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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.07.2012


Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Herausgegeben von Ursula Enders
Dana Strohscheer

Wo verläuft die Grenze zwischen einem verständnisvollen Verhalten von JugendtrainerInnen gegenüber Schutzbefohlenen und einem zu engen, verletzenden Kontakt? Was tun, wenn MitarbeiterInnen sich...




… auffallend häufig allein mit Kindern in einem Raum aufhalten? Ist es merkwürdig, dass KollegInnen immer wieder bereitwillig die ungeliebten Feiertagsschichten übernehmen und dadurch mit jungen HeimbewohnerInnen öfters allein sind?

Dieses Handbuch will nicht unbegründeten Verdacht schüren, aber ein zu wenig beachtetes Thema aufgreifen: Den sexuellen Missbrauch in öffentlichen Einrichtungen. Die AutorInnen klären darüber auf, dass es sich bei sexuellen Vergehen in Vereinen, kirchlichen Trägergruppen oder Jugendeinrichtungen keineswegs um "Einzelfälle" handelt, wie es in der Öffentlichkeit oft dargestellt wird, sondern dass sich viele TäterInnen gezielt diese "Schutzräume" suchen, um in direkten Kontakt zu Kindern und Jugendlichen zu kommen.

Mädchen immer noch stärker betroffen

Verlässliche Zahlen über sexuellen Missbrauch in Deutschland gibt es kaum, da die Dunkelziffer immer noch sehr hoch ist. Im Jahr 2010 wurden von der Kriminalpolizei 14.407 Fälle registriert. Zwei Drittel der Missbrauchsopfer sind Mädchen, wogegen 80 bis 90 Prozent der TäterInnen männlichen Geschlechts sind. Ungefähr die Hälfte der Opfer werden mehrmals missbraucht, teilweise sogar über Jahre. Zudem finden die Taten in allen sozialen Schichten statt und sind kein Phänomen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Zwischen 27 und 50 Prozent der Mädchen und zwischen 46 und 50 Prozent der Jungen werden im sozialen Umfeld der Familie missbraucht, wozu Jugendeinrichtungen, Schulen, Internate, Kindertagesstätten und Vereine zählen.

Über diesen Missbrauch in Institutionen gibt es keine Statistiken. Jedoch zitiert die Herausgeberin Ursula Enders ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen: von 324 Jungen, die als Sexualstraftäter auffällig wurden, begingen 17 Prozent ihre Taten in Heimen oder Einrichtungen der Jugendhilfe. Genau diesem vielschichtigen Bereich widmet sie gemeinsam mit elf Co-AutorInnen das Handbuch.

Handlungsweisen erkennen

So geht es darum, grenzverletzendes Verhalten auf Seiten von BetreuerInnen aufzuzeigen. Die VerfasserInnen erklären, wie Kinder und Jugendliche auf anzügliche Bemerkungen der Erwachsenen reagieren - sie tun erst einmal so, als ob sie nichts gehört hätten, da sie in diesen Situationen vollkommen überrumpelt sind. Bereits hier wird deutlich, dass einem eventuellen späteren Missbrauch bestimmte Strategien der TäterInnen vorausgehen, die den "Nährboden" bilden.

Die TäterInnen gewinnen oftmals das Vertrauen der potentiellen Opfer und schaffen psychologische Abhängigkeiten. Darauf folgen meist erste sexualisierte Gespräche, die Kinder oder Jugendlichen werden zu sexuellen Handlungen an sich selbst angeleitet, worauf später der Übergriff folgt, oftmals unter Einfluss von Alkohol. Ein weiterer Grundsatz kann lauten, dass zu den Eltern potentieller Opfer ein intensives Vertrauensverhältnis aufgebaut wird, damit Bekenntnisse des Kindes später als "Verleumdungen" dargestellt werden können.

Die AutorInnen benennen mögliche Zielgruppen der TäterInnen: So lassen sich sozial benachteiligte oder "gemobbte" Kinder leichter manipulieren. Auch geistig oder körperlich behinderte Kinder werden gezielt angesprochen, da diese sich noch weniger wehren können oder ihnen kaum Glauben geschenkt wird.

Institutionelle Rahmenbedingungen und Tipps

Enders geht auf begleitende Umstände in Institutionen ein, die Missbrauch begünstigen - ob es um abschließbare Räumlichkeiten handelt, in denen sich BetreuerInnen allein mit Schutzbefohlenen aufhalten, gemeinsames Duschen nach dem Sport ("Stell Dich nicht so an"), oder beliebte "Aufnahmerituale" in Sportvereinen, die schnell eine andere Konnotation bekommen können.

Auch den Bereich der sexuellen Übergriffe von Kindern und Jugendlichen untereinander deckt der Ratgeber ab. So wird deutlich, wie wichtig es als Elternteil ist, gerade bei kleineren Kindern genau hinzuhören, wenn sie auf einmal von heute auf morgen nicht mehr in die Kita oder die Schule gehen wollen, obwohl es vorher keine Probleme gab.

Den Umgang von Eltern oder Angehörigen mit dem heiklen Thema beleuchten die VerfasserInnen ebenfalls: "Gefühlsbetonte Reaktionen erleben die Opfer sexuellen Missbrauchs fast immer als große Belastung. Wütende und den Täter / die Täterin abwertende Reaktionen können betroffene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Loyalitätskonflikte bringen, denn fast immer verbinden sie mit der missbrauchenden Person auch positive Gefühle und Erinnerungen."

Darüber hinaus gibt der Band Einblick in "traumatisierte Institutionen" und in die Dynamiken, die sich dort entwickeln können. Es wird die Lage vor allem in Kindertagesstätten, Grundschulen und Kurkliniken erörtert, wo die Grenzen zwischen "Doktorspielen" und sexuellen Übergriffen eng beieinander liegen.

Ãœbersichtliche Handhabung

Begleitend zu den einzelnen Themenkomplexen veranschaulichen Fallbeispiele den praktischen Bezug. Comics erklären auf spielerische Weise die Themen und vorformulierte "Dienstanweisungen" ermöglichen es den Institutionen, sich besser zu schützen. Zu jedem Schwerpunkt sind Literaturhinweise und Internetadressen angegeben.

Denn Wissen hilft, das strategische Vorgehen der TäterInnen zu stoppen und sichere Orte für Mädchen und Jungen zu schaffen. Die klare Sprache des Buches überzeugt und vermittelt die Dringlichkeit, Grenzen zu achten, klare Unterstützung zu geben und besonnen zu handeln.

AVIVA-Tipp: Der Ratgeber sensibilisiert für das Thema des sexuellen Missbrauchs in Institutionen, vor allem bietet er konkrete Hilfestellungen an. Die Missbrauchsfälle der letzten Jahre haben gezeigt, dass diese Taten immer noch ein gesellschaftliches Tabu sind. "Das Undenkbare denken zu können" ist Ziel dieses Buches und damit nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für Institutionen, sondern auch für Eltern und Personen, die im sozialen Bereich arbeiten und tagtäglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben.

Zur Autorin: Ursula Enders, geboren 1953 im Sauerland, Diplom-Pädagogin und Traumatherapeutin, unterstützt seit mehr als 30 Jahren kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs. Sie ist Mitbegründerin und Leiterin von "Zartbitter Köln e.V.", der Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen. Seit Anfang der 1990er Jahre beschäftigt sie sich besonders mit dem Missbrauch in Institutionen. Sie hat zahlreiche Einrichtungen bei der Aufdeckung und Verarbeitung von sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen begleitet. Seit vielen Jahren engagiert Ursula Enders sich für das Recht betroffener Mädchen und Jungen auf Beratung und traumatherapeutische Hilfe sowie für den Schutz vor Missbrauch in Institutionen. Sie ist Autorin zahlreicher Kinderbücher und Fachpublikationen.

Ursula Enders (Herausgeberin)
Grenzen achten: Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen.
Ein Handbuch für die Praxis

Kiepenheuer & Witsch, erschienen im Februar 2012
Taschenbuch, 408 Seiten
ISBN: 978-3462043624
14,99 Euro
www.kiwi-verlag.de

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.zartbitter.de

www.wildwasser-berlin.de

www.tauwetter.de

beauftragter-missbrauch.de

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