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Interviews
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Beitrag vom 22.07.2011
Chancen und Grenzen der Patientinnen-Mitbestimmung - Teil 2
Ilka Fleischer
Dr. Maren Stamer, wiss. Mitarbeiterin in der Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung und Mitglied im AK Genderperspektiven Public Health (Uni Bremen), im E-Interview
AVIVA-Berlin: Weltweit gibt ein Viertel der PatientInnen an, dass Ärzte/Ärztinnen ihre Fragen nicht ausreichend beantworten, sie nicht in die Entscheidungen bezüglich der Behandlung miteinbeziehen und medizinische Fachbegriffe verwenden, ohne sie zu erklären (vgl. Studie von SSI und TRiG). Wie könnte das patientInnenseitige Bedürfnis nach mehr Information und Partizipation ärztlicherseits besser erfüllt werden?
Maren Stamer: Denkbar ist zum Beispiel, dass zu Anfang der Gespräche zwischen Ärzten/Ärztinnen und Patienten/Patientinnen geklärt wird, welche Themen erörtert werden sollen und welche Fragen bestehen. Gemeinsam festgelegt werden kann in dem Zusammenhang auch, in welcher Reihenfolge die möglicherweise unterschiedlichen Themen oder thematischen Facetten besprochen werden sollen. Vielleicht ist die Verabredung eines Folgetermins erforderlich, da nicht alle offenen Fragen im Rahmen eines Gesprächs erörtert werden können. Das Vorgehen ermöglicht, dass ärztliche und patienten-/patientinnenseitige Anliegen dargelegt und miteinander abgestimmt werden. Dies kann dazu beitragen, bestehende Erwartungen angemessener zu berücksichtigen.
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© Grafik: Techniker Krankenkasse |
AVIVA-Berlin: Laut der
EUROCOM-Studie zur "Arzt-Patient-Kommunikation" in sechs europäischen Ländern (1996) dominieren in Deutschland kurze und häufige Gespräche zwischen PatientIn und Hausarzt/-ärztin. Arbeitsbelastung und -unzufriedenheit der Ärzte/Ärztinnen seien in Deutschland "bei weitem am höchsten". Abgeleitet wird daraus, dass eine Veränderung der Zeittakte – für PatientInnen und Ärzte/Ärztinnen – ressourcensparend und gesundheitsfördernd sein könnte.
Ist "Zeit" nicht ein entscheidender Faktor bei "SDM"? Maren Stamer: Sicherlich ist "Zeit" ein entscheidender Faktor in der Gestaltung von Versorgungsprozessen. Im Gespräch zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin gemeinsam abzuwägen und zu beraten, welcher Behandlungsweg sich bezogen auf den einzelnen Menschen als am angemessensten erweist, braucht Zeit. Ein "Mehr" an Zeit für partizipativ gestaltete Begegnungen erscheint auch deshalb erforderlich, weil ein solches Vorgehen noch keine Tradition hat und insofern für alle Beteiligten – Ärzte/Ärztinnen wie auch Patienten/Patientinnen – noch ungewohnt ist. Vor allem stellt sich die Frage, wie die vorhandene Zeit unter Gesichtspunkten größtmöglicher Partizipation bestmöglich genutzt werden könnte. Vielleicht wären seltenere aber dafür längere Gespräche für beide Beteiligte manchmal wünschenswerter und zufrieden stellender. Jedoch hängen Fragen der Häufigkeit und der Länge wesentlich auch vom Versorgungsanlass ab, so dass dazu keine abstrakte oder pauschale Antwort gegeben werden kann. Erforderlich erscheint vielmehr eine immer wieder neue Aushandlung des gemeinsamen Vorgehens zwischen den an der Versorgung beteiligten Akteuren/Akteurinnen.
AVIVA-Berlin: Bei SDM liegt auf der Hand, dass es – neben dem Faktor "Zeit" – eines (gesellschaftlichen und kulturellen) Rahmens bedarf, der das demokratische Miteinander von Ärzten/Ärztinnen und Patienten/Patientinnen fördert.
Welcher Voraussetzungen bedarf es für eine Verwirklichung von "SDM" in der medizinischen Versorgung? Maren Stamer: Neben einer Beförderung ärztlicher Gesprächskompetenzen, zum Beispiel einer generell stärkeren Berücksichtigung von Kommunikation in ärztlicher Aus-, Fort- und Weiterbildung, erscheint es mir wichtig, das "Richtig-Falsch-Paradigma" in der Medizin zu hinterfragen und anzuerkennen, dass es – von Notfallsituationen abgesehen – weitgehend der gemeinsamen Aushandlung über ein bestmögliches Vorgehen bedarf. Dabei muss zugleich gesichert sein und bleiben, dass Ärzte und Ärztinnen mit dem jeweils aktuellen Fachwissen vertraut sind.
Dem Ansatz der Partizipation ist innewohnend, dass Veränderungen sowohl auf Seiten der Ärzte/Ärztinnen als auch auf Seiten der Patienten/Patientinnen erforderlich sind. Denkbar wären zum Beispiel Fortbildungen oder Workshops, in denen sich Ärzte/Ärztinnen und Patienten/Patientinnen gemeinsam darüber austauschen, wie eine Gesprächskultur gestaltet sein könnte, die über eine wechselseitige Übermittlung von Informationen und der Hoffnung auf ein wechselseitiges Verstehen hinausgeht. Ein
Pilotprojekt dieser Art wurde 2009 bereits erfolgreich durchgeführt.
Weitere Ansätze für eine Verwirklichung von "SDM" könnten zum Beispiel in der Aufbereitung von zusätzlichem Informationsmaterial, in der Entwicklung weiterer Instrumente zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen (siehe Kasten Entscheidungshilfen), in der Durchführung weiterer Forschungsprojekte zu dem Thema wie auch in der Berücksichtigung des Konzeptes "SDM" in Leitlinien liegen.
AVIVA-Berlin: "Patienten-Leitlinien" finden in Deutschland immer mehr Verbreitung. Vor allem aber wird das Internet zunehmend zum "virtuellen Wartezimmer". Nach einer aktuellen repräsentativen
Gesundheitsstudie der Kommunikationsagentur MSL Germany und des Marktforschungsinstituts SKOP befragen 41 Prozent der deutschen Online-Bevölkerung das Internet vor einem Arzt-/Ärztinbesuch und 31 Prozent nach einem Termin
Welche Möglichkeiten haben PatientInnen darüber hinaus, den SDM-Prozess aktiv mitzugestalten? Maren Stamer: Die Patienten/Patientinnen-Leitlinien (siehe Kasten oben) sind – da, wo vorhanden – sicher schon mal ein guter Ansatzpunkt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich auf das
Gespräch mit der Ärztin/dem Arzt vorzubereiten, z.B. im Vorfeld Fragen oder Themen zu notieren, über die eine Patientin/ein Patient während der Konsultation sprechen möchte. Ein solches Vorgehen wird seit langem von Akteuren und Akteurinnen z.B. im Kontext von Beratungsstellungen und Selbsthilfeverbänden empfohlen. Denkbar ist zum Beispiel auch, mit dem Arzt/der Ärztin zu vereinbaren, dass - gerade bei Entscheidungen, die als kompliziert erlebt werden - das gemeinsam verabredete Vorgehen (und damit auch der Behandlungsplan) schriftlich festgehalten werden.
AVIVA-Berlin: In den USA, in Großbritannien und in den Niederlanden ist das Thema SDM seit Jahrzehnten etabliert und in vielerlei Hinsicht bereits gut implementiert. In unserem Nachbarland wurde z.B. erst kürzlich ein umfangreiches SDM-Portal gelauncht.
Welche Best-Practice-Beispiele für SDM gibt es in Deutschland? Maren Stamer: Ein Best Practice Beispiel für SDM in Deutschland stellt meines Erachtens das Konzept "arriba" dar, das von den Abteilungen für Allgemeinmedizin der Universitäten Marburg, Düsseldorf und Rostock entwickelt wurde.
Arriba steht für "Absolute und Relative Risikoreduktion: individuelle Beratung in der Allgemeinarztpraxis" und wurde für die hausärztliche Beratung zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzipiert. Es zeichnet sich nicht nur durch Möglichkeiten der Abschätzung von Erkrankungsrisiken aus, sondern auch durch eine Unterstützung der professionellen Akteure und Akteurinnen im Hinblick auf die Kommunikation von Risiken mit Patienten und Patientinnen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Konzept ist mit dem Richard-Mertens-Preis und mit dem Berliner Gesundheitspreis 2008 ausgezeichnet worden.
AVIVA-Berlin: In Ihrem aktuellen
Buch beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen ärztlichen Haltungen im Umgang mit Entscheidungen und mit medizinischem Wissen im Behandlungsprozess. Hand auf’s Herz:
Wenn Sie eine lebensbedrohliche Krankheit, aber nur die Wahl zwischen einem Nerd wie Dr. House und einem/r empathisch-demokratischen Arzt/Ärztin mit geringem medizinischen Know-how hätten – zu wem würden Sie gehen? Maren Stamer: Trotz aller Hochachtung für den omni-kompetenten Dr. House :-) würde ich grundsätzlich nach einem/r empathisch-demokratischen Arzt/Ärztin mit medizinischem Know-how suchen. Und wahrscheinlich würde ich mich fragen, was für mich in der jeweiligen Situation von zentraler Bedeutung ist – ein Gespräch oder auch eine über das Gespräch hinausgehende Intervention – und mich dann entsprechend für die Begegnung mit dem/der einen und/oder anderen Arzt/Ärztin entscheiden.
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