25. Todestag von Anna Seghers am 1. Juni 2008 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.07.2008


25. Todestag von Anna Seghers am 1. Juni 2008
Yvonne de Andrés

Anna Seghers: Ein Leben in den Widersprüchen des 20. Jahrhunderts. Die sozialistisch-jüdische Künstlerin verstand ihr Werk als Waffe im Klassenkampf. Eine neue Lektüre lohnt sich.




1900 wurde Netty Reiling in Mainz geboren und starb 1983 als Anna Seghers in Berlin. Ihr Leben und ihr Werk sind geprägt von den Konflikten des 20. Jahrhunderts. Ihre Bücher behandeln das, was sie selbst durchlebte: Die Gefahr des Nationalsozialismus, die Erfahrung des Exils und den Kalten Krieg.

Netty Reiling wurde als Einzelkind in den gutbürgerlichen jüdisch orthodoxen Haushalt des Mainzer Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig Fuld geboren.1920 begann sie in Heidelberg ein Studium der Kunstgeschichte und der Sinologie. Sie belegte Kurse in marxistischer Theorie und machte dabei die Bekanntschaft mit späteren EmigrantInnen. Hier begegnete sie Laszlo Radványi, den sie 1925 heiratete. Das Paar zog nach Berlin. 1926 erfolgte die Geburt ihres Sohnes Peter. 1927 wählte sie das Pseudonym "Seghers". 1928 wurde die Tochter Ruth geboren, Eintritt in die KPD und 1929 in den "Bund der proletarisch-revolutionären Schriftsteller". Seghers erhielt 1928 den Kleist-Preis für ihr Erstlingswerk "Der Aufstand der Fischer von St. Barbara". Ihre Bücher wurden 1933 verboten und verbrannt. Sie floh über die Schweiz und Paris nach Mexiko. Ihre wichtigsten Werke sind: "Das siebte Kreuz" und "Transit". 1942 erschien das "Das siebte Kreuz" in den USA in englischer Sprache und im mexikanischen Exilverlag wurde "El Libro Libre" ("Das Freie Buch") in deutscher Sprache veröffentlicht. 1947 kehrte Anna Seghers nach Berlin zurück. Sie war Gründungsmitglied der Akademie der Künste und Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes. Am 1. Juni 1983, im Alter von 83 Jahren, starb Anna Seghers.

Anlässlich des 25. Todestags der politisch umstrittenen und doch gefeierten Schriftstellerin stellen wir 2008 zwei neu erschienene Bücher und zwei Hördokumente vor.

Sigrid Bock, Der Weg führt nach St. Barbara - Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers

Sigrid Bock beschreibt ihre persönliche Annäherung an Anna Seghers so: "Ein paar Mal saß ich neben Anna Seghers. Ihre seit 1927 geschriebenen publizistischen und theoretischen Arbeiten hatte ich zu einer geschlossenen Ausgabe zusammengetragen.[...] Damals wusste ich noch nicht, dass immer dann, wenn etwas zu nah an eigene Erinnerungen rührte, sie den Faden durchriss, der sie zu binden droht. Über eigenes wollte sie nicht reden. Nicht über ihren Werdegang. Nicht über ihre Herkunft: Selten hat Anna Seghers in ihren Gesprächen etwas von sich selbst preisgegeben".

Frau Bock zeichnet intensiv die frühen Lebensstationen, Begegnungen und Einflüsse nach: Die Zeit in ihrer Geburtstadt Mainz, die Studienzeit in Heidelberg und Köln und die ersten Jahre in Berlin, bis zur Verleihung des Kleist-Preises 1928 (für ihr erstes Buch, "Die Fischer von St. Barbara") bilden den Kontext der Biographie.

Sehr ausgiebig beschreibt Sigrid Bock die Spuren von Netty Reilings weit verzweigter jüdisch-orthodoxer Familie. Das ist besonders interessant und geht weit über die bereits vorliegende Biographie von Frau Zehl-Romero hinaus. Die Familie mütterlicherseits wohnte in Frankfurt (Obermainanlage 15) und zählte zum "Altfrankfurter jüdischem Patriziat". Helene Fuld, ihre Großmutter, führte einen Salon, in dem KünstlerInnen, Wissenschaftler und Persönlichkeiten des religiösen, kulturellen und politischen Lebens verkehrten. So auch die aus Wien stammende Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Berta Pappenheim, der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Hermann Wendel und der Literaturkritiker Alfred Kerr.

Spannend und aufschlussreich wird ihre Studienzeit in Heidelberg und Köln beschrieben, darüberhinaus ihre Begegnungen und der Austausch in der Studienzeit mit Philipp Schaeffer, Laszlo Radványi, Georg Lukács, Carl Zuckmayer und anderen berühmten ZeitgenossInnen. Das Buch schildert die Verwandlung der Netty Reiling in "Seghers" und später in Anna Seghers.
Zur Autorin: Sigrid Bock, emeritierte Professorin für Germanistik und Seghers-Forscherin, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Exilliteratur. Zwischen 1970 und 1979 gab sie die theoretischen Schriften von Anna Seghers in vier Bänden heraus: "Über Kunst und Wirklichkeit".
AVIVA-Tipp: Sigrid Bock hat mehrere Jahre intensiv für diese faktenreiche Biographie über Anna Seghers (1907 – 1983) in Archiven und Bibliotheken recherchiert. Verzweigungen und Querverbindungen werden spannend dargestellt.

Anna Seghers, "Der Ausflug der toten Mädchen"

Von 1941 bis 1947 lebte Anna Seghers in Mexiko im Exil. Die Ich-Erzählerin, eine Emigrantin in Mexiko, ist rekonvaleszent. Sie spaziert an einem heißen Tag durch eine bizarre surreale felsige Berglandschaft mit Kakteen. Seghers schreibt: "Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt." Die Emigrantin wirft den Blick zurück auf ihre Kindheit am Ufer des Rheins, auf ihre beiden Freundinnen Leni und Marianne und die gemeinsamen schönen Tage. Diese sind jetzt endgültig vorbei. Beide Freundinnen sind tot. Auch die geliebte Mutter kann sie nicht mehr umarmen, denn sie wurde ins KZ abtransportiert. Die letzte Umarmung bleibt daher unerwidert. Anna Seghers selbst ist die einzige Überlebende ihrer Schulklasse.

AVIVA-Fazit: Es handelt sich hier um eine der persönlichsten Geschichten von Anna Seghers. Das Tondokument ist eine Originalaufnahme vom 21. Januar.1965. Obwohl es immer sehr aufschlussreich ist, wenn eine Autorin ihre eigenen Texte liest, wirkt diese Darstellung antiquiert. Anna Seghers Darbietung, mit ihrem lieblichen Mainzer Timbre, bleibt durch die monotone Intonation leider ein sehr anstrengendes Vergnügen.

Anna Seghers - "Die Kraft der Schwachen. Lesungen, Interviews, Reden"
"Es zeigt sich, dass das, was ich schrieb, eine Waffe war, die im Klassenkampf mitkämpfte" schrieb Anna Seghers. 1928 trat sie der KPD und 1929 dem "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" bei. Die Hördokumente zeichnen sehr gut das Engagement und den Kampf während der Weimarer Republik für den Sozialismus nach, ihre Positionen im Dritten Reich und ihre Identifikation mit dem sozialistischen Staat, der DDR. Ausgiebig wird auf ihr problematisches Schweigen gegenüber Repression des Kulturapparates der DDR eingegangen. Besonders aufschlussreich ist ihre Rede "Die Aufgaben des Schriftstellers in unserer Zeit" aus dem Jahr 1966. Hier zeigt sich ihre zwiespältige Rolle besonders deutlich. Einerseits lehnt sie die Einschränkung künstlerischer Freiheiten ab, spricht sich im Falle "schädlicher" Arbeiten jedoch für Zensur aus.

AVIVA-Tipp: Die Zusammenstellung der zwei CDs ist hervorragend gelungen. Die Mischung von bekannten und neu entdeckten Textausschnitten, Interviews und Reden bietet eine gelungene Möglichkeit, sich ein umfassendes Bild der engagierten Schriftstellerin und umstrittenen Kulturfunktionärin zu bilden.

Anna Seghers, Briefe 1924 – 1952. "Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde"

Die Briefe, die hier zusammengetragen wurden, sind für das Lesepublikum neu. Sie stammen nicht aus dem Anna-Seghers Nachlass in der Akademie der Künste sondern wurden von den Herausgeberinnen bei den BriefempfängerInnen in USA, Moskau und Südamerika zusammengetragen. Anna Seghers war eine rege Briefeschreiberin. Der von Christiane Zehl-Romero zusammen mit Almut Gieseke herausgegebene Briefband zeigt eine Schriftstellerin mit unterschiedlichsten Schreibstrategien. Sie passten sich, je nach Intention von Anna Seghers, den verschiedenen EmpfängerInnen an. Mal freundlich und zutraulich, manches Mal eher harsch und fordernd. Vertrautheit und Nähe wurden in unterschiedlichem Maße zugelassen, häufig auch taktisch eingesetzt.

Als Anna Seghers 1933 im Exil in Frankreich Briefe in alle Welt schickt, um AutorInnen für ein Gedenkbuch-Projekt für die von den Nationalsozialisten am 10. Mai "verbrannten Dichter" zu gewinnen, nimmt das Volumen der Korrespondenz stark zu. Das Konzept entwickelt sie zusammen mit Lion Feuchtwanger. Es wird nicht realisiert, denn die Beiträge treffen nicht ein und auch ein Verlag findet sich nicht. Die Briefe aus den Jahren im Exil drehen sich vielfältig um Publikationsmöglichkeiten in Zeitschriften, um nicht ausreichende Tantiemen und Honorare. In den Briefen an F.C. Weiskopf ist gut nachzulesen, dass Anna Seghers in eigener Sache gut verhandeln konnte. Überraschend ist hier so manche Schärfe. Nach der Rückkehr (1947) nach Berlin gelingt es der Parteiführung zunehmend Anna Seghers dafür zu gewinnen, ihre öffentliche Anerkennung für die Politik der Partei einzusetzen. Als das ZK der SED 1951 die kulturpolitischen Daumenschrauben ansetzt und die SchriftstellerInnen der DDR zu einem Partei-Schulungsjahr verpflichtet, in dem die "Geschichte der K.P.D.S.U.", "Materialismus oder Empiriokritzismus" und "Anarchismus oder Sozialismus" gebüffelt werden sollen, entzieht sich Anna Seghers mit der Bitte an die Abteilung "Parteischulung", dies im Selbststudium absolvieren zu dürfen. Die Briefe ab 1950 zeigen die linientreue Schriftstellerin, die von Vortrag zu Vortrag eilt. Die Briefessammlung endet mit ihrem Amtsantritt als Präsidentin des Schriftstellerverbandes.

Zu den Herausgeberinnen:
Christiane Zehl-Romero
, Professorin an der Tufts University und Autorin der zweibändigen Biographie "Anna Seghers. Eine Biographie von 1900 – 1947 und 1947 – 1983"
Almut Gieseke Anna Seghers Lektorin im Aufbau Verlag.

AVIVA-Tipp: Ein spannendes Zeitdokument. Es ist ein Zufall, dass diese Briefe überhaupt erhalten blieben. Akribisch und liebevoll ist der Band mit Anmerkungen versehen. Eine spannende Ergänzung zur Biographie und zu den Tondokumenten.


Sigrid Bock
Der Weg führt nach St. Barbara

Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers
Karl Dietz Verlag Berlin, erschienen März 2008
gebunden - 303 Seiten
ISBN: 9783320021290
19,90 Euro

Anna Seghers
Der Ausflug der toten Mädchen

Vorgelesen von Anna Seghers
Audio Verlag GmbH, erschienen Februar 2008
Audio-CD, Laufzeit ca. 51 Minuten, Booklet: 8 S.
ISBN: 9783898137515
15,99 Euro

Anna Seghers
Die Kraft der Schwachen. Lesungen, Interviews, Reden

Vorgelesen von Anna Seghers
Der Hörverlag, erschienen Mai 2008
2 Audio-CDs, Laufzeit ca. 97 Minuten, Booklet: 8 S.
ISBN 9783867172721
18,99 Euro

Anna Seghers
Briefe 1924 - 1952

Herausgegeben von Christiane Zehl Romero, Almut Giesecke
Mit Anmerkungen und Kommentar.
Aufbau Verlag, erschienen März 2008
gebunden - 747 Seiten, Lesebändchen
ISBN: 9783351034733
36,00 Euro. Subskriptionspreis (bei Abnahme aller Bände) 29,95 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Verfemt, Verboten, Verbrannt und oft Vergessen"
"Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983" von Christiane Zehl Romero

Weitere Informationen zu Anna Seghers:
Anna Seghers Gedenkstätte


Literatur

Beitrag vom 21.07.2008

Yvonne de Andrés