Ángel de la Calle - Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 27.10.2011


Ángel de la Calle - Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts
Lisa Scheibner

Tina Modottis Leben als Graphic Novel offenbart ihre vielschichtige Biografie als Fotografin, Schauspielerin, und überzeugte Kommunistin, die schließlich die eigene Kunst der Revolution opfert. Ein...




... wilder Ritt durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts voller komplexer Zusammenhänge und ungelöster Rätsel.

Ein Mord auf offener Straße in Mexiko-Stadt, der nie völlig aufgeklärt wird. Weiß Tina Modotti, Fotografin, kommunistische Aktivistin und Geliebte des Ermordeten, mehr darüber als sie zugibt?

Ángel de la Calle ist selbst eine Figur in seiner eigenen Graphic Novel. Fasziniert von Tina Modottis spannender Biografie versucht er mit Hilfe seines Freundes und Mentors, dem Schriftsteller Taibo, den mysteriösen Geschichten zwischen Mexiko, New York, Moskau und Berlin auf die Spur zu kommen. Dabei stößt er auf immer neue Details und nach und nach offenbaren sich ihm, und zugleich der Leserin, die Verknüpfungen eines komplizierten Lebenslaufs.

Von der Emigrantin zur gefeierten Fotografin

Tina Modotti, geboren in einer sozialistischen Arbeiterfamilie in Udine, Italien, folgt mit 16 Jahren Vater und Schwester nach Amerika. Wenig später spielt sie in mehreren Stummfilmen in Hollywood und lebt mit dem Maler Roubaix De L´Abrie zusammen, dessen Ausstellung in Mexiko-Stadt sie nach seinem frühen Tod fertig stellt. Ihre nächste Liebe, der Fotograf Edward Weston, verändert ihr Leben nachhaltig: Sie wird seine Schülerin, Muse und Geliebte und reist mit ihm von Los Angeles nach Mexiko, wo sie gemeinsam an fotografischen Projekten arbeiten. Modotti macht Weston mit Diego Rivera bekannt, dem sie später Modell für seine Gemälde steht. Auch mit ihm wird sie ein Verhältnis haben, noch bevor dieser seine zweite Frau Frida Kahlo trifft, einigen Quellen zufolge auf einer Party bei Modotti. Modotti ist aktiv in der politischen Kunstszene, trennt sich schließlich von Weston und wird selbst eine bekannte Fotografin.

Im Nebenstrang seiner Story, der Spurensuche des Comiczeichners, erzählt de la Calle auch die Geschichte von Modottis Fotografien, die später auf geheimen Wegen ins Museum of Modern Art in New York gelangen. Immer wieder zeichnet er bekannte Aufnahmen Modottis und andere historisch wichtige Kunstwerke nach, wie etwa Picassos "Guernica", und fügt diese wie eigenständige Kommentare in die Handlung ein. Auch Briefe Modottis, andere Biografien über sie, sowie ausgewählte Textstellen und Gedichte von Zeitgenossen wie Ezra Pound, Vladimir Majakowski und César Vallejo werden zum Material für de la Calles Modotti-Mosaik und füllen die Lücken, wo sich das Leben der Künstlerin und Aktivistin im Dunkel verliert.

Auf den Spuren einer kommunistischen Spionin

Wir erfahren, wie Modotti für die Internationale Rote Hilfe in Mexiko arbeitet und zahlreiche Affairen mit Revolutionären hat. Ausgelöst durch den ungeklärten Mord an dem Kubaner Julio Antonio Mella beginnt eine Hetzkampagne der Presse gegen seine Geliebte Modotti, Zeugin des Attentats. Sie gerät in Untersuchungshaft und wird wenig später aus Mexiko ausgewiesen. Eine Odyssee führt sie nach Berlin, wo sie sich mit der Fotografin Lotte Jacobi anfreundet, und nach Moskau, an ihrer Seite der zwielichtige kommunistische Agent Vittorio Vidali. Modotti trifft eine folgenschwere Entscheidung: Sie opfert die Fotografie ihrem politischen Engagement und arbeitet im Untergrund als Geheimagentin für die Komintern in Paris, bevor sie gemeinsam mit Vidali nach Madrid geht, um im Kampf gegen den vorrückenden Faschismus in Spanien zu helfen. Als Franco mit Hilfe Hitlers und Mussolinis siegt, gerät sie über Umwege wieder nach Mexiko, wo sie 1942 mit nur 46 Jahren unter ungeklärten Umständen stirbt.

Ángel de la Calle, begeistert von den Geheimnissen um Modottis Leben, versucht Zusammenhänge herzustellen, indem er seine eigene Suche nach der Wahrheit dokumentiert. Die Handlung ist vielschichtig, de la Calle erzählt nicht chronologisch, sondern lässt sich von neuen Erkenntnissen oder Orten, an denen er Modotti nachspürt, inspirieren und ergänzt so die Geschichte Stück für Stück.
Er thematisiert Leerstellen und Unstimmigkeiten in Vielem, was über Modotti bekannt ist und erlaubt sich eigene Vermutungen und Fantasien, die er als Held des B-Plots mit seinem Freund Taibo diskutiert.

"Eine Handvoll Nebel"

Die Zeichnungen sind rau, eher distanziert, passend zu dem Pablo Neruda-Zitat, das de la Calle ans Ende seiner Geschichte stellt. Dieser beschreibt die Erinnerung an Modotti als schwierig: "Als würde es darum gehen, eine Handvoll Nebel einzusammeln. So zerbrechlich, fast unsichtbar. Kannte ich sie oder kannte ich sie nicht?"

Es ist nicht leicht, den Charakteren im Comic nahe zu kommen, die Knopfnasen, die de la Calle seinen Figuren gibt, lassen ein wenig von deren Persönlichkeit vermissen. Das ist schade, denn die auratische Kraft und erotische Ausstrahlung der Tina Modotti, die den jungen Comiczeichner so bewegt, wird in seinen Zeichnungen nicht wirklich spürbar. Den Erfolg der von Sympathie gezeichneten Spurensuche im Fall Modotti schmälert dies jedoch nicht.

AVIVA-Tipp: Ángel de la Calle gelingt mit "Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts" eine hochkomplexe Biografie, dessen akribische Recherche durch die Reflektionen des Zeichners und seine eigenen Fantasien umso lebendiger wird. Der politisch aktive Comiczeichner spürt fasziniert dem von Geheimnissen durchzogenen Lebensweg der kommunistischen Fotografin nach. Künstlerische und literarische Zitate von ZeitgenossInnen Modottis bereichern die in reduzierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzählte Geschichte. Tina Modottis Freundschaften mit Frida Kahlo und Anna Sehgers werden leider nur am Rande erwähnt.

Zum Autor: Ángel de la Calle, Jahrgang 1958, ist Illustrator, Comiczeichner und Grafikdesigner und lebt in Gijón, Spanien. Seit 20 Jahren ist er Organisator des Krimifestivals "Semana Negra" in Gijón, für dessen Comicsparte er verantwortlich ist, Mitherausgeber der Zeitschrift "Dentro de la Viñeta" und langjähriger Leiter der Internationalen Comic-Tage von Avilés. "Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts" ist sein bisher ambitioniertestes Werk, seit 2003 erschien es in Italien, Brasilien, Portugal, Frankreich und Deutschland und erhielt mehrfache Auszeichnungen. Zurzeit arbeitet er an dem Comic "Flores del Mal" ("Blumen des Bösen"), einem historischen Abriss über revolutionäre lateinamerikanische MalerInnen im europäischen Exil in den 1960er und -70er Jahren, der voraussichtlich 2013 erscheint.
(Quelle: Webseite des Literaturfestivals)

Ángel de la Calle
Modotti - Eine Frau des 20. Jahrhunderts

(Originaltitel: "Modotti. Una mujer del siglo XX")
Übersetzt aus dem Spanischen von Timo Berger
Rotbuch Verlag, erschienen im August 2011
Broschiert, 272 Seiten
ISBN 978-3-86789-137-0
16,95 Euro
Extras: Glossar, Entwürfe und zwei Vorworte von Paco Taibo II.
www.rotbuch.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Ein biografischer Beitrag zu der Fotografin Lotte Jacobi, in dem ihre Freundin Tina Modotti erwähnt wird.

Weitere Informationen finden :

Eine vollständige Biografie Modottis finden Sie auf FemBio Frauenbiografieforschung

Modotti als Stummfilmdarstellerin in "The Tiger´s Coat" (1920)

Modotti und Weston in Mexiko: interaktives Feature (in englischer Sprache)


Literatur

Beitrag vom 27.10.2011

AVIVA-Redaktion