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Beitrag vom 07.11.2011
Francesca Gavin - 100 neue Künstler
Nina Breher
Francesca Gavin hat sich durch den Dschungel temporärer Kunst gearbeitet, um KunstkennerInnen wie -banausInnen den Weg zu einem erleichterten Verständnis zu ebnen. Sie nimmt uns an der Hand und...
...zeigt, was diese junge, noch kaum bekannte KünstlerInnengeneration kann und was sie will.
Aktuelle Kunst ist abstrakt, verwirrend und sieht nicht immer wie Kunst aus. Stattdessen verfügt sie über einen endlosen Anhang in Form von Kommentaren etablierter KunstprofessorInnen und anderen klugen Menschen, die das Dargestellte zu erklären und zu kontextualisieren suchen. Aktuelle Kunst ist oft frustrierend, denn wer schaut schon gern auf eine wie zufällig bekleckste Leinwand, die – seien wir ehrlich – ihren Sinn nicht freigibt. Diesem Kreislauf aus fehlenden Verständnismöglichkeiten, bestenfalls dumpfer Faszination und dem Weiterreichen der Interpretationsarbeit an renommierte KritikerInnen setzt dieses umfangreiche Buch etwas entgegen.
Anstatt die Werke der "100 Neuen Künstler" zu analysieren, zu interpretieren und zu kommentieren, kommen die KünstlerInnen selbst zu Wort. Francesca Gavin druckt auf jeweils ein bis drei Seiten deren Kunstwerke ab und stellt Fragen, die auch kunstunerfahrene oder kunstfrustrierte Menschen stellen könnten: "Was interessiert Sie an abstrakten Formen?", oder: "Erläutern Sie ihre Polaroid-Serie". Und tatsächlich – die KünstlerInnen tun, wie ihnen geheißen. Sie erklären ihr Verständnis von Form, Farbe, Abstraktion und Raum. Die Antworten sind oft persönlicher – und einfacher – als vermutet. Die KünstlerInnen werden zu ProtagonistInnen und erzählen vom Werdegang ihrer Bilder – von monatelanger Recherche oder von spontanen Eingebungen. Kurz: Von der Lust und Frust, Kunst zu schaffen und davon, woher Ideen kommen und wohin diese gehen. Während man in Museen nur das Endprodukt betrachten kann, ist es hier der Kontext, der das Verständnis erleichtert und Neugierde schürt.
Es entsteht der Eindruck, dass Kunst dann entsteht, wenn jemand ihr/sein Innen nach Außen trägt. Dies ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner all dieser KünstlerInnen, denn ihre Werke selbst könnten verschiedener kaum sein. Während manche von Videospielen und Popkultur beeinflusst sind, setzen sich andere mit Rassismus oder mit Geschichte auseinander. Sei es in Form von Fotografie, Malerei, Installation oder Performancekunst in allen erdenklichen Farben und Formen, sei es auf ernste, lustige, nachdenkliche, ironische oder einfach nur abstrakte Weise.
So zeigt dieser Band ein unendlich erweiterbares Kaleidoskop an Positionen, Meinungen, Herangehensweisen und Themen, die aktuelle Kunstwerke beinhalten. Ob sie diese auch ausmachen, darauf möchte das Buch keine Antwort geben: "Kunst – wie auch das Leben – scheint stets außer Reichweite und in Bewegung zu sein", nimmt Gavin im kurzen Vorwort Stellung. Es solle nicht darum gehen, neue "-Ismen" zu erfinden, sondern darum, einer aufstrebenden KünstlerInnengeneration Platz zu schaffen – Platz, ihre Werke zu zeigen, und Raum, sich zu erklären und dadurch auch OttonormalbetrachterInnen einen Zugang zu ermöglichen.
Die Antworten der Befragten auf die neugierigen Fragen von Gavin liefern Material, über das nachzudenken sich lohnt. Manchmal zeigt sich, dass die Interpretationen oft an dem vorbeizugehen scheinen, was die KünstlerInnen intendiert haben. Wenn Gavin beispielsweise vom philippinischen Künstler Louie Cordero wissen möchte, was ihn am Grotesken fasziniert, ist seine Antwort: "Ich wurde in streng katholischer Tradition mit vielen Märtyrerheiligen erzogen. Was manche vielleicht als grotesk bezeichnen, war für mich normal." Solche Stellungnahmen geben Anstöße, die den Diskurs über das Gezeigte entscheidend erweitern. Sind die Werke Corderos nun grotesk oder sind sie es nicht, da sie zwar eine Normalität darstellen, zu der viele BetrachterInnen aber offenbar keinen Zugang haben? Seine Kunst ist bunt, abstrus, und ja – grotesk. Eine Skulptur zum Beispiel stellt ein Gehirn dar, auf dem zwei Kinder mit blutverschmierten Gesichtern und jeweils einem Buch – die Bibel? – in der Hand unter einem Kreuz sitzen und lachen. Grotesk? Sozialkritik? Eine Normalität? Wir wissen es nicht, aber das Nachdenken über solche Fragen, die der vorliegende Sammelband erst aufwirft, ist produktiv und deckt womöglich blinde Flecken der Kunstkritik auf.
AVIVA-Tipp: "100 neue Künstler" ist ein gewaltiger Sammelband, dessen Inhalt unbegrenzt scheint. Er zeigt das riesige Spektrum der von unter 35-jährigen produzierten Kunst auf und streift dabei alle denkbaren Stilrichtungen, Farben, Formen, Länder und Techniken. Ob es an der Auswahl oder an tatsächlichen strukturellen Veränderungen der Kunstszene liegt, erklärt das Buch nicht, doch scheint die Menge an weiblichen Vertreterinnen sich zunehmend an die männliche Zahl anzugleichen.
Zur Autorin: Francesca Gavin lebt als Journalistin, Kuratorin und Autorin in London. Für die Zeitschrift "Dazed & Confused" ist sie als Visual Arts Editor tätig, außerdem schreibt sie für diverse Magazine und Zeitungen. Darüber hinaus publiziert sie Bücher über die junge internationale Kunst- und Kulturszene.
Francesca Gavin
100 Neue Künstler
Originaltitel: 100 New Artists
Aus dem Englischen von Mechthild Barth
Prestel Verlag, erschienen September 2011
Klappenbroschur, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7913-4570-3
29,95 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter: www.randomhouse.de