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Beitrag vom 12.08.2021
AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS: Alexander Sperling
Sharon Adler, Alexander Sperling
Um die Erfahrungen und Forderungen von Jüdinnen und Juden zu (Alltags-)Antisemitismus in Dortmund sichtbar zu machen, hat AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie dieses Projekt initiiert. Einer der Teilnehmer:innen ist der Geschäftsführer des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe K.d.Ö.R., Alexander "Sascha" Sperling, der sich seit vielen Jahren in jüdischen Organisationen engagiert. Sein Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Jude sein ist prima! (Allein der Hass auf Juden ist abscheulich)."
Antisemitismus in Dortmund
Die Bilanz antisemitischer Straftaten erfährt einen kontinuierlichen und rasanten Anstieg. Die Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen für 2019 belegen einen Zuwachs um 19,6%.
AVIVA: Für das Demo-Schild gegen Antisemitismus haben Sie das Statement "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" – " Jude sein ist prima! (Allein der Hass auf Juden ist abscheulich)" gewählt. Welche Message möchten Sie damit transportieren bzw. warum ist Ihnen gerade dieses Statement wichtig?
Alexander Sperling: Mir geht es um eine positive und freudige Haltung zum Judentum: Es ist schön, jüdisch zu sein, und das dürfen wir uns grundsätzlich von nichts und niemandem vermiesen lassen. Der Hass sollte unser normales jüdisches Leben überhaupt nicht tangieren und gehört eigentlich ausgeklammert.
Daher würde ich mich als Jude am liebsten gar nicht erst mit verabscheuungswürdigen Antisemiten beschäftigen… nur ignorieren können wir sie leider auch nicht mehr. Es ist bedauerlicherweise notwendig, dass wir Juden gerade die Abscheulichkeit dieses Hasses aufzeigen müssen. Die Bekämpfung des Antisemitismus kann aber nur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein.
Für das Statement war mir außerdem wichtig, dass der Begriff "Jude" vorkommt, denn zu unserem gefestigten jüdischen Selbstbild sollte auch das ´Reclaimen´ dieser korrekten Bezeichnung gehören. Am besten so wie im Titelsong von Freitag Nacht Jews: "Jude, Jude, Jude, Jude, einfach nur ein Wort…"
AVIVA: Synagogen, Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt. In Hamburg-Eimsbüttel griff am 4. Oktober 2020 ein Mann vor der Synagoge einen 26-jährigen Studenten mit einem Spaten an. ….Eine neue Dimension von Antisemitismus?
Alexander Sperling: Halle war sicherlich für viele eine Zeitenwende, weil für uns in Deutschland - zum ersten Mal seit langem - wieder das Ausmaß der physischen Gefährdung von Juden durch Antisemiten spürbar wurde. Überraschend waren diese Anschläge aber für die wenigsten. Denn auch in den Jahren zuvor, hatten uns schon vermehrt antisemitische Vorfälle in einer Dimension getroffen, wie wir sie nach der Schoah eigentlich nicht wieder für möglich gehalten haben.
Doch selbst in den Zeiten, in denen wir hier kaum direkten Antisemitismus erlebt haben, war das antisemitische Gedankengut bei einigen Deutschen wohl nie wirklich verschwunden. Gesamtgesellschaftlich wurde und wird offener Antisemitismus zumindest so sehr geächtet, dass er sich zeitweise nur selten Bahn brechen konnte. Doch die heutige Zersplitterung unserer Gesellschaft und gleichzeitige Enthemmung mancher Gesellschaftsteile lässt die konkrete Bedrohung für uns Juden wieder wachsen.
Gleichzeitig werden bestimmte Formen eines eher indirekten Antisemitismus immer gesellschaftsfähiger. Schon länger müssen wir Juden wieder alltäglich, am Arbeitsplatz, auf Schulhöfen, in sozialen Netzwerken und bei politischen Diskussionen erleben, wie sich antisemitische Verschwörungserzählungen verbreiten und wie aus Israelfeindschaft antisemitische Hetze wird. Erschütternd ist, dass diese Art des Judenhasses mittlerweile unverhohlen in die Öffentlichkeit getragen wird und sich auf den Straßen etlicher Städte z.B. bei den sogenannten Querdenker-Demonstrationen oder auch anlässlich des jüngst neu entbrannten Nah-Ost-Konflikts offen artikuliert.
Wir dürfen uns aber grundsätzlich von keinem Antisemiten verunsichern lassen, um weiter ein freudiges jüdisches Leben in Deutschland führen zu können… und die Voraussetzungen dafür, sind eigentlich ziemlich gut: Die Sicherheit ist beim Besuch jüdischer Einrichtungen gewährleistet, auch dank guter Zusammenarbeit mit den Behörden. Mut macht uns die fortwährende Solidarität aus Politik und Mehrheitsgesellschaft. Wir vertrauen weiterhin darauf, dass diese Mehrheit noch verstärkt der gefährlichen antisemitischen Minderheit entgegenstehen wird. Mit solchen Gewissheiten können wir in Deutschland immer noch ohne Angst selbstbewusste Juden sein.
AVIVA: Haben Sie bei gegen Sie persönlich oder gegen Freund:innen/Bekannte gerichteten antisemitischen Angriffen, oder auf jüdische oder israelische Einrichtungen, Solidarität oder Empathie von nicht-jüdischen Menschen erfahren? In welchen Bereichen sollte die Zivilgesellschaft mehr Verantwortung übernehmen?
Alexander Sperling: Bei jüdischen Einrichtungen und auch im privaten Umfeld erleben wir viel bestärkende Solidarität, insbesondere nach heftigen und medienwirksamen antisemitischen Ereignissen. Es ist beruhigend, dass direkter offener Antisemitismus mehrheitlich verpönt bleibt und entsprechend deutlich verurteilt wird. Noch ermutigender wäre es aber, wenn – auch ohne Anlass – sämtliche gesellschaftliche Akteure die Ursachen von Antisemitismus klarer benennen und entschiedener bekämpfen würden. So wohltuend anlassbezogene Solidaritätsbekundungen für uns auch sind, vermisse ich noch zu oft echte fortwährende Empathie für unsere jüdische Gesamtsituation.
Es gibt insbesondere einen enormen Nachholbedarf beim aktiven Handeln gegen den erwähnten indirekten Antisemitismus. Zu häufig werden verhetzende Aussagen z.B. bei Verschwörungsmythen, Schoahrelativierung oder Israelbashing kaum in der Zivilgesellschaft als antisemitisch erkannt, geschweige denn abgewehrt. Die mehrheitliche Tolerierung indirekt antisemitischer Haltungen ist keineswegs harmlos, sondern die eigentliche Basis dafür, dass wir Juden heute auch wieder von einzelnen strammen Antisemiten direkt angegriffen werden.
AVIVA: Denken Sie, wir müssen als Jüd_innen mehr Solidarität (öffentlich) einfordern? Wenn ja, wie/wodurch?
Alexander Sperling: Zu entsprechenden Anlässen erhalten wir als Juden in Deutschland bereits ausreichend öffentliche Solidarität. Nur diese Solidarität alleine reicht leider nicht. Wovon wir mehr bräuchten, ist fortwährende Empathie, die man jedoch schwer einfordern kann. Mit mehr empathischem Verständnis für Judentum ließen sich vielleicht auch einige Grundlagen des Antisemitismus beseitigen.
Nur in Bezug auf den Staat Israel fehlt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu häufig sowohl Empathie als auch Solidarität. Doch genau bei einer positiven Haltung zu Israel wäre dem Übel des israelbezogenen Antisemitismus am wirksamsten zu begegnen. Schon alleine, weil Antisemiten den jüdischen Bezug zu Israel für ihre Hetze nutzen, lässt sich der Schutz von Juden kaum von einem uneingeschränkten Eintreten für Israel trennen. Diese Solidarität mit Israel können und müssen wir auch z.B. beim Holocaustgedenken oder anlässlich anderweitiger Solidaritätsbekundungen einfordern.
AVIVA: Tragen Sie – außer in der Synagoge – auch mal öffentlich Ihre Kippa (z.B. auf dem Weg dahin)? Falls ja, welche Reaktionen seitens Ihres nicht-jüdischen Umfelds, zum Beispiel von Menschen auf der Straße, im Supermarkt, in der Universität, oder anderen Orten gibt/gab es? Falls nein, warum würden Sie Ihre Kippa nicht öffentlich tragen? ( > Wie ist die Situation in Dortmund, wie sicher fühlen Sie sich in Dortmund?)
Alexander Sperling: Ich trage die Kippa normalerweise nicht in der Öffentlichkeit, da es sich bei ihr um ein Symbol der Religiosität und vor allem der Observanz handelt. Man zeigt im Judentum mit dem Tragen, dass man sich immer an die religiösen Ge- und Verbote wie Kaschrut, Schabbatruhe usw. hält. Als wenig observanter Jude, der weder koscher isst noch den Schabbat einhält, wäre das ständige Tragen der Kippa für mich daher unpassend. Beim Gebet und in der Synagoge setze ich meine Kippa für die gebotene Religiosität auf. Manchmal trage ich meine Kippa auf dem Weg zur Synagoge an Feiertagen, wenn ich versuche mehr Gebote einzuhalten. Schlechte Erfahrungen habe ich persönlich damit noch nie gemacht.
Die Möglichkeit des offenen Tragens der Kippa sollte eine Selbstverständlichkeit und Teil eines bewussten jüdischen Lebens sein können. Leider gab es in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten in Deutschland zu viele Vorfälle, bei denen Kippaträger angefeindet oder sogar angegriffen wurden. Als Vorsichtsmaßnahme würde ich daher jedem, der mich fragt, ob und wo er hier eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen kann, raten, diese lieber unter einem Hut oder einer Mütze zu verstecken. Wobei die Gefahr hier in Dortmund nicht anders einzuschätzen ist als in anderen Städten. Wie anderswo gibt es hier Stadtteile, in denen ein Kippaträger – insbesondere wegen israelbezogenem Antisemitismus – aufgrund der Bevölkerungsstruktur besonders vorsichtig sein sollte.
AVIVA: Im Kontext von Antisemitismus bezeichnet "Othering" das Ausgrenzen von Jüdinnen_Juden als "Außenseiter_innen", als "nicht-dazugehörig". (Wo) sind Ihnen schon selbst – real oder im virtuellen Raum – antisemitische Klischeebilder oder Antisemitismus begegnet? Wie reagieren Sie darauf?
Alexander Sperling: In meinem persönlichen Umfeld habe ich glücklicherweise fast noch nie antisemitisch motivierte Ausgrenzung erfahren. Es kommen schon ab und zu Klischees über Juden zur Sprache, aber bisher nicht in einem bedrückenden Ausmaß, auf das ich entsprechend konfrontativ hätte reagieren müssen.
Im virtuellen Raum begegnet einem so etwas viel häufiger. In den sogenannten sozialen Netzwerken geht es sehr schnell, dass man von völlig Unbekannten Antisemitismus erlebt. Da ich jedoch ohnehin nicht besonders aktiv im Netz unterwegs bin, vermeide ich aber auch hier die Konfrontation mit Antisemiten, und beschränke mich höchstens auf eine Meldung des Vorfalls.
Was es in meinem privaten und vor allem im beruflichen Umfeld als Gemeindefunktionär deutlich häufiger gibt, ist ein übertriebener Philosemitismus. Wenn man als Jude bewundert oder gar angehimmelt wird, werden ebenfalls Klischeebilder erzeugt, die dann zwar auf positiven Intentionen beruhen mögen, aber auch Schaden anrichten können. Auch wenn es so nicht intendiert sein mag, kann sich philosemitische Bewunderung ebenfalls ausgrenzend anfühlen, weil es einfach keine Normalität bedeutet.
AVIVA: Immer wieder kursieren altbekannte antijüdische Verschwörungstheorien, wie während der Covid-19-Pandemie auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker" bzw. "QAnon". Hier sehen wir die öffentliche Bagatellisierung der Shoa, Bilder von Menschen in KZ-Häftlingskleidung oder von Anne Frank. Welche Klischees werden Ihrer Meinung nach bedient und was hat Sie an diesen Bildern am meisten geschockt, verletzt oder wütend gemacht?
Alexander Sperling: Erschreckend ist bei diesen Demonstrationen vor allem die Arglosigkeit, die die Teilnehmer gegenüber deutlichem Antisemitismus an den Tag legen. Dort werden Verschwörungsmythen und Holocaustrelativierungen verbreitet, und die Massen der Demonstranten wollen es nicht erkennen. Sie sagen, sie hätten ja nichts gegen Juden, und behaupten der Antisemitismusvorwurf sei nur ein Versuch, sie mundtot zu machen. Das Perfide dabei ist, dass die meisten wahrscheinlich wirklich glauben, keine Antisemiten zu sein, weil es ihnen einfach nicht bewusst ist. Doch der unterschwellige Antisemitismus, der nie weg war, hat hier ein neues Vehikel gefunden, mit ungeahnter Kraft auszubrechen, während – aufgrund der allgemeinen Zersplitterung – der gesellschaftliche Abwehrmechanismus dagegen nicht mehr richtig funktioniert.
Diese Demonstrationen sind ein deutliches Symptom für die Dimensionen, in denen Antisemitismus in Teilen heute wieder gesellschaftsfähig ist. Wobei dies zumindest in den Medien, in der Politik und hoffentlich auch bei der schweigenden Mehrheit als schwerwiegendes Problem erkannt und auch benannt wird. Insofern überwiegt bei mir die Hoffnung, dass mehrheitsgesellschaftlich weiterhin die grundsätzliche Ächtung von Antisemiten aufrecht erhalten bleibt, und dass auch dieser aktuelle Ausbruch von Antisemitismus wieder eingedämmt werden kann.
Zum Thema > Antisemitismus in der Schule": Im wissenschaftlichen Gutachten des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin mit der Universität Gießen von Prof. Dr. Samuel Salzborn und Dr. Alexandra Kurth aus dem Jahr 2019 wird eine unzureichende Wissensvermittlung im Lehramtsstudium und schlechte Schulbücher geringes Problembewusstsein und Engagement bei schulischen Akteur:innen und Bundesländern dokumentiert. Das Gutachten ist online unter: www.tu-berlin.de
AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Zudem kommt es unter Schüler*innen immer wieder zur Gewaltbereitschaft mit antisemitischem Hintergrund. Warum, denken Sie, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischem Denken und Gewaltbereitschaft?
Alexander Sperling: Heranwachsende werden vor allem durch ihre Umgebung beeinflusst. Gäbe es keinen Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft, wäre er auch kaum an Schulen zu finden. Die vielleicht nur unterschwellig vorhandenen Vorurteile der Eltern und Lehrer werden von Jugendlichen provokant als Zerrbild gespiegelt, wobei es manchmal auch um das Austesten von Grenzen geht. Verstärkt wird das Ganze durch die Gruppendynamik in der Jugend. Für jüdische Schüler, die es an den meisten Schulen höchstens vereinzelt gibt, bringt eine solche Lage manchmal schweren Kummer.
Antisemitismus kann sich aber an Schulen, wie überall, auch ohne anwesende Juden fast völlig gegenstandslos verbreiten. Dabei ließe sich auch abstrakter Antisemitismus bei Jugendlichen und Kindern, die wahrscheinlich nie einen Juden getroffen haben und nichts über Judentum wissen, mit entsprechender Bildung und etwas Empathie von vorneherein verhindern.
Für meine eigenen Kinder wünsche ich mir, dass sie sich in ihrer Schulzeit nie mit irgendeiner Form des Antisemitismus auseinandersetzen müssen. Sie sollen, so wie ich früher, frei und natürlich mit ihrer Jüdischkeit umgehen können, auch im schulischen Alltag. Bisher klappt das gut an einer relativ behüteten öffentlichen Grundschule, auch wenn es dort sonst kaum Juden gibt. Manch jüdische Eltern wollen an der Schule das Judentum ihrer Kinder, um sie zu behüten, am liebsten verheimlichen, was für mich aber der völlig falsche Ansatz wäre.
AVIVA: Was kann und sollte dem entgegengesetzt werden? Welchen Auftrag sehen Sie in der Arbeit der Schulen, der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo sehen Sie mehr Bedarf?
Alexander Sperling: Viele Lehrer und Erzieher erkennen Antisemitismus kaum, oder wissen dann einfach nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Sie sind einfach nicht adäquat auf den Umgang mit antisemitischen Vorfällen vorbereitet. Es gibt zwar vermehrt entsprechende Schulungen oder auch virtuelle Methoden wie bei "Malmad.de", aber diese Angebote werden noch viel zu selten genutzt.
Weitere richtige Schritte werden bereits unternommen, z.B. durch die neue gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen der Kultusministerkonferenz und des Zentralrates der Juden. Doch es fehlt in einigen Bildungsinstitutionen noch der Wille und die Kapazität, um antisemitischen Tendenzen wirklich entgegenzutreten, und manchmal überwiegt auch die Angst vor einer Stigmatisierung, wenn dort Antisemitismus thematisiert werden soll.
Es hapert im Bildungswesen leider an vielem, wobei sich Antisemitismus bei Schülern nur durch reine Bildung allein leider auch kaum verhindern lässt. Auch das Wecken von Empathie und Verständnis ist hier dringend notwendig. Wirkungsvoll wäre dafür vor allem die persönliche Begegnung. Leider können wir Juden rein zahlenmäßig kaum ausreichend und flächendeckend Begegnungsprojekte anbieten; auch wenn es inzwischen vielversprechende Ansätze wie bei "Meet a Jew" gibt.
Ein anderes vielgepriesenes Mittel ist auch der Besuch von KZ-Gedenkstätten. Das dort entstehende emphatische Mitleid, kann antisemitische Exzesse wahrscheinlich eindämmen, führt aber leider auch wieder zu einer ausgrenzenden Rolle von Juden nur als Opfer der Schoah. Ich halte es zumindest für fraglich, ob allein mit dem Schoahgedenken auch indirekter Antisemitismus nachhaltig reduziert wird.
Eine erfolgversprechendere, wenn auch teure, Alternative hierfür wären flächendeckende Austauschprogramme und Reisen nach Israel. Dort lassen sich z.B. das Gedenken an die Schoah in Yad Vaschem und die Begegnung mit lebendigem, jungem und schönem Judentum im israelischen Alltag miteinander verbinden. Und gegen israelbezogenen Antisemitismus wird man dabei fast automatisch geimpft. Ich denke, dass jeder deutsche Schüler einmal in Israel gewesen sein sollte… und nicht nur in einer KZ-Gedenkstätte, wie es oft gefordert wird.
AVIVA: Wie haben Sie in Ihrer Schulzeit die Wissensvermittlung von Judentum erlebt?
Alexander Sperling: Im meinem Unterricht spielte früher das Judentum eigentlich nur in Bezug auf die deutsche Geschichte und die Schoah eine Rolle. Im Lehrplan kam positives und aktuelles jüdisches Leben damals so gut wie gar nicht vor, und das ist wohl bis heute größtenteils immer noch so. In meiner Klasse konnte ich als Jude etwas darüber vermitteln, aber sonst wäre es eindeutig zu kurz gekommen.
Als ich vor über zwanzig Jahren zur Schule gegangen bin, war das Problem mit offenem Antisemitismus aber auch noch lange nicht so virulent, wie heute. Es mag antisemitische Vorurteile und Ressentiments gegeben haben, aber sie wurden kaum freimütig geäußert. Seitdem wurde es an Schulen versäumt, mehr gegen antisemitische Tendenzen zu tun.
Inzwischen gibt es aber gute Ansätze, diesen Zustand zu verbessern und die Unterrichtsinhalte in verschiedenen Fächern anzupassen. So führen aktuell z.B. der Zentralrat und der Verband Bildungsmedien ein gemeinsames Projekt für Schulbuch-Verlage durch, bei dem Schulbücher in den Fächern Religion und Ethik in Hinsicht auf die Darstellung des Judentums entsprechend überarbeitet werden.
AVIVA: Sie haben sich viele Jahre als Madrich engagiert (im Jugendzentrum Emuna der Jüdischen Gemeinde Dortmund und im Jugendzentrum Olam der Jüdischen Gemeinde Berlin, sowie auf insgesamt elf Machanot der ZWST). Was war Ihr Motor für dieses Engagement? (Inwieweit) konnten Sie jüdische Jugendliche gegen Antisemitismus empowern? > alternativ: War, neben der Vermittlung von jüdischer Kultur und Tradition und sozialen Kompetenzen auch Empowerment gegen Antisemitismus Thema/Teil der gemeinsamen Arbeit auf den Machanot?
Alexander Sperling: Vor allem hat mir die jüdische Jugendarbeit einfach Freude bereitet. Bevor ich Madrich wurde, war ich erst viele Jahre Chanich im Jugendzentrum und auf insgesamt 22 Machanot. Das hat mich in meinem jüdischen Selbstverständnis stark geprägt. Dazu gehörte dann meine eigenen Erfahrungen mit dieser positiven jüdischen Prägung auch an Jüngere weiterzugeben; ganz nach dem urjüdischen Motto: Le´Dor Va´Dor - von Generation zu Generation.
Als jugendlicher Madrich, der nur wenige Jahre älter ist als seine Chanichim, ist man eine Identifikationsfigur mit einer besonderen Wirkung. Anders als richtige Erwachsene aus der Eltern- oder Lehrergeneration kommt man extrem nah dran an der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen. Für die kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland wirkt diese altersübergreifende Verbundenheit bei unserer Jugendarbeit besonders identitätsstiftend. Die gemeinschaftliche Erfahrung von freudigem Judentum hilft zur Stärkung der etwas fragilen jüdischen Identität von Heranwachsenden, die im Alltag in einem eher nichtjüdischen Umfeld leben.
Auf einem Machane und in einem jüdischen Jugendzentrum erhalten junge Juden also auf jeden Fall eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein. Hoffentlich genug, um später auch mit antisemitischen Anfeindungen umgehen zu können.
Als ich Madrich war, hatte das was man heutzutage Empowerment nennt, allerdings wenig mit meinen Intentionen zu tun. Der Zweck meines Engagements wurde nie durch Anfeindungen von außen bestimmt. Es ging mir einfach nur darum Jüdischkeit, Zusammengehörigkeit und Spaß weiterzugeben. In meinem damaligen Bewusstsein hatte Antisemitismus nichts damit zu tun, und die Antisemiten können mir im Prinzip auch heute noch den Buckel runterrutschen… . Als Gemeindefunktionär ist mir inzwischen natürlich bewusst, dass das wichtige Empowern unserer jüdischen Jugendlichen, nicht nur einem Selbstzweck, sondern auch unserer jüdischen Resilienz gegen Hass dient.
Alexander "Sascha" Sperling, Jahrgang 1980, ist in Dortmund aufgewachsen, wo er die Berswordt-Grundschule und das Käthe-Kollwitz-Gymnasium besucht hat. Nach dem Abitur absolvierte er ein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat sich seit seiner Jugend vielfach für die jüdische Gemeinschaft engagiert: als Madrich, in Studierendenverbänden und mit unterschiedlichen ehrenamtlichen Initiativen.
Heute ist Alexander Sperling Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe K.d.ö.R.. Zuvor war er in gleicher Funktion schon bei der Synagogen-Gemeinde Köln und der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund tätig. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Mehr Infos zum Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe K.d.Ö.R.: www.zentralratderjuden.de/vor-ort/landesverbaende
Dortmund setzt ein Zeichen gegen Antisemitismus
Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter: Auch in Dortmund zeigt die Bilanz antisemitischer Straftaten einen eklatanten Anstieg. Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen belegen für 2018 einen Zuwachs um 19,6%. Für das Jahr 2019 wurden 310 antisemitische Straftaten erfasst, davon sind 290 Straftaten der politisch motivierten Kriminalität rechts zuzuordnen.
Die Publizistin und Fotografin Sharon Adler und die Künstlerin Shlomit Lehavi erfragen mit diesem Projekt die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden abseits der Statistiken und bilden deren Perspektiven und Strategien ab. Durchgeführt wird das Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" von AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie und in Kooperation mit der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, und der Amadeu Antonio Stiftung.
Das AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" im Jahr 2021. Hintergrundinfos
Eingeladen, am AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" teilzunehmen waren jüdische Menschen aller Generationen und Herkunft, die in Dortmund leben und/oder aktiv sind. Menschen, die sich beruflich gegen Antisemitismus positionieren ebenso wie Menschen, die von ihren persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland erzählen möchten. Die dazu beitragen wollen, dass diese Erfahrungen von Alltagsantisemitismus auch nicht-jüdischen Menschen bewusst werden. Menschen, die mit ihrem eigenen Statement ein sichtbares Anti-Antisemitismus-Zeichen schaffen wollen.
Eine Teilnahme war bis zum 17. Juli 2021 möglich.
Das Demo-Plakat
Die Teilnehmer:innen konnten zwischen vier verschiedenen Signets für "ihr" Demo-Plakat wählen.
Die Ausstellung in Dortmund
Anlässlich des bundesweiten Jubiläumsjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" sollen die gerahmten Fotos der Teilnehmenden mit Zitaten aus den Interviews sowie mit den Original Demo-Schildern mit Statements der Teilnehmenden vom 31.10.21 - 04.12.21 in einer Ausstellung in der Berswordt-Halle in Dortmund präsentiert werden.
Geplant ist eine Ausstellungseröffnung am 31.10.2021 sowie eine Abschlussveranstaltung Ende 2021 und eine Podiumsdiskussion mit Teilnehmenden und Repräsentant*innen der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.
Wer Interesse hat, über das Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! zu berichten, kann mit Sharon Adler Kontakt aufnehmen:
Per eMail unter: dortmund@aviva-berlin.de oder telefonisch unter: 030 - 691 85 03 oder 030 - 698 16 752.
Weitere, detailliertere Informationen sind online unter:
www.dortmund.de
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