Susanne Goumegou, Marie Guthmüller und Annika Nickenig - Schwindend schreiben: Briefe und Tagebücher schwindsüchtiger Frauen im französischen 19. Jahrhundert - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.12.2011


Susanne Goumegou, Marie Guthmüller und Annika Nickenig - Schwindend schreiben: Briefe und Tagebücher schwindsüchtiger Frauen im französischen 19. Jahrhundert
Marie Heidingsfelder

"Je déssèche, je brûle, je me consume" - "Ich trockne aus, ich verbrenne, ich verzehre mich". Anhand der Aufzeichnungen und Briefe von vier an Tuberkulose erkrankten Frauen untersuchen drei ...




... Bochumer Literaturwissenschaftlerinnen das Zusammenspiel von Weiblichkeit, Tod und Ästhetik.


Schrift, Körper und Krankheit

Die Schwindsucht wird im Frankreich des 19. Jahrhundert zu der Krankheit schöner, dem Tod geweihter Frauen, deren widersprüchliche Symptome die Medizin der Zeit vor Rätsel stellt: Müdigkeit, Schwäche, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme auf der einen Seite, aber auch Fieber, Krampfanfälle, Wesensveränderung und Halluzinationen quälten Frauen wie Pauline de Beaumont, Céleste de Chateaubriand, Joséphine Sazerac de Limagne und Marie Bashkirtseff und faszinierten Autoren wie René de Chateaubriand, den Ehemann von Céleste oder Alexandre Dumas, dessen Roman "La dame aux camélias" wohl die bekannteste Darstellung der Schwindsucht ist. Die Studie "Schwindend schreiben: Briefe und Tagebücher schwindsüchtiger Frauen im französischen 19. Jahrhundert" legt das Augenmerk auf Briefe und Tagebücher dieser Frauen und untersucht die Verflechtung von Schrift, Körper und Krankheit unter dem Aspekt der Selbstdarstellung, wobei die Prozessualität und die Unabgeschlossenheit des Schreibvorgangs in den Vordergrund rücken.

Selbstverausgabung und Selbstkonstitution

Was in Deutschland als Schwindsucht bekannt wurde, bezeichnete man in Frankreich als "consomption", als langsame Auszehrung des Körpers. Unter diesen Umständen das eigene Verschwinden in Briefen und Tagebucheinträgen festzuhalten, folgt einer sehr ambivalenten Logik, wie die Autorinnen herausstellen: Einerseits bildet der nahe Tod und die alles verzehrende Krankheit den Anlass zu schreiben, aber andererseits ist es dieselbe Krankheit, die das Schreiben behindert und immer weiter einschränkt: "Meine Hand weigert sich, zu schreiben" hält die Kameliendame Marguerite Gautier in einem ihrer letzten Einträge fest. So wird das Schreiben zu einem Festschreiben, zu einem Einschreiben in die Geschichte, das den Tod überdauern soll. In einer strategischen Dynamik aus Selbstverausgabung und Selbstkonstitution arbeiten sich die Schriften der vier Frauen an der körperlichen und literarischen Grenze zwischen Leben und Tod ab – Zwischen Verzweiflung, Kontrolle und selbstbewusster Inszenierung des eigenen Niedergangs.

Mitleid, Verführung und Sanktifizierung

Nach einem einleitenden und gemeinsam verfassten Kapitel zu Krankheit, Weiblichkeit und Schreiben, widmet sich jede der drei Autorinnen einem konkreten Fallbeispiel, um den literarischen Umgang mit der Schwindsucht auf Strategien der Bewältigung und der Selbstdarstellung zu untersuchen: Als erste schreibt Marie Guthmüller über den Briefwechsel zwischen Pauline de Beaumont und Céleste de Chateaubriand. Hier wird einerseits die Inszenierung des Leids und der Wunsch nach Mitleid deutlich, andererseits aber auch Strategien zur Selbstkontrolle und Verführung. Im zweiten Teil widmet sich Susanne Goumegou der "petite sainte" Joséphine Sazerac de Limagne und ihrem Sich-Einschreiben in christliche Diskursmuster. In diesen Aufzeichnungen wird eine Tendenz zur christlichen Interpretation des Leides bin hin zur Angelisierung und zur Sanktifizierung als Märtyrerin erkennbar. Das letzte Kapitel von Annika Nickenig befasst sich mit dem Tagebuch der Künstlerin Marie Bashkirtseff, die sich mit ganz unterschiedlichen Bildern von Schwindsucht auseinandersetzt und sie zitiert, sich aneignet oder abwehrt.
Obwohl alle drei Beiträge sehr interessant und kohärent sind, könnte man das Fehlen eines zusammenfassenden und vergleichenden Abschlusskapitels bemängeln. Allerdings entschädigt das gemeinsame erste Kapitel in gewisser Hinsicht für das plötzliche Ende der Studie und sorgt für die Einbettung der einzelnen Beiträge in einen umfassenden theoretischen Rahmen.

AVIVA-Tipp: In ihrer ausführlichen und durch viele Textbeispiele begleiteten Studie gelingt Susanne Goumegou, Marie Guthmüller und Annika Nickenig die umfassende und interessante Darstellung einer heute fast vergessenen Krankheit und den Verschiebungen, die durch die "écriture de la consomption" im medizinischen und literarischen Diskursgefüge entstanden sind. Dabei richtet sich das Werk zwar deutlich an ein fachlich interessiertes Publikum, zeichnet sich aber durch literarische Lebendigkeit und eine sehr gute Lesbarkeit aus.

Die Autorinnen: Susanne Goumegou, Marie Guthmüller und Annika Nickenig sind Literaturwissenschaftlerinnen und forschen zur Darstellung anthropologischen Wissens in der Moderne am Romanischen Seminar der Ruhr-Universität Bochum.

Susanne Goumegou, Marie Guthmüller und Annika Nickenig
Schwindend schreiben: Briefe und Tagebücher schwindsüchtiger Frauen im französischen 19. Jahrhundert

Böhlau Verlag, erschienen Mai 2011
Reihe: Literatur-Kultur-Geschlecht, Große Reihe
Herausgegeben von: Anne-Kathrin Reulecke, Ulrike Vedder, Inge Stephan und Sigrid Weigel
Broschiert, 256 Seiten
ISBN 978-3-412-20663-5
39,90 Euro



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Beitrag vom 04.12.2011

AVIVA-Redaktion