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Beitrag vom 22.04.2010
Sophie Hunger im Interview
Tatjana Zilg
AVIVA-Berlin traf die Schweizer Songwriterin während ihrer Friedrichshain-Visite zu einem Gespräch über einen ungewöhnlichen Blick auf Berlin, ihren individuellen Zugang zum Musikmachen, die ...
... Entstehung ihres dritten Albums "1983" und die Paradoxien des Nein-Sagens.
Sophie Hunger gelang mit "Mondays Ghost" im Frühjahr 2009 ein viel beachteter, grenzüberschreitender Einstieg ins Musikgeschäft. Dabei bewies sie einen starken Eigenwillen und eine hohe Authentizität trotz Major-Deal. Die große Resonanz bei Publikum und Presse belohnte sie mit ausgiebigen Touren, welche eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Musikmachen in ihr auslösten und bald ein neues Wunderwerk an Songs entstehen ließen. Das Ergebnis, ihr drittes Album "1983", lädt nun erneut zur Erkundung ihrer Welt ein.
Das autodidaktische Multitalent wurde 1983 in Bern geboren, verbrachte aber als Tochter eines Diplomaten-Ehepaares einen guten Teil der Kindheit in London und Bonn.
AVIVA-Berlin: Wie kam es zu der Entscheidung, den Song "1983" zum Titelgeber des neuen Albums zu machen?
Sophie Hunger: Ich habe einen Titel gesucht, der über allen Titeln stehen kann und dem Gesamten Halt gibt, so dass alles gut zusammenpasst. "1983" war der einzige Titel, der so funktioniert hat. Er ist für mich ein Stellvertreter für das Ganze.
AVIVA-Berlin: Wofür steht der Titel für Sie? Was ist die grundlegende Idee dahinter?
Sophie Hunger: Diese spiegelt sich auch auf dem Cover-Foto, welches den Blick von Außen nach Innen betont. Es geht darum, dass alles was ich nach Außen tue, nach Innen auf mich zurückwirkt, und genauso alles, was sich auf mich richtet nach außen zurück reflektiert. Auch die Konzertsituation empfinde ich oft so. "1983", das Jahr meiner Geburt, hat für mich ebenfalls diese Bewegung.
AVIVA-Berlin: "1983" ist deutschsprachig (die meisten Songs sind englischsprachig). Der Text ist vielschichtig, und nicht eindeutig, was natürlich die Intensität erhöht. Für mich hat er auch etwas Surreales an sich. Würden Sie dennoch verraten, worum es für Sie in dem Lied geht?
Sophie Hunger: Das mache ich ungern, zu sagen, ein Lied handelt über dieses oder jenes. Ich finde das schwierig, denn ein Lied handelt immer auch von sich selbst. Wenn ein Lied eine Erklärung für etwas wäre, müsste man dieses Lied gar nicht machen, denn man könnte einfach nur die Erklärung abgeben. Ich finde es deshalb unpassend, eine Analyse über die Lieder zu machen.
AVIVA-Berlin: Wie schaut denn bei Ihnen der kreative Prozess beim Songschreiben aus?
Woher schöpfen Sie Ihre kreative Kraft? Was inspiriert Sie?
Sophie Hunger: Mich inspiriert das ganze Leben, alles, was ich erlebe. Ich bin nicht so selektiv. Wirklich alles, auch die Sachen, die nicht wichtig erscheinen. Manchmal ist es auch nur ein Wort oder ein Satz, den ich besonders gerne sage oder singe. Und dann versuche ich, ein Lied daraus zu machen. Manchmal ist es aber auch bestimmter Beat, den ich gerne höre, ein Rhythmus, der bei mir bleibt, und aus dem sich dann ein Lied entwickelt.
Bei dem Stück "Your Personal Religion" war zuerst der Titel da. Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen auf die Frage, ob sie an Gott glauben, die Antwort geben, sie hätten ihre eigene Religion. Ich habe gemerkt, dass mich das eher abstößt, da das sehr egoistisch und selbstbezogen wirkt. Das heißt ja nichts anderes, dass diejenigen Menschen die Vorstellung haben, nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nur für sie alleine zutreffen, ihr Leben zu gestalten. Das hat für mich einen asozialen Touch. In dem Ausdruck "My Personal Religion" habe ich das ein bisschen überspitzt und stellvertretend gebraucht für eine Gesellschaft, die darauf konzipiert ist, dass der Einzelne sich selbst an die erste Stelle setzt.
AVIVA-Berlin: Sie spielen Gitarre und Piano. Ist es oft so, dass zuerst der Text da ist oder ergibt sich auch viel beim Improvisieren?
Sophie Hunger: Das ist immer anders. Es scheint da bei mir kein richtiges Prinzip zu geben. Es kommt auch vor, dass manchmal zuerst nur ein Rhythmus da ist, den ich immer wieder hören will bis sich darauf ein Song aufbaut. So war das bei "Invisible". Da hatte ich den Rhythmus und fing an zu schneiden und erst dann kam alles andere.
AVIVA-Berlin: Verteilt sich dieser Prozess über einen längeren Zeitraum? Wie viel Zeit haben Sie bei Ihrem neuen Album benötigt?
Sophie Hunger: Letztes Jahr habe ich über hundert Konzerte gespielt. Durch die ständig neuen Impulse hatte ich nebenher immer neue Ideen und habe mich viel schneller weiterentwickelt. So habe ich viele neue Sachen geschrieben, obwohl ich eigentlich gar nicht die Zeit dafür gehabt habe.
AVIVA-Berlin: Ihre Songs beeindrucken mich oft durch ihre leise Kraft. Zugleich liegt in Ihren Songs eine verhaltene Aggression, welches auch das Cover umsetzt. Was reizt Sie an diesen sehr feinsinnigen und teils zerbrechlich wirkenden Melodien?
Sophie Hunger: Ich glaube, je länger man Musik macht, umso mehr wird einem bewusst, wie groß das Spektrum an Möglichkeiten ist, das man hat. Für meine aller erste CD habe ich einfach ein paar Mikrofone vor mich hingestellt, ein Lied gespielt und dann war es für mich okay. Später habe ich angefangen, mehr auszuprobieren, und bemerkt, dass es schon ein wenig anders klingt, wenn ich das Mikrofon woanders hinstelle. Aber auch da habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Bei dem neuen Album habe ich weitaus mehr Aufmerksamkeit darauf verwendet und viel Zeit mit diesen Feinheiten verbracht. Genauso, wie ich mir überlegt habe, welchen Ton ich spiele, so habe ich genau bedacht, mit welchem Instrument ich ihn spiele und wie er exakt klingen soll. Durch die Erfahrung erweitert sich die Herangehensweise sehr und man findet für sich heraus, auf welche unterschiedlichen Weisen man seine Ideen umsetzen kann.
AVIVA-Berlin: Der Einsatz der vielen unterschiedlichen Instrumente lässt auch die Konzerte zu besonderen Erlebnissen werden. Haben Sie ein persönliches Lieblingsinstrument?
Sophie Hunger: Nein, ich finde alle Instrumente toll, die wir einsetzen. Es klingt halt immer anders. Wichtig ist für mich dabei, dass man die Songs so immer etwas anders spielen und neu erfinden kann. Wenn man mit den Instrumenten frei umgehen kann, weil man sie gut beherrscht, so ist das eine große Hilfe.
AVIVA-Berlin: Wie haben Sie sich mit den Musikern zusammengefunden, die Sie im Studio und bei den Tourneen begleiten?
Sophie Hunger: Es war schon immer ein Traum von mir, mit einer Gruppe gemeinsam einen Klang zu erarbeiten und entstehen zu lassen. Eine Gruppe, die lange zusammen ist, klingt immer anders als eine, die nur kurz zusammen spielt, auch wenn sie aus den allerbesten Musikern der Welt besteht. Ganz einfach, weil sie soviel Zeit miteinander verbracht haben. Ich glaube sehr an die Qualität, die sich aus der gemeinsamen Zeit entwickelt. Und mein Traum war immer, eine Gruppe zu haben, die nicht nur meine "Backing Band" ist, sondern dass die Gruppe mindestens als gleichwertig zu mir angesehen werden kann.
Christian, den Flötisten, kenne ich schon seit dem Gymnasium. Wir haben nach dem Schulabschluss zusammen wilde Zeiten erlebt, ein Haus in Zürich besetzt und dort eine Bar und einen Club geführt. Er war damals nach außen hin mehr der Musiker. Ich hatte mich eher noch ein bisschen versteckt und ihn dafür bewundert, wie er sich gezeigt hat. Als ich anfing, Lieder zu schreiben, fragte ich ihn, ob er mich begleiten möchte. Diese Bekanntschaft kam aus dem privaten Umfeld und wir sind auf diese Weise zusammengewachsen.
Michael war dagegen bereits bekannter: Er war der Posaunist, mit dem alle zusammenspielen wollen,- das junge Talent über das alle sagten, er wird mal eine große Karriere machen. Ich traute mich, ihn anzusprechen und er wurde der Dritte in unserer Gruppe. Wir haben schnell gemerkt, dass viel passiert zwischen uns und es sehr gut funktioniert. Dass wir uns füreinander interessieren, dass wir uns aneinander prägen und gegenseitig Prozesse auslösen. Unser Trio ist bis heute der Kern der Besetzung auf der Bühne und im Studio.
AVIVA-Berlin: Alle Songs sind von Ihnen selbst geschrieben bis auf einen Coversong: "Le vent nous portera" von Noir Desir. Was hat Sie an dem Song angesprochen? Wie kam es zu der Entscheidung, diesen Song zu interpretieren?
Sophie Hunger: Das ist ein Song, den ich früher sehr oft und gerne gehört habe. Es ist ein sehr visionäres Stück, in dem es eigentlich um alles geht. Von Noir Desir wurde es aber mehr in einem Reggae-Rhythmus gespielt. Ich hatte immer das Gefühl, ich möchte es singen und die Musik soll dabei die Größe haben, die der Text transportiert. Und dann habe ich versucht, es in diesem Sinne selbst umzusetzen.
AVIVA-Berlin: Gibt es andere Songs, die Sie gerne in Zukunft covern würden?
Sophie Hunger: Live mache ich immer wieder Cover. Pro Konzert zwei bis drei. Für meine Alben hatte ich aber immer genug eigene Songs.
AVIVA-Berlin: Wie ist die Songwriting-Szene in der Schweiz untereinander vernetzt? Kennen Sie Heidi Happy und Erika Stucky, tauschen Sie sich gegenseitig aus?
Sophie Hunger: Da stehe ich nicht so im Kontakt. Ich tausche mich nur mit meinen Musikern aus. Ich suche diesen Kontakt auch nicht und möchte lieber frei davon sein. Aber ich freue mich, dass es so viele Songwriterinnen in der Schweiz gibt und dass diese auch in Deutschland wahrgenommen werden. Aber ich habe persönlich nicht das Bedürfnis, da in enge Verbindung zu treten. Ich war auch in der Schule schon kein Cliquenmensch. Ich halte mich da lieber etwas abseits.
AVIVA-Berlin: In dem Song "Citylights Forvever" nehmen Sie Bezug auf Berlin. Wie gut kennen Sie Berlin? Haben Sie hier schon länger gelebt?
Sophie Hunger: Das bezieht sich darauf, dass man in der Schweiz, wenn man jung ist und cool sein will, unbedingt nach Berlin gehen möchte. Ich mache mich da etwas lustig über diese Klischees.
AVIVA-Berlin: Sie haben schon öfter in Berlin gespielt während Ihrer Tourneen. Haben Sie sich da auch in der Stadt umsehen können?
Sophie Hunger: Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit.
Ich erinnere mich aber daran, dass ich als Kind einmal mit meinen Eltern für zwei Tage in Berlin war. Ich besuchte mit ihnen die Schweizer Botschaft. Diese war das einzige Gebäude in einem Bereich, wo man alles abgerissen hatte. Wir standen auf dem Dach und haben uns um 360 Grad gedreht und wo der Blick auch hinfiel, war es total kahl. Mir wurde dann erklärt, dass hier alles neu gebaut werden soll. Das war so vor fünfzehn Jahren.
AVIVA-Berlin: In dem Song "The Boat Is Full" (von "Mondays Ghost") spiegeln Sie mit kritischem Blick die Einwanderungspolitik der Schweiz. Wie haben Sie den Volksentscheid gegen den Minarett-Bau erlebt, der auch in Deutschland kontrovers diskutiert wurde?
Sophie Hunger: Die Entscheidung an sich finde ich schrecklich, aber sie spiegelt auch die Realität. Eine Mehrheit in der Schweiz hat Angst vor diesen Dingen. Und das ist das, was mich daran interessiert. Wie kommt es dazu, dass ein Teil der Bevölkerung in der Schweiz so verunsichert ist, obwohl sie doch so viel besitzen, und dass so wenig Kontakt besteht zu anderen Kulturkreisen? Wie kann so etwas geschehen? Was ich auch beobachtet habe, ist, dass viele Medienleute erschrocken waren über die Kraft der Demokratie, die diesen Ausgang des Volksentscheids mit möglich machte. Es hat mich leicht amüsiert, dass wir da unserem eigenen System nicht gewachsen sind: Dass die Demokratie auch zulässt, dass das Volk ganz furchtbare Sachen bestimmen kann. Die Entscheidung wurde deshalb auch zur Anregung, über das System nachzudenken. Was Demokratie bedeutet und ob es richtig ist, dass das Volk dieses so entscheiden konnte. Wenn ich darüber nachdenke, rücken für mich diese Fragen in den Vordergrund.
AVIVA-Berlin: Was sind denn Ihre Vermutungen zu den Ursachen?
Sophie Hunger: Ich glaube, dass viele Schweizer zu sehr in der Vergangenheit leben. Sie tun das zum Teil, weil man ihnen die Gegenwart nicht zutraut. Das liegt mit daran, dass die politische Führung nicht klar genug signalisiert, dass wir in der Mitte Europas leben und uns der Gegenwart stellen müssen. Viele Schweizer sehen sich nicht als Europäer. Das hat für mich nicht unbedingt etwas zu tun mit Links oder Rechts, sondern es ist mehr das traditionelle Bewusstsein. Wobei ich auch denke, dass manchmal die Kraft des Neinsagens an sich für viele auch eine Rolle spielt. Da kommt auch eine psychologische Komponente mit hinzu, wenn eine so große Gruppe an Menschen, Nein zu einem so kontroversen Thema sagt. Dann ist es auch nicht mehr so wichtig, um was es geht, sondern man genießt es, stur zu sein.
AVIVA-Berlin: Freuen Sie sich, dass es jetzt wieder auf Tour geht? Was mögen Sie besonders bei Live-Auftritten und Touren, was nicht?
Sophie Hunger: Das Schöne sind die Konzerte an sich: Menschen zu treffen, mit Leuten zu spielen, für Leute zu spielen. Was ich schwierig finde, sind so die ganzen Tage - die Zeit davor und danach, dass man monatelang zwischen Stuhl und Bank lebt. Da fehlt schon auch das feste Zuhause und das macht die Sache etwas schwer. Aber es kann auch wiederum schön sein, wenn man dann zu nichts und niemanden gehört. Dies ist auch eine Art der Freiheit.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Sophie Hunger im Netz: www.myspace.com/sophiehunger