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Beitrag vom 25.06.2020
AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT: Sharon
Sharon Adler, Sharon Ryba-Kahn
"Du Jude", Hassmails, Rechte Hetze im Rap oder faschistoide Verschwörungsideologien in der Corona-Pandemie. Das Attentat in Halle. Um die Gedanken und Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen jüdischer Menschen zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Sharon Adler ihr neues Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Eine der Teilnehmer*innen ist die Dokumentarfilmregisseurin Sharon Ryba-Kahn ("Recognition", "Displaced", "Liebe bis 120"). Ihr Slogan lautet: JETZT ERST RECHT! - "Antisemitism and Racism – enough already!"
AVIVA: Thema Antisemitismus in Deutschland heute: Der am 06.05.2020 veröffentlichte Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. dokumentiert 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern. Antisemitismus kommt in unterschiedlichsten Formen und in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Kannst Du in dem aktuellen Kontext bitte einmal genauer erläutern, was Du mit Deinem Statement "Antisemitism and Racism – enough already!" auf unserem Demo-Plakat meinst, und welche Message Du damit transportieren willst?
Sharon Ryba-Kahn: Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass sie antisemitische und rassistische Kommentare abgeben. Alle antisemitischen Bemerkungen, die ich selbst am eigenen Leib erfahren musste, sind zum Beispiel nicht in der von dir genannten dokumentierten Zahl inbegriffen - und damit bin ich sicherlich nicht alleine! Wann ist ein Kommentar antisemitisch und rassistisch und warum? Meiner Erfahrung nach sind sich die wenigsten Menschen im Klaren darüber, wie häufig sie sich eigentlich antisemitisch und rassistisch äußern. Die Veränderung kann und muss im privaten, aber auch im öffentlichen Raum passieren und das setzt Bildung voraus.
AVIVA: Synagogen, Schulen und jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer 27-jähriger Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt und am 4. Oktober desselben Jahres versuchte ein Mann in Berlin, mit einem Messer in die Synagoge in der Oranienburger Straße einzudringen…
Wie sicher fühlst Du Dich in Deutschland?
Sharon Ryba-Kahn: Man sieht mir nicht an, dass ich Jüdin bin. Man sieht mir nur an, dass ich keine Deutsche bin. In Deutschland werde ich oft als "südländischer Typ" eingestuft, d.h. meistens werde ich für eine südeuropäische Ausländerin gehalten. Das alleine zeigt bereits, wie tief Rassismus in der Gesellschaft verankert ist, in der wir leben. Damit will ich sagen, dass ich den alltäglichen Rassismus gewohnt bin und ihn auch nicht unbedingt als gefährlich empfinde. Allerdings habe ich Angst um all diejenigen, die wirklich gefährdet sind. Damit meine ich alle Menschen, denen man ansieht, was sie sind und die das auch zeigen. Allein diesen Satz auszusprechen, fühlt sich schrecklich an, aber ich glaube wirklich, dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht - Halle und Hanau haben das auch bewiesen!
AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Es bleibt nicht bei verbalen Attacken, sondern kommt immer wieder zur Gewaltbereitschaft durch Schüler*innen.
Du hast Deine ersten Lebensjahre in Deutschland, in München, verbracht und hast danach in Israel, später in den USA gelebt. Heute lebst und arbeitest Du in Berlin. Dadurch kannst du einen direkten Vergleich anstellen.
Hast Du selbst eine solche Stimmung oder Vorfall schon einmal, zum Beispiel in Deiner Schulzeit, an der Universität, real bzw. im öffentlichen oder im virtuellen Raum, miterleben müssen?
Sharon Ryba-Kahn: Ich habe meine erste antisemitische Erfahrung im Alter von acht Jahren gemacht. Einer meiner Mitschüler in meiner Grundschule in München teilte mir mit, dass er mit mir nicht reden möchte, weil ich Jüdin sei. Seitdem habe ich etliche antisemitische Situationen durchlebt... überall, außer in New York. Allerdings würde ich behaupten, dass der Antisemitismus, dem ich ausgesetzt wurde bisher, latenter war als sich den Begriff "Jude" als Schimpfwort dulden zu müssen. Das wiederum ist mir zum ersten Mal in Deutschland 2007 in einer U-Bahn mit Kindern passiert.
AVIVA: Antisemitismus hat eine lange "Tradition", und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Auf YouTube und sozialen Netzwerken, aber auch im öffentlichen Raum wird offen gegen Jüdinnen und Juden gehetzt. Welche Klischeebilder werden bedient, wo bist Du selbst schon welchen begegnet?
Sharon Ryba-Kahn: Das Bild, dass wir Juden alle reich sind und Macht hätten, kurz gesagt: die jüdische Lobby! Wenn ich über die Tatsache nachdenke, dass ich erst erklären muss, dass es auch arme jüdische Menschen gibt oder Schoah-Überlebende, die an der Armutsgrenze leben, bringt mich das zum Verzweifeln. Ich frage mich immer wieder, wie wir es schaffen können, diese falschen Vorstellungen endlich zu dekonstruieren. Sie werden permanent bedient und wie ich bereit eingangs erwähnt habe, sind sich die meisten Menschen gar nicht darüber bewusst, dass sie antisemitische oder rassistische Kommentare abgeben. Diese Bilder und Ideen sind so tief in der deutschen Kultur und Sprache verwurzelt. Aber nicht nur in Deutschland, auch in ganz Europa und darüber hinaus. Es braucht viel Arbeit und Mühe, um diese tief verankerten Bilder aufzulösen. In Deutschland muss zum Beispiel auch deutlich gemacht werden, dass "Deutschsein" eben nicht bedeutet, wie ein "Arier" auszusehen. Dieses neue Bild müssen Kinder komplett neu lernen - und damit das passiert, muss viel getan werden!
AVIVA: Warum, denkst Du, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischem Denken und Gewaltbereitschaft?
Sharon Ryba-Kahn: Kinder und Jugendliche sind - so lange sie zu Hause sind - ein Produkt ihrer Familien, ihrer sozialen Kontakte und ihrer schulischen Laufbahn. Wenn die Familien und Bildungseinrichtungen keine tiefgründige und empathische Erziehung bieten können, dann ist es wohl kaum verwunderlich, dass die sie einfach das wiederholen, was ihre Eltern von sich geben.
AVIVA: Welche Maßnahmen in der Jugend- oder Erwachsenenbildung wären Deiner Meinung nach wichtig für eine wirksame Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und in der Vermittlung der Shoah? Welchen Auftrag siehst Du in der Arbeit der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?
Sharon Ryba-Kahn: Lehrer*innen sollten besser ausgebildet und auch besser bezahlt werden. Sie sollten aber auch unter Supervision stehen und zwar von Menschen bzw. Experten, die sich genau mit diesen Themen auskennen. Außerdem sollten alle Lehrbücher regelmäßig aktualisiert werden. Ich bin und bleibe der Meinung, dass Bildung und Bildungschancen der einzige und richtige Weg ist!
AVIVA: Antisemitische Verschwörungsmythen kursieren immer wieder, aktuell während der Covid-19-Pandemie. Auf einer der sogenannten "Hygiene"-Demos wurde das Holocaust-Opfer Anne Frank, oder u.a. auch der "Gelbe Stern", den Jüd_innen von den Nazis gezwungen waren zu tragen, instrumentalisiert und verhöhnt.
Was hat genervt, geschockt, oder verletzt Dich persönlich am meisten?
Sharon Ryba-Kahn: Es überrascht mich immer wieder, wie sehr Menschen nach einem Schuldigen suchen, um die Verantwortung nicht selbst tragen zu müssen. Wie wenig Verständnis und Respekt manche Menschen haben, schockiert mich schlichtweg. Alle genannten Beispiele sind einfach nur furchtbar!
AVIVA: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte bereits vor einigen Monaten gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel", die Pandemie würde ein Klima allgemeiner Verunsicherung schaffen, was einzelnen Personengruppen einen idealen Nährboden für Rechte Hetze liefern würde: ("Es überrascht leider nicht, dass Juden und Israel Hauptziele sind."). Er forderte härtere Strafen für antisemitische Taten und eine neue Strategie gegen Judenfeindlichkeit. Was wären Deine Strategien gegen Antisemitismus, was Deine Empfehlungen an Politik und Zivilgesellschaft?
Sharon Ryba-Kahn: Es braucht eine ehrliche Form von Empathie, Sensibilität und Verständnis, aber auch Pädagogik, um eine Bildung in dieser Richtung voranzutreiben. Das richtige Personal muss für diese Arbeit ausgewählt werden, d.h. Menschen, die eben mehr als nur das reine Fachwissen mitbringen. Wenn eine antisemitische oder rassistische Straftat passiert ist, dann ist es schon zu spät. Wichtig ist dann, Folgestraftaten zu vermeiden. Härtere Strafen führen zu mehr Angst vor der kriminellen Tat, sie beheben das Problem des Antisemitismus und Rassismus aber nicht.
AVIVA: Als Dokumentarfilmerin bildest Du ab, wie es sich anfühlt, als Angehörige der Dritten Generation von Shoah-Überlebenden in Deutschland zu leben, Deine Arbeiten zeigen jüdische Realitäten, die oft unbequem für die (nichtjüdischen deutschen) Zuschauer*innen sind. Zuletzt hast Du die Doku "Displaced" realisiert, der seine Weltpremiere im deutschen Wettbewerb der Online-Ausgabe des DOK.fest München am 7. Mai feierte. Worum geht es um den Film und was war der Hauptantrieb, diesen Film zu drehen?
Sharon Ryba-Kahn: Ich wollte zeigen und beschreiben, wie es sich anfühlt, zu der 3. Generation von Überlebenden in Deutschland zu gehören. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass es zwei Diskurse in meinem Umfeld gab: Mit jüdischen Menschen sprach man auf eine und mit nicht-jüdischen Menschen auf eine andere Art und Weise. Dieses Tabu wollte ich brechen!
AVIVA: Mit "Displaced" stellst Du Fragen nach dem Umgang mit der NS-Vergangenheit an Dein nicht-jüdisches Umfeld. Welche Adressat*innen hattest Du beim Script, beim Dreh, in der Produktion vor Augen und was möchtest Du vor allem bei Deinem nicht-jüdischen deutschen Publikum bewirken?
Sharon Ryba-Kahn: Ich wünsche mir, dass vor allem nicht-jüdische Deutsche mit Großeltern aus Deutschland sehen, dass die Schoah sie direkt betrifft und etwas mit ihren Familien und auch mit ihnen gemacht hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Gewalterfahrung egal in welchem Land tiefgreifende Konsequenzen für eine Gesellschaft hat und meiner Meinung nach, gibt es nur einen einzigen Weg: Man muss Dialoge, Bildung und ein sicheres Lebensumfeld auf Basis von Respekt und Akzeptanz für alle Menschen schaffen!
AVIVA: Wo hast Du in der Vergangenheit bei offenem oder verstecktem Antisemitismus Unterstützung vermisst, wo wünschst Du Dir mehr Unterstützung, Support, Empathie, Solidarität in der Zukunft? (von Seiten der Zivilgesellschaft, im nicht-jüdischen Freund_innenkreis, etc.)?
Sharon Ryba-Kahn: Ich wünsche mir, dass die Menschen lernen, ihren eigenen Antisemitismus und Rassismus zu erkennen, um ihn dann auch entsprechend verhindern zu können, wenn es dazu kommen sollte.
Ãœber Sharon Ryba-Kahn
Die franko-israelische Regisseurin Sharon Ryba-Kahn wurde 1983 in München geboren und verbrachte dort ihre ersten 14 Lebensjahre. 1997 wurde ihre Mutter Nahost-Korrespondentin eines deutschen Nachrichtenmagazins und die Familie zog nach Jerusalem. Vier Jahre später schloss Sharon Ryba-Kahn das Lycée Français de Jerusalem mit dem Abitur ab, ging nach Paris und studierte dort Schauspiel. Anschließend setzte sie dieses Studium in New York am Schauspielkonservatorium New Actors Workshop unter der Leitung von Mike Nichols (1931-2014) fort. Nach einigen Jahren als Theaterschauspielerin und -regisseurin beschloss sie, Filmproduktion an der New York Film Academy als zusätzliche Qualifikation zu studieren. 2007 schloss Sharon dieses Studium erfolgreich ab, zog nach Berlin und arbeitete dort als Casting Direktorin, Regieassistentin und Sprecherin. Nach ihrem Bachelor in American Studies und Spanisch an der Humboldt Universität (2009-2011) studierte sie nahtlos weiter und absolvierte einen Master in Visuelle Anthropologie an der FU Berlin. Ihr Regiedebüt feierte sie 2015 mit "Recognition"* (86 Min.). Der Film handelt vom israelisch-palästinensischen Konflikt und wird aus der Perspektive von drei sehr unterschiedlichen Frauen erzählt. Ihr Erstlingswerk lief auf über 15 internationalen Filmfestivals und wurde 2016 als Best Debut Feature Documentary beim Cyprus Film Festival ausgezeichnet. Angespornt von diesem Erfolg begann Sharon noch im selben Jahr ein Studium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf im Lehrgang Dokumentarfilmregie. Seit Beginn ihres Masterstudiums hat sie bereits drei Kurzfilme gedreht. Ihr Abschlussfilm "Displaced" an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf wurde vom ZDF/Das kleine Fernsehspiel und Medienboard Berlin Brandenburg gefördert und feierte im Mai 2020 seine Weltpremiere auf dem DOK.fest München. Produktionsfirma ist TONDOWSKI FILMS. Der Film wurde außerdem als eins von zwei Werken ausgewählt, die im NS Dokumentationszentrum in München gezeigt werden soll. Zwischen 2016 und 2017 war Sharon Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Stiftungswerks (ELES), ein Begabtenförderungswerk. Parallel dazu arbeitet sie an einem zweiten Langfilm mit dem Titel "Liebe bis 120", eine israelisch-deutsche Koproduktion, die von der Stiftung ZURÜCKGEBEN gefördert wurde.
Mehr Infos zu Sharon Ryba-Kahn und ihren Filmen unter: www.sharonryba-kahn.therefractedcolor.com und www.facebook.com/DisplacedDocumentary
JETZT ERST RECHT!
Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler ihr neues Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.
Mitmachen
Wenn Du auch Interesse hast, an dem Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! teilzunehmen, kannst Du Dich per eMail mit Sharon Adler unter sharon@aviva-berlin.de in Verbindung setzen. Bitte sende in dieser eMail Deine Motivation und einige biographische Informationen.
Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.
Copyright: Gestaltet wurde das Signet JETZT ERST RECHT! von der in Israel geborenen Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin.
Copyright Foto von Sharon Ryba-Kahn: Sharon Ryba-Kahn