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Beitrag vom 17.11.2011
Alice Schwarzer - Lebenslauf
Nina Breher
Alice war immer dabei! Alice war mittendrin! Sie hat den "kleinen" und den "großen Unterschied" erkannt und sie wusste "Die Antwort". Nun präsentiert sie uns ihren "Lebenslauf". Teil 1 von 2.
Alice im Aliceland
Über 370 Seiten hinweg dürfen LeserInnen ´auf Du´ sein mit Alice, dürfen ihren Lebensweg verfolgen, der von Berühmtheiten, mit denen sie befreundet war, gepflastert ist, aber auch von Steinen. Denn Alice residiert nicht im Wunderland, nein, die Welt, die Alice zu ändern versucht, ist ein "Männerland". Und Alice kämpft. Wie in Lewis Carrolls Geschichte von Alice im Wunderland werden in "Lebenslauf" allerdings so manche Dinge größer als sie eigentlich sind, andere Dinge auf magische Weise verschwindend klein und unbedeutend.
Groß ist ihre Geschichte, ihr "Lebenslauf", von denen das gerade erschienene Werk nur der erste von zwei Teilen ist. Groß ist ihr Gerechtigkeitssinn, ihre Verdienste sowie ihre Freundschaften – zum Beispiel zu Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, wie sie nicht müde wird zu betonen. Ganz klein und stumm werden in diesem rhetorisch überzeugenden und lebendig geschriebenen Text hingegen KritikerInnen sowie aktuelle Kontroversen um ihre Thesen und ihre Person. Kontroversen, denen die Berechtigung nicht im Vorhinein aberkannt werden sollte.
Der Lebenslauf: Wuppertal, Stadtlauringen, Wuppertal, München, Paris, Düsseldorf, Hamburg; Frankfurt, Paris, Berlin, Köln
Dabei gestaltet sich das Lesen des Buches als interessant, ja aufschlussreich. Sie schildert ihren journalistischen, publizistischen und persönlichen Werdegang, erzählt von ihrer Kindheit in bescheidenen Verhältnissen, von ihren jungen Jahren in München und Paris. Nicht zuletzt auch von ihrer Zeit bei der Zeitschrift "pardon" und ihrem Engagement beim MLF (Mouvement de Libération des Femmes). Sie veröffentlicht zunehmend im deutschsprachigen Raum, unter anderem den bahnbrechenden "Wir haben abgetrieben!"-Artikel. Bald kehrt sie zurück nach Deutschland – der Rest ist Geschichte. Diese wichtigen Details der Frauenbewegung arbeitet Schwarzer nachvollziehbar und ansprechend aus.
Zwischen Biographie und Imagekampagne in Eigenregie
"Lebenslauf" wirft einen teils interessanten, teils glorifizierenden Rückblick auf das Leben dieser Galionsfigur der deutschen Frauenbewegung bis zum Erscheinen der ersten EMMA (1977). Dass sie die Frauen in ihrer Familie zu Feministinnen avant la lettre hochstilisiert, scheint an manchen Stellen allerdings erzwungen. So mutmaßt sie ausgiebig über das feministische Potenzial ihrer Familie, und findet – einen fehlenden BH. "Sie hasste jede Art der Einengung", mutmaßt die Autorin, als sie begründen will, warum ihre Großmutter keinen trug. "Rückblickend" findet Alice Schwarzer vieles an ihrer eigenen Biographie "bemerkenswert." Zum Beispiel, dass sie für sich selbst bezahlte, wenn sie mit ihrem Freund essen ging. Dies mag bemerkenswert sein oder auch nicht, es ist allerdings schade, dass den LeserInnen fortlaufend Urteile vorgegeben werden. Die Schilderung ihrer Jugend ist durchzogen von Abschnitten über die intellektuellen Filme, die sie sah sowie über die alternativ-intellektuellen Bücher, die sie las. Immer mehr drängt sich die Frage auf: Dient dieser Text der Information interessierter LeserInnen – oder ist die Grenze zur PR fließend?
370 Seiten Gegendarstellung
Ebenso forciert wirken die akribischen Angaben, von welchem / welcher DesignerIn ihre Kleider stammen. Es scheint, als veröffentliche Schwarzer dieses Buch auch, um zwei alten Vorwürfen den Garaus zu machen. Einerseits dem, als ´Emanze´ unmodisch zu sein, andererseits auch um dem Klischee zu widersprechen, sie habe kategorisch etwas gegen Männer. Über der Schilderung ihrer Bewunderung für James Dean und über den Aufzählungen ihrer verschiedenen Beziehungen zu Männern vergisst sie, dass Menschen, die heute noch derartige Vorurteile verbreiten, sich nicht die Mühe machen werden, ihre Memoiren zu lesen. 370 Seiten Gegendarstellung, die ungehört verhallen werden. Dabei gäbe es genügend Kontroversen, die für potenzielle LeserInnen interessanter wären.
Fast amüsant sind die Ergänzungen, die Schwarzer in Klammern in verschiedene Sätze einfügt. Es scheint, als wolle sie ihr Revier markieren. Sie liest Beauvoir in einer "sehr schlechten Übersetzung (die Jahrzehnte später auf meine Anregung hin überarbeitet werden wird)." Als Kind mussten sie und ihre Gefährtinnen im Winter über ihre Hose einen Rock ziehen, "(so wie heute noch so manche kleine Türkin)." An Stellen wie diesen blitzen unauffällig Kontroversen auf, die noch ausgetragen werden müssten. Da diese in rhetorisch gut platzierte, oft vereinfachende Nebensätze gedrängt werden, stellt sich die Frage, wo Biographie aufhört und wo Polemik anfängt. Bei dem schriftstellerischen Geschick Schwarzers in Verbindung mit der Geschichte, die sich liest wie ein guter Kriminalroman, muss mensch aufpassen, sich nicht im Aliceland zu verlieren – und blindlings alle Aussagen zu bejahen.
Flucht nach vorn
Leider hört der Text da auf, wo es politisch interessant werden könnte. Ihre Positionen zu heutigen Debatten erfahren wir nur aus polemischen Nebensätzen und aus einigen kurzen Absätzen. Dass sich diese Positionierungen hinter dieser frühen, wirklich beeindruckenden und für die Frauenbewegung wichtigen Lebensphase von Schwarzer verstecken, ist kein Zufall. Denn das Buch dient vor allem der Aufpolierung eines angeknacksten Images. Dieses ist nicht, wie das Buch LeserInnen nahelegen will, immer noch beschädigt, sondern schon wieder. Es ist schon längst nicht mehr der Männerhasserinnenvorwurf, der an ihrem Bild in der Öffentlichkeit nagt. Spätestens seit sie gegen Honorar auf Plakaten mehrerer BILD-Kampagnen zu bestaunen war, wundern sich viele, auch Fans und FeministInnen.
Unter Berufung auf ´den´ Feminismus polarisiert Alice Schwarzer aktuell gegen einzelne Personen (Kachelmann-Prozess) und gegen eine ganze Weltreligion, die sie pauschalisiert ("Die große Verschleierung"). Dies hat zwar bewirkt, dass sie in der Öffentlichkeit nach wie vor sichtbar ist, doch sie verliert zunehmend ihr Gesicht vor jüngeren feministischen Generationen. Junge Frauen – auch welche mit feministischem Potenzial – weisen den Begriff ´Feministin´ weit von sich. Das liegt nicht ausschließlich am mächtigen Patriarchat, das frauenpolitisch Engagierte abwertet, sondern ist ein Problem, das auch innerhalb der Frauenbewegung(en) lokalisiert werden muss. Dass hinter diesem derzeit negativ besetzten Begriff ein anderes Bild in die Köpfe nachrückt, wird nicht zuletzt durch Persönlichkeiten wie Schwarzer erschwert.
AVIVA-Fazit: "Lebenslauf" vermittelt den Anschein, als handle Alice Schwarzer nicht mehr im "Männerland" für die Sache ´der´ Frauen, sondern als agiere sie in einem Aliceland für die Sache von Alice. Es wäre schön gewesen, wenn Schwarzer das aktuelle Zeitgeschehen und ihre Rolle in diesem reflektieren würde, anstatt es nur in polemischen Nebensätzen zu antizipieren. Ihren Platz in der heutigen Öffentlichkeit aus der Vergangenheit heraus zu begründen, reicht nicht aus. Es bleibt zu hoffen, dass die offenen Rechnungen und Fragen an Alice Schwarzer zumindest im zweiten Teil ernsthaft aufgegriffen werden. Aufschlussreich für das Verständnis der Frauenbewegung der 70er Jahre ist dieses Buch allemal.
Alice Schwarzer
Lebenslauf
Kiepenheuer & Witsch, erschienen: September 2011
Gebunden, 464 Seiten
ISBN: 978-3-462-04350-1
22,99 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kiwi-verlag.de
Weitere Infos finden Sie unter:
Alice Schwarzer:
www.aliceschwarzer.de
EMMA:
www.emma.de
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