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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.11.2011


Zora del Buono - Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West
Lisa Scheibner

Was ist wirklich amerikanisch? Die Journalistin Zora macht sich samt Hund Lino auf den Weg entlang der Atlantikküste Amerikas. Von Neufundland bis Florida bieten sich ihr reichlich Gelegenheiten...




... zu hinterfragen, wie sich das Selbstverständnis der heutigen BewohnerInnen der USA und Kanadas zusammensetzt. Welche Rolle spielt der American Dream im 21sten Jahrhundert? Wie viel Einfluss hat die Geschichte der Einwanderung noch immer, von SiedlerInnen auf der Suche nach Freiheit über Menschenraub und Sklaverei bis hin zur illegalen Migration? Eine Europäerin berichtet aus Übersee.

Nicht in achtzig Tagen um die Welt, sondern in hundert Tagen die amerikanische Atlantikküste entlang! Zora, die Ich-Erzählerin, ist mit ihrem kleinen Hund unterwegs, was in einem Land der Hygienehysterie oft zu Komplikationen führt. Lino, der wie ein winziges Reh aussieht, knüpft die meisten Kontakte für seine menschliche Begleiterin, während diese versucht, in einem Längsschnitt durch den Kontinent die Pluralität Amerikas zu ergründen. Zwei Nationen (Kanada und die USA), die für Viele noch immer den Traum von Freiheit verkörpern, ein gelobtes Land, das vor Verfolgung schützt und den Neuanfang ermöglicht.

"Die Unkompliziertheit Nordamerikas hat deutliche Vorzüge. (...) How are you doing, dear? Amazing day, isn`t it?"

Die Reise beginnt in L`Anse aux Meadows in Kanada, wo die WikingerInnen (mindestens eine Frau soll dabei gewesen sein) vermutlich um das Jahr 1000 das erste Mal versuchten, Amerika zu besiedeln, und endet in Key West in Florida, einem Paradies für wilde Hühner und andere Freigeister.

Im angenehmen Stil eines Reiseberichtes mit vielen kleinen Seitenblicken erzählt del Buono von den Spuren der Sklaverei, die besonders im Süden noch immer die Atmosphäre bestimmen, von den vielfältigen Hoffnungen der europäischen SiedlerInnen, die noch heute geehrt werden und von modernen NomadInnen im Trailerpark.
Vor allem aber erzählt sie von Menschen, die sie unterwegs trifft. Da sind unter anderem ein Odin-Fan mit Flugangst, ein Grenzbeamter, dem eine Rolle in einem US-Nazifilm hervorragend stehen würde, ein Frauenpaar im reiferen Alter, das sich beim ersten Date mit Daiquiris zuschüttet, der Korbflechter Tyron, den Existenzsorgen plagen, eine jüdische Psychoanalytikerin, die zwei Konzentrationslager der Nazis überlebt hat, ein freundliches Missionarspaar, viele viele HundebesitzerInnen und eine geliftete Golden-Girls-Runde, die es nicht aufgibt, an das Glück zu glauben.

Amerika ist ein Land, das sich rühmt, allen die gleichen Chancen auf ein gutes Leben einzuräumen. Aber gilt jene Freiheit, sich immer neu zu erfinden, denn wirklich für jede/n? "You have to feel honoured to visit our country. So don`t lie to us", wird Zora in Maine von dem Grenzbeamten angeherrscht. Sie fragt sich: Sind auch jene stolz auf ihr Land, die nicht auf der GewinnerInnenseite gelandet sind?

Während Zora auf der Suche nach dem essentiell Amerikanischen ist, findet sie immer mehr heraus über das, was das Europäisch-Sein ausmacht.

"Manchmal scheint es, als seien sie immer noch Pioniere, Wandernde auf der Suche nach dem Neuen (...). Amerika – ein einziges großes Provisorium, jederzeit zum Abriss und Aufbruch bereit."

Wie schon bei "Big Sue" lässt del Buono Geschichte lebendig werden, indem sie ihre Erlebnisse an historisch bedeutsamen Orten eng verknüpft mit fokussierter Recherche zu deren lokalen Vergangenheiten.
Die Leserin erhält neben dem kurzweiligen Reisebericht und del Buonos Miniatur-Portraits von unterschiedlichsten Bekanntschaften zahlreiche Informationen über das Land und seine (unbegrenzten?) Möglichkeiten. In Fußnoten werden historische Begriffe wie die Doktrin "separate but equal", der "Elch" und seine Bedeutung für Neufundland oder die Biografie der einflussreichen Biologin "Rachel Carson" vorgestellt.
Auf der Landkarte, die dem Reisetagebuch vorangestellt ist, kann die Leserin alle Stationen des Roadtrips nachvollziehen.

Zur Autorin: Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, aufgewachsen in der Schweiz und Süditalien, lebt seit 1987 in Berlin und Zürich. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich und der HdK Berlin, vier Jahren Arbeit als Architektin und Bauleiterin und dem Aufbaustudium "Filmarchitektur" entschied sie sich für einen radikalen Berufswechsel und begann zu schreiben. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare, war dort von 2001-2008 stellvertretende Chefredakteurin und betreut heute das Kulturressort. Ihre Romane "Canitz` Verlangen" (2008) und "Big Sue" (2010) sind im mareverlag erschienen und wurden beide von der Stiftung Buchkunst im Wettbewerb der schönsten deutschen Bücher prämiert. Weitere Infos unter: www.zoradelbuono.de

AVIVA-Tipp: "Hundert Tage Amerika" ist ein Reisebericht der besonderen Art: eine Europäerin auf den Spuren von Geschichte und Gegenwart Amerikas. Wer sind die postmodernen PionierInnen? Wo sind die Gräuel der Sklaverei noch immer spürbar? Zora del Buono trifft auf ihrer Reise entlang der Ostküste aufrechte Konservative und Green-Card-GewinnerInnen, Exilierte und Gestrandete, SpezialistInnen aller Art sowie Alligatoren und Hillybillies. Sie entdeckt Patriotismus oder Nischen für Unangepasstes an unerwarteten Orten und in merkwürdigen Kombinationen, und während sie "Amerika" zu verstehen beginnt, fängt sie an, über ihre eigene europäische Identität nachzudenken. Der tagebuchartige Stil ist leicht und poetisch, Erklärungswürdiges wird in Fußnoten diskutiert. Die Erlebnisse und Reflektionen der Erzählerin ergeben zusammen mit den vielen Begriffserklärungen ein dichtes Netz an Bedeutungen, mit dem es Zora del Buono gelingt, ein Gefühl für das zu erzeugen, was Nord-Amerika ausmacht.

Zora del Buono
Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West

mareverlag, erschienen August 2011
ISBN 978-3-86648-145-9
19,90 Euro
256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
www.mare.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Big Sue von Zora del Buono


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Beitrag vom 16.11.2011

AVIVA-Redaktion