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Beitrag vom 21.12.2011
Helke Sander - Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern
Lisa Scheibner
Muss die sexuell befreite Frau auch noch für den menopausalen Sex kämpfen, oder soll sie lieber ein gutes Buch lesen? Selbst jenseits der Midlife-Crisis lässt die Libido, vertraut oder...
...vernachlässigt, die HeldInnen der Kurzgeschichten nicht los.
Beate hält die Zeitung so, dass die NachbarInnen durchs Fenster nicht sehen können, dass sie die Rubrik "Bekanntschaften" liest. Nicht, dass sie nichts Besseres zu tun hätte. Aber: "Soll das schon alles gewesen sein?" Die Dreiundvierzigjährige findet, sie hat ein Anrecht auf "Abenteuer in Hülle und Fülle". Und so gibt die Bibliothekarin ihren kleinen Etat dafür aus, Lesungen zu veranstalten, die interessante Männer anlocken könnten. Die aber, wenn sie überhaupt kommen, bringen immer ihre blutjungen, langhaarigen Freundinnen mit. Und so tut Beate schließlich das Unfassbare, das Höchstpeinliche, von dem die Freundinnen im Yogakurs unter keinen Umständen erfahren dürfen: Sie gibt eine Kontaktanzeige auf...
Beate ist das Nesthäkchen in Helke Sanders Kurzgeschichtenreigen rund ums Thema Lust im Alter. So begegnen wir Helga, die eindeutige Geräusche aus dem Zimmer ihres Mitbewohners Willi hört und somit ungewollt aufs Thema gestoßen wird, das sie aus Mangel an Gelegenheit ganz gerne verdrängt. E. hingegen fragt sich, wie denn die sexuell befreite Frau das Ende ihrer aktiv gelebten Sexualität akzeptieren kann: "Es gab für diese neue Generation, der E. angehörte, noch keine Vorbilder." Da ist M., die erfolglos versucht, ihrem geistig abwesenden Liebhaber R., der seinem unglücklichen Eheleben zu entfliehen versucht, den Egoismus im Bett abzugewöhnen und natürlich Frau S., die ihre spätherbstliche Leidenschaft kurz vor ihrem 95sten Geburtstag darin investiert, sich höchstpersönlich bei der Bezirksverwaltung für barrierefreie Fußwege einzusetzen.
Auch ein paar Männer kommen zu Wort: L. und B., Arbeitskollegen, führen im halbdunklen ICE-Abteil ein ungewohnt persönliches Gespräch und stellen fest: "Ich glaube, man ist alt, wenn man die sexuellen Zeichen nicht mehr versteht."
"Jenseits von gut und böse"? Von wegen.
Helke Sander, bekannt als Filmemacherin und Aktivistin der Frauenbewegung, versammelt in ihren Kurzgeschichten verschiedene Stimmen, die sich mit Sex nach dem jugendlichen Alter (oder dessen Stereotyp) auseinandersetzen. Und so unterschiedlich die Gedanken auch sind, die sich ihre ProtagonistInnen dazu machen, eines ist ihnen gemeinsam: sie haben Erfahrung. Eine Frau, die Dutzende von LiebhaberInnen hatte, gibt sich nicht mehr mit einem Matratzenmacho zufrieden. Das selbstbestimmte Älterwerden hat gute und schlechte Seiten: In Einsamkeit kann frau sich üben, aber die Sehnsucht bleibt, selbst wenn sie weiß, dass sie mit den Beziehungsmodellen der vorangegangenen Generationen nichts anfangen kann. "Sie wollte einen Mann. Mindestens."
Sanders kleine Beobachtungen arbeiten mit daran, ein bisher vernachlässigtes Lebensalter von Klischees zu bereinigen. Dass individuelle Perspektiven auf Sex, abseits des Zwangs zur Jugendlichkeit, notwendig sind, ist seit einiger Zeit auch ins öffentliche Interesse gerückt. Davon zeugt etwa ein Film wie "Wolke 9" von Andreas Dresen, in dem sich ein älteres Paar entgegen aller Konvention für eine leidenschaftliche Affäre entscheidet. Aber auch die Abwesenheit von Lust oder der Gelegenheit, sexuelles Verlangen auszuleben, ist es wert, differenzierter diskutiert zu werden. Denn allzu oft wird es, in allen Lebensaltern, als eigenes "Versagen" interpretiert, keinen Sex zu haben.
Eine Biografie voll gelebter Sexualität und der Reflektion darüber bringt eine neue Sicht auf Alterslust mit sich.
Sanders Figuren leben auch in ihren Sechzigern in einer WG oder haben unkonventionelle Lebenseinstellungen. Bei Allem, was sie erlebt und erotisch ausprobiert haben, kann sich tatsächlich das Gefühl einstellen, dass es nicht mehr viel Neues zu entdecken gibt. Oder doch?
Nervös zu werden beim attraktiven Orthopäden, trotz seines schrecklichen Möbelgeschmacks, damit hätte A. nie gerechnet. "Kein Ehering. Gebräunte Arme mit hellen aufgestellten Härchen. Mit dem könnte es lustig werden."
Es fällt auf, dass die Frauen und Männer in den Geschichten mit ihren Gedanken etwas einsam wirken, selbst wenn sie in einer Beziehung sind oder Freundinnen treffen. Sie sind es gewohnt, emotionale Entscheidungen mit sich selber zu klären. Einzig in der letzten Geschichte "Leichenschmaus" kommt ein Grüppchen von feministischen Frauen, das sich seit Ewigkeiten kennt, zum vertrauten Gespräch zusammen, und doch scheint jede etwas für sich zu behalten. Hat die alte Solidarität ausgedient? Oder war diese auch damals schon eine Utopie? Sexualität ist zwar der Fokus dieser Sammlung, sie wird aber stets in Zusammenhang mit anderen sozialen Erlebnissen gedacht.
Helke Sander schreibt in einem leichten, humorvoll ironischen Stil, die ProtagonistInnen analysieren ihre eigenen Wünsche und Neurosen pragmatisch wie gnadenlos und nehmen sich auch in melancholischen Momenten nicht allzu ernst. Schon das Cover von "Der letzte Geschlechtsverkehr" birgt eine schelmische Überraschung: von Weitem sieht es aus wie eine gemusterte Tapete – weit gefehlt. Aus der Nähe sind Figürchen in wollüstigen Stellungen zu erkennen...
Zur Autorin: Helke Sander, geboren 1937 in Berlin, besuchte eine Schauspielschule in Hamburg und begann Anfang der 60er Jahre in Finnland, wo sie mit Mann und Sohn lebte, Theaterstücke zu inszenieren und für das finnische Fernsehen zu arbeiten. Zurück in Berlin studierte sie an der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin), war Mitbegründerin der Frauen- und Kinderladenbewegung und drehte zahlreiche Filme zu (frauen-)politischen Themen so etwa "Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers" (1977), "Der subjektive Faktor" (1980/81) und "BeFreier und Befreite" (1992). Sander erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie etwa den Goldenen Bären der Berlinale und das Filmband in Gold für "Nr.1- Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste" (1984). 1974 gründete sie die Zeitschrift "Frauen und Film", deren Herausgeberin, Redakteurin und Autorin sie bis 1982 war. Die Liste ihrer Veröffentlichungen ist lang, bisher erschienene literarische Arbeiten sind "Oh, Lucy" (1991), "Die Geschichten der drei Damen K" (1995), und "Fantasie und Arbeit – Biografische Zwiesprache mit Iris Gusener" (2009). Helke Sander lehrt in verschiedenen Ländern in und außerhalb von Europa, von 1981 - 2001 war sie Professorin an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg.
Weitere Infos: www.helke-sander.de
AVIVA-Tipp: Sie haben für die Pille, das Recht auf Abtreibung und gegen Sexismus gekämpft. Sie haben gevögelt, soviel sie wollten. Die weiblichen "68er" sind vermutlich die erste Generation von deutschen Rentnerinnen, die auf ein selbstbestimmtes Sexualleben zurückblicken kann. Und nun? War`s das jetzt etwa schon? "Der letzte Geschlechtsverkehr" ist eine unterhaltsame Kurzgeschichtensammlung, in der Helke Sander die selbstironischen Gedanken der gealterten Feministinnen nachempfindet, und: ja, sie sind noch lange nicht fertig mit dem Thema Sex! Doch das ist in der Praxis gar nicht immer so einfach zu organisieren.
Helke Sander
Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern
Verlag Antje Kunstmann, erschienen im August 2011
Gebunden, 156 Seiten
ISBN 978-3-88897-728-2
16,90 Euro
www.kunstmann.de
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