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Beitrag vom 21.04.2012
Ina Hartwig - Das Geheimfach ist offen. Ãœber Literatur
Sonja Baude
Es ist ihre Begeisterung für Literatur, die beglückende Suche nach dem ganz Eigenen eines Textes, wovon ihre Essays zeugen: diese Faszination für Sprache übertragt sich, uneingeschränkt.
"In Wahrheit ist jeder Leser, wenn er liest, der Leser seiner selbst" , zitiert die Proustianerin im Vorwort einen Satz aus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", um diesen dann sogleich zu demontieren. "Eher im Gegenteil verliert man sich doch im Lesen, vergisst sich" , so Ina Hartwig, die 2011 für ihre präzisen und differenzierten Essays und Literaturkritiken mit dem Alfred Kerr-Preis ausgezeichnet wurde. Lange Zeit war sie verantwortliche Literaturredakteurin der "Frankfurter Rundschau". Heute schreibt sie vor allem für die "Süddeutsche Zeitung" und "Die Zeit". Hartwig hat nun eine Auswahl ihrer Texte aus den letzten fünfzehn Jahren getroffen, die bei Suhrkamp erschienen ist.
Damit liegen einerseits vierundvierzig messerscharfe Analysen vor, die immer durch Genauigkeit bestechen, andererseits aber auch eine wunderbare literarische Entdeckungstour, die teilhaben lässt an Hartwigs Leselust. In diesem Band sind keine Verrisse zu finden, sondern ausschließlich wertschätzende Urteile, die in ihrer Detailgenauigkeit ihresgleichen suchen. Es ist als tauchte die LeserIn ihrer Kritiken selbst ab in eine andere Welt, deren Stofflichkeit für einen Augenblick fühlbar wird, indem Hartwig kenntnisreich durch diese Welt führt. Sie benennt dieses LeserIn-KritikerIn-Verhältnis, von ihrer Seite besehen, als "elitäre Egalität" . Dabei bezieht Hartwig immer pointierte Standpunkte, die nie voreingenommene, sondern neu gefundene sind, und begründet diese überzeugend am Originaltext.
Dies zeigt sich schon in der Wahl der Kapitel, denen sie die einzelnen Kritiken und Essays zuordnet. Ungewöhnlich gleich das erste – fern klischeehafter Genderzuschreibungen - mit dem Titel "Zärtliche Männer" , das mit einer Besprechung des Briefwechsels zwischen Nicolas Born und Peter Handke beginnt. Dieser Text kann selbst als indirekte Hommage an ihren Deutschlehrer gedeutet werden, der sie erstmals auf Born aufmerksam machte und wohl einen Teil zur Lesebegeisterung der Kritikerin beigetragen hat. Hier findet sich, neben anderen Rezensionen, auch ihre Einschätzung des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, anhand dessen Hartwig den erschütternden Beziehungsverlauf nachvollzieht und ihn mit der literarischen Entwicklung der beiden abgleicht.
"Am Abgrund" ist das folgende Kapitel überschrieben, darin einmal mehr die Auseinandersetzung mit Bachmann, diesmal mit ihrem Roman Malina, der 2006, im Jahr da die Dichterin 80 Jahre alt geworden wäre, einer erneuten Lesung unterzogen wurde. In diesem Kapitel untersucht Hartwig Texte, denen Terror, Verfolgung oder anderweitige Notsituationen eingeschrieben sind. Darunter auch ein Essay über Georges-Arthur Goldschmidt, in welchem sie den Zusammenhang zwischen kindlichen Lebenserfahrungen und Werk hellsichtig auslotet, ohne dabei in die Voyeurismusfalle zu tappen. Auch der titelgebende Text "Das Geheimfach ist offen", anlässlich der deutschen Übersetzung von Marguerite Duras "Heften aus Kriegszeiten", findet sich hier.
Von "Deutsche(n) Zustände(n)" zeugen diejenigen Texte, die sich mit der Verschiedenheit ost -und westdeutscher Literatur, sowohl während als auch nach der Zeit des Kalten Krieges, beschäftigen. Hartwig leitet in dieses Thema mit einem skizzenhaften, dabei aber sagenhaft pointiertem Stimmungsbild der Stadt Berlin ein. Sie unternimmt, und hier sei es erlaubt ihr Bild der Straßenbahn zu borgen, eine rasante Geschichtsfahrt durch Berlin im zwanzigsten Jahrhundert, beginnennd mit der Entlassung Franz Biberkopfs (Döblin, Berlin Alexanderplatz), der vom Gefängnis Tegel mit der Elektrischen Ende der 1920er bis in die Mitte Berlins fährt, über den Bau der Mauer 1961, der eine solche Fahrt für knapp dreißig Jahre unmöglich machen sollte, bis hin zum heutigen Berlin. Sie beschreibt das eher unaufgeregte Leben, mit dem sie selbst im Westberlin der achtziger Jahre in Berührung kam, einer Zeit, in welcher die Repräsentanten des ,Ostsektors‘ vor allem als Ensemble eines "Ballett(s) der Plastikkörbchen", welches die Grenzsoldaten bei der Personenkontrolle des Transitverkehrs vollführten, wahrgenommen wurden. Was folgt sind Texte über Literatur u.a. von ChristophHein, Christa Wolf, Antje Rávic Strubel sowie von Marie Luise Kaschnitz, Andreas Meier und Georg Klein, die alle vor dem Hintergrund der besonderen deutsch-deutschen Vergangenheit verstanden werden müssen.
Die 68er-LiteratInnen bekommen ihrerseits ein eigenes Kapitel, darin ein Text zu Peter Rühmkorf, die Analyse des Briefwechsels von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper sowie eine bemerkenswerte Lesart von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf.
"Libertinage toujours" betitelt Ina Hartwig ihre Texte über Avantgarde-SchriftstellerInnen wie Elfriede Jelinek, Arnold Stadler oder Jean Genet.
Ihre Essays machen begreiflich, dass gute Literatur immer auch eine Stück Zeitgeschichte ist, philosophische und gesellschaftspolitische Diskurse aufgreift und moduliert. Den Abschluss ihrer Lektüreauswahl bildet das Werk von Marcel Proust, dem allein die Philologin ein ganzes Kapitel widmet.
AVIVA-Tipp: Mit jedem ihrer Texte über den Text versteht es die Literaturkritikerin Ina Hartwig auf beeindruckende Weise, eine aufgeregte Neugierde zu wecken, wohl all derjenigen, die Literatur nicht allein als zeitvertreibende Unterhaltung begreifen, die nachlesen, neu lesen und mitdenken wollen.
Für Literaturbegeisterte also ein zweifacher Schatz, der sich in ihren Texten finden lässt: die Verführung zur Literatur und die Freude an der Literaturkritik als eigenes Genre. Wenn Hartwig den Typus der Literaturkritikerin im Vorwort als parasitär und dienend zugleich beschreibt, so tritt in der vorliegenden Textsammlung eindeutig die begnadete Vermittlerin zutage.
Zur Autorin: Ina Hartwig, geboren 1963 in Hamburg. Sie studierte Romanistik und Germanistik in Avignon und Berlin. Neben Lehrtätigkeiten an der FU Berlin, in St. Louis und Göttingen war sie viele Jahre lang verantwortliche Literaturredakteurin bei der "Frankfurter Rundschau" und arbeitet heute als freie Kritikerin. 2011 wurde sie mit dem Alfred- Kerr-Preis für Literaturkritik und dem Caroline-Schlegel-Preis der Stadt Jena ausgezeichnet. (Verlagsinformation)
Ina Hartwig
Das Geheimfach ist offen. Ãœber Literatur
S. Fischer Verlag, erschienen im März 2012
Gebunden, 336 Seiten
ISBN 978-3-10-029103-5
19,99 Euro