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Beitrag vom 16.07.2012
Kulturelle Übersetzungen - herausgegeben von Anika Keinz, Klaus Schönberger, Vera Wolff
Dana Strohscheer
Die "International Picture Language" ist ein typografisches System zur Darstellung von statistischen Zahlen in Bildern und sollte einen Beitrag zur Demokratisierung des Wissens leisten. Dazu...
... passend stammt das Coverbild des Bandes von einer Publikation aus dem Jahr 1936, entworfen vom Grafiker Gert Arntz in Zusammenarbeit mit dem Sozialökonomen und Philosophen Otto Neurath. Beide träumten von einer rational und wissenschaftlich fundierten Universalsprache.
Um diese Art der kulturellen Übersetzungsprozesse geht es auch in der vorliegenden Aufsatzsammlung von WissenschaftlerInnen verschiedener Fachrichtungen. Mehrheitlich entstanden während einer Tagung im April 2009 in Hamburg, geht sie Fragen der Übersetzbarkeit von kulturellen Diskursen in der Vergangenheit und Gegenwart nach.
Aus dem Bereich der Sprachwissenschaften stammend, bezeichnet der Begriff der "Übersetzung" neben der Übertragung fremdsprachiger Texte auch den Import und Export von Kulturgütern sowie die Aneignung von Wissensformen. Für die Analyse interkultureller Praktiken ist er zu einem Schlüsselbegriff avanciert. Was passiert, wenn Objekte, Begriffe, soziale und künstlerische Praktiken aus einem spezifischen Kontext in andere Zusammenhänge transferiert werden? Wie lassen sich die politischen und sozialen Verhandlungen beschreiben, die solche Prozesse strukturieren? Aus den aktuellen Debattennicht mehr wegzudenken.
Allerdings verbindet sich mit ihm auch die kritische Frage nach der Übertragbarkeit kultureller Phänomene und nach den problematischen Konstruktionen des Eigenen und des Fremden. KunsthistorikerInnen, VolkskundlerInnen, Medien- und KulturwissenschaftlerInnen erproben in diesem Buch die Tauglichkeit des Übersetzungsbegriffs für die Analyse von künstlerischer und kultureller Traditionsbildung. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird nach den medialen und historischen Bedingungen kultureller Austauschverhältnisse gefragt und so ein neuer analytischer Zugang zur Kunst und Kultur der Moderne gesucht.
Alle Beiträge verstehen Kultur nicht nur als Text, sondern auch das Übersetzen als eine Arbeit, die von Individuen und Gruppen geleistet wird. Damit wird ein Themenbereich des Bandes deutlich: die Frage nach den TrägerInnen und AkteurInnen kulturellen Austauschs und nach deren Strategien und Taktiken.
Der Schriftsteller und ehemalige Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe, Klaus Theweleit schildert in seinem Aufsatz eindrucksvoll die kulturgeschichtliche Dimension des "Pocahontas"-Narrativs und dessen Bedeutung für das nordamerikanische Selbstverständnis. Er zeichnet nach, wie die indigenen UreinwohnerInnen Nordamerikas sich ihre Geschichte in letzter Zeit wieder aneignen und welche Auswirkungen diese "Rückaneignung" auf die Erzählung selbst haben.
Die Kunsthistorikerin Vera Wolff widmet sich einem anderen Feld. Am Beispiel der japanischen KünstlerInnengruppe "Gutai" erläutert sie die Diskursgeschichte der japanischen Malerei vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte der 1950er Jahre und deren Rezeption in der westlichen Welt. Obwohl die Gruppe sich damals radikal von der traditionellen japanischen Kunst lossagte und an westlichen Vorbildern orientierte (so trat die Gruppe mit ihrer Aktionskunst unter anderem 1958 in New York auf), blieb ihr der Ruhm unter amerikanischen KunstkritikerInnen der damaligen Zeit versagt. Die KünstlerInnengruppe, die die "Rache des Materials" forderte, trat zwar in der Heimat große Diskussionen los, wurde aber als "Nachahmung" verharmlost und ihr künstlerische Wert erst heute anerkannt.
Anika Keinz Ethnologin und Kunsthistorikerin, geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie das international gebräuchliche "Gendervokabular" in Polen nach Zusammenbruch des sozialistischen Systems Wahrnehmungen in der öffentlichen Diskussion veränderte. Am Beispiel von neu gegründeten Frauenorganisationen diskutiert Keinz die Einflüsse neuer Denkmodelle auf lokale Machtverhältnisse. Die international gebräuchliche Sprache der Menschen- und Frauenrechte konnte und kann Frauen in Polen konkret helfen, Konzepte des Selbst sowie Lebenshilfe und Subjektivitäten zu erweitern und zu transformieren, wodurch sie die aktuellen Machtstrukturen herausfordern.
"Gendering Poland", so der Untertitel ihres Beitrags, verweist auf die Wirkungsmächtigkeit dieses Diskurses:
"Die das Individuum betonende Sprache der FeministInnen führt mit den geschlechtsspezifischen Kategorien eine neue Dichotomie ein und verweist auf Ungleichheiten, die während des Sozialismus tabuisiert worden waren oder als gelöst galten. ...ihre Forderungen auf volle Anerkennung und Gleichberechtigung (...) politisieren dort, wo der Staat naturalisiert."
Während sich konservative Parteien einer Sprache der Tradition bedienen und auf traditionelle Geschlechterrollen berufen, immer mit Bezug auf das kulturelle Narrativ der "polnischen Leidensgeschichte", wendet sich die internationale Gendersprache explizit gegen diese Zuschreibungen und kann so Bestrebungen von Organisationen unterstützen, lokale Ungerechtigkeiten abzuschaffen. In diesem Beitrag wird so eine gewisse "Universalsprache" den vorherrschenden Diskursen gegenübergestellt, ganz im Sinne der ErfinderInnen der universellen Bildsprache.
AVIVA-Tipp: "Kulturelle Übersetzungen" finden in allen Bereichen der Kunst, Wissenschaft und in Zeiten der Globalisierung im täglichen Miteinander statt. Wie sehr sich Sprache, Kultur und Denkweisen im Rahmen der Übersetzung verändern, ist Thema dieses Buches, das einen spannenden Ausblick in verschiedenste Richtungen bietet. Sowohl für WissenschaftlerInnen als auch für Interessierte an kulturellen Diskursen eine anregende Lektüre.
Zu den HerausgeberInnen:
Anika Keinz studierte Europäische Ethnologie und Kunstgeschichte in Berlin und London und hat 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema "Die Anderen der Nation. Verhandlungen von Geschlecht und Sexualität in Polen nach 1989. Diskurse, Strategien, Praxen" promoviert. Momentan ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) am Lehrstuhl für Vergleichende Mitteleuropastudien an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
Vera Wolff: studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Neuere deutsche Literatur in Hamburg. Ihre Promotion beschäftigte sich mit der westlichen Rezeptions- und Diskursgeschichte der japanischen Kunst: "Die Rache des Materials. Eine andere Geschichte des Japonismus", die sie 2007 in Düsseldorf abschloss. Während dieser Zeit war sie zu längeren Forschungsaufenthalten in Japan, Frankreich und den USA. Seit November 2011 ist Vera Wolff wissenschaftliche Assistentin der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich und Mitarbeiterin des Basler NFS Bildkritik eikones.
Klaus Schönberger: Prof. Dr. rer. soc. habil., Studium der Empirischen Kulturwissenschaft, Neueren Geschichte und Neueren Literaturwissenschaft in Tübingen und Aix-en-Provence. Promotion im Fach Empirische Kulturwissenschaft.
Habilitation und Venia Legendi für Kulturanthropologie / Volkskunde an der Universität Hamburg. Seit 2009 leitet er die Vertiefung Theorie am Departement Kunst und Medien an der Züricher Hochschule der Künste und hat die Dozentur Kultur- und Gesellschaftstheorie inne.
(Quelle: Verlagsinformationen)
Anika Keinz, Klaus Schönberger, Vera Wolff (Hg.)
Kulturelle Ãœbersetzungen
Reimer Verlag, erschienen Mai 2012
Gebunden, 256 Seiten
24,4 x 17,4 x 2,2 cm
ISBN: 978-3496028338
29,90 Euro
www.reimer-mann-verlag.de
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