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Beitrag vom 03.11.2011
Road Atlas - Straßenfotografie von Helen Levitt bis Pieter Hugo
Lisa Scheibner
Straßen sind öffentliche Räume, Orte des Zusammentreffens oder aneinander Vorbeidriftens. Bewegung und Statik sind die beiden Pole zwischen denen das urbane Leben seinen Lauf nimmt: Der ...
... "Road Atlas" der DZ BANK Kunstsammlung vereint einhundertsechsundsechzig Fotografien von neunundzwanzig KünstlerInnen aus siebzig Jahren Street Photography.
Wo eine Straße ist, da leben und bewegen sich Menschen. Ein simpler Schnitt durch die Natur verweist auf Distanzen, die überwunden werden sollen, komplex gestaltete Häuserfassaden erzählen von Kulturen, die dahinter gepflegt werden. Wer sich auf der Straße fortbewegt - oder auch nicht - ist öffentlich, kann beobachtet und in Verhalten und Erscheinung gedeutet werden. Wenn niemand zu sehen ist, gähnt die Abwesenheit von Leben.
Die Herausgeberinnen Beate Kemfert und Christina Leber haben einhundertsechsundsechzig Fotografien aus der DZ BANK Kunstsammlung zusammengestellt, die zeitlich wie räumlich ein enormes Spektrum eröffnen: Von PionierInnen der Straßenfotografie bis in die Gegenwart, von Kobe geht es über Berlin, New York, Venedig und Lagos bis nach Liegnitz.
Helen Levitt etwa begann bereits in den 1930ern in New York, Menschen auf der Straße zu fotografieren. Die ärmeren Stadtviertel, die immer wieder Orte ihrer Motivsuche waren, begriff sie als "Theater" und "Kampfplatz" zugleich. Levitt war immer bemüht, ihren Bildern keine explizit politische Konnotation zu geben. Dennoch: Während Kinder sich hier spielend und scheinbar recht frei bewegen oder junge Männer in Hut und Hemd leger an einem Briefkasten lehnen, entstehen bei den BetrachterInnen Fragen nach deren sozialer Situation: Welche Berufe üben die jungen, eleganten Afroamerikaner im New York der 1940er aus? Welche Chancen haben die Kinder dieser Wohnviertel in ihrem weiteren Leben?
Die Kultur, auf die diese kleinen Szenen hinweisen, ist nicht auszublenden. Wenn wir Ryuji Miyamotos verstörende Schwarz-Weiss Fotos betrachten, die 1995 nach dem Erdbeben im japanischen Kobe entstanden sind, liegt es nahe, sich die Situation der Menschen vorzustellen, die nach der Verwüstung von vorn beginnen müssen, die kaputten Gebäude und unbegehbaren Straßen werden zu ZeitzeugInnen eines vergangenen Alltags.
Straßen können offen und einladend sein, wie bei Gerd Kittel, der die legendäre Route 66 (USA) ohne die Menschen fotografiert, die sie bereisen: Weite, der Mittelstreifen, eine futuristische Tankstelle (90er/2000), der Traum von Freiheit erscheint ganz pur.
Oder die Straßen sind blockiert und es geht nicht weiter, wenn sie wie bei (Aernout Mik) von einem umgekippten Bus und einer Herde Schafe zugleich blockiert werden, ohne dass mensch den genauen Grund dafür erkennen kann (2004).
Doch auch was sich am Rande der Straßen befindet, erzählt Geschichte(n): Ursula Arnold dokumentierte Berlin und Leipzig in den 1950er und 1960er Jahren, die Straßen meist verwaist, wie geschaffen als Spielplatz, die Häuser haben Einiges zu berichten, sehen mitgenommen aus. Obwohl das Alte gegenwärtig ist, scheint es Platz zu geben in dem die Kinder sich eine eigene, andere Welt schaffen können. Dieses Gefühl von zu füllendem Raum wiederholt sich in diesem Bildband in anderen Aufnahmen aus dem damaligen Deutschland. Auch in René Burris Fotografien ist diese Zeitqualität spürbar, die wir uns auf den heutigen Berliner Straßen kaum mehr vorstellen können.
Wer hat das Recht auf die Straße? Wie präsentiert mensch sich hier, im öffentlichen Raum?Pieter Hugos eindrucksvolles Bild aus Lagos (Nigeria, 2007) zeigt einen muskulösen Mann mit undurchdringlichem Blick, der an seiner Zigarette saugt, während sich eine riesige Hyäne zwischen seinen Knien räkelt. Das unglaubliche Wesen scheint zahm, obwohl es aus einem Monsterfilm entsprungen sein könnte, es wird gehalten, um sich mit ihm zu zeigen, es verleiht seinem Besitzer Macht.
Barbara Klemm hingegen richtet den "Blick nach Osten". Sie beobachtet zwei Frauen und ein Mädchen mit ernsten Gesichtern, die 1970 mit dem Pferdewagen durch Liegnitz (Polen) fahren, ihre vermutlich ländliche Herkunft wirkt altmodisch und merkwürdig deplaziert im modernen, industrialisierten Stadtbild.
Viele Fotografien geben Rätsel auf, ist die Szene ein Schnappschuss oder inszeniert? Was passiert in der Situation, welchen Ausschnitt sehen wir? Stefanie Schneider spielt in ihren Fotografien mit unserem filmischen Gedächtnis. Selbst ohne Plot scheint die Serie "California Blue Screen" (1999), hergestellt aus vergrößerten Polaroid-Aufnahmen, die BetrachterInnen direkt in ein Roadmovie zu versetzen.
Die Straße wird im "Road Atlas" zum Vergleichsparameter zwischen verschiedenen Orten und Kulturen, wie bei John Miller, oder existiert stoisch als poetischer Platz für ein "Zeitgedicht", wie Valie Export ihre Arbeit nennt. Als Verkehrsader ist sie oft wie selbstverständlich anwesend, sie dient als alltäglicher Gemeinschaftsort und rückt erst in den Fokus, wenn sie nicht mehr wie gewohnt funktioniert. Der Bildband regt dazu an, Details der Bilder immer neu zu analysieren oder gar selbst Geschichten zu den Fotografien zu erfinden.
AVIVA-Tipp: In den einhundertsechsundsechzig ausgewählten Fotografien aus der DZ BANK Kunstsammlung ist die Straße Haupt- oder Nebenprotagonistin. 29 FotografInnen präsentieren in mitunter atemberaubenden Aufnahmen ihre Perspektive auf die Szenen, die dort stattfinden: Transit, Verweilen, Beobachten. Kurze, gut fokussierte Texte verschiedener AutorInnen führen die Leserin ein in die Arbeit der KünstlerInnen und die Kontexte, denen die Bilder entstammen. Eine vielfältige visuelle Zeit- und Weltreise entlang der Straßen, die die Menschheit verbinden und trennen.
Die Ausstellung "Road Atlas" wird 2012/2013 unter anderem in Frankfurt am Main, Cottbus und Erfurt zu sehen sein.
Zu den Herausgeberinnen:
Dr. Christina Leber hat Kunstgeschichte studiert, arbeitet seit 1992 für verschiedene Kunstsammlungen in Wirtschaftsunternehmen und promovierte 2003 zu diesem Thema. Sie ist als Kuratorin und Koordinatorin für die DZ BANK tätig. Von 1999-2001 war sie Geschäftsleiterin der 2. Berlin Biennale. Dr. Beate Kemfert ist ebenfalls Kunsthistorikerin, sowie Theater- und Filmwissenschaftlerin. Sie sitzt im Vorstand der Stiftung Opelvillen, die neben der DZ BANK Mitherausgeberin des Buches ist und für die sie als Kuratorin arbeitet.
Road Atlas - Straßenfotografie von Helen Levitt bis Pieter Hugo
Herausgegeben von Beate Kemfert und Christina Leber
Hirmer Verlag, erschienen im August 2011
Beiträge von Freddy Langer, Hubert Beck, Adrian Giacomelli, Felix Hoffmann und Janina Vitale.
Text in deutscher und englischer Sprache
Gebunden, 168 Seiten, 50 Farbtafeln und 55 Tafeln in Schwarz-Weiß
ISBN: 978-3-7774-3641-8
34,90 Euro
www.hirmerverlag.de
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