studie von SSI und TRiG).
Wie könnte das patientInnenseitige Bedürfnis nach mehr Information und Partizipation ärztlicherseits besser erfüllt werden?
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin: 2. Teil des Interviews