Monika Goetsch - Grüne Witwe - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 18.12.2012


Monika Goetsch - Grüne Witwe
Claire Horst

Erinnerungen an die Jugend: Bei den meisten von uns lösen sie wahrscheinlich eine Mischung aus Schwermut, Glücksgefühlen und Scham aus. Aufregend war das alles damals, zugleich aber auch ein...




... bisschen peinlich, wie man sich benommen hat.

An manche Erlebnisse will mensch sich lieber gar nicht erinnern. Und neben den einfach nur unangenehmen zählen dazu oft auch traumatische Erfahrungen. In fast jeder Familie, in jeder Jugendclique gibt es so etwas, ein Ereignis, über das nicht gesprochen wird. Monika Goetschs Protagonistin Anna hält das kollektive Schweigen nicht mehr aus, hinter dem sich eine schwer zu ertragende Erinnerung verbirgt. Sie fährt nach Jahrzehnten zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort, wo etwas Schreckliches geschehen ist.

Erst ganz allmählich erfährt die Leserin, was es mit dieser schrecklichen Erinnerung auf sich hat. Zum Aufbau der Spannung nimmt Goetsch sich viel Zeit. In einer reduzierten und dennoch genau treffenden Sprache baut sie ihre Charaktere auf. Die Erzählerin Anna, eine Anwältin, die ihre ärmliche und bildungsferne Herkunft hinter sich gelassen hat, hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, als sie vom Selbstmord ihres Bruders Micha erfährt. Seinen Tod nimmt sie zum Anlass, um zurückzukehren in das Dorf, in dem sie aufgewachsen sind.

Auf einem Campingplatz mietet sie sich in einem Wohnwagen ein. Hier haben Anna und Micha einen ganzen Sommer verbracht, gemeinsam mit ihrer Clique, mit Susi, Joe, mit dem mysteriösen Komantschen und Frank, dem Außenseiter. "Keine Regel ist denen heilig, hat mein Mann immer gesagt, die kommen zum Saufen und Rumknutschen und hinterher findest du benutzte Kondome im Wald.", so beschreibt die Betreiberin des Campingplatzes die Clique, ohne zu wissen, dass Anna dazugehört hat.

Die Erzählung springt durchgehend hin und her zwischen der Jetztzeit, in der Anna versucht herauszufinden, warum ihr Bruder sich das Leben genommen hat, in der sie sich mit den alten Freundinnen und Freunden trifft, und der Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist durchsetzt von Gewalterfahrungen, den gewöhnlichen Konflikten, die die Pubertät mit sich bringt, und brutalen Auseinandersetzungen unter den Jugendlichen.

Abgeklärt und unaufgeregt lässt die Autorin ihre Protagonistin erzählen, kommt dabei ohne große Metaphern aus und zeichnet dennoch ein sehr differenziertes Bild der widersprüchlichen Gefühle, die Vergangenheitsbewältigung auslöst. Das gelingt ihr auch aufgrund der Mitleidslosigkeit, mit der Anna sich selbst betrachtet: "Zu Hause weinte meine Mutter weiter. Sie weinte den ganzen Nachmittag. Sie schützte sich nicht wie sonst mit dem Arm vor meinem Blick, sondern saß einfach weinend auf dem Sofa. Ich machte Hausaufgaben in meinem Zimmer, zwischendurch ging ich zu meiner Mutter hinüber, brachte ihr Taschentücher und ein Glas Wasser. Ich versuchte, sie an der Schulter zu berühren, sie schlug meine Hand weg. Ich dachte: Wie hässlich sie ist, wenn sie weint. Ich schämte mich."

Ganz allmählich beginnt die Leserin zu ahnen, warum die Erinnerung für Anna so schmerzhaft ist, warum Micha nicht der einzige Tote ist, den sie zu beweinen hat. Schon bald geht es ihr nicht mehr nur darum, die Geschichte ihres Bruders zu erkunden. Und so trifft sie auch auf die Mutter von Frank, der von der Clique immer nur gemobbt wurde, erinnert sich an ihre Liebesgeschichte mit dem Komantschen, die viel mit Unsicherheit und wenig mit Romantik zu tun hatte, kommt alten und neuen Lügen auf die Spur und muss sich schließlich auch eigenen Ängsten und Entscheidungen stellen.

Ein versöhnlicher Ton schließt die Erzählung ab, eine Erinnerung an die Kindheit, die viel positiver gefärbt ist als alle vorangegangenen: "Ein Hinweis darauf, dass alles nicht nur so, wie wir es uns jetzt erzählen, sondern auch ganz anders war und ist und sein könnte. Der Anfang einer neuen Spur." Und so ist "Die grüne Witwe" nicht nur die Erzählung einer Jugend, sondern vor allem eine Reflexion über die Erinnerung, eine Betrachtung darüber, wie wir uns selbst erzählen, uns ein Bild von uns selber machen und so unsere Persönlichkeit festschreiben.

AVIVA-Tipp: Behutsam erzählt, ist der zweite Roman von Monika Goetsch die eindringliche Beschreibung einer langsamen Heilung. Durch die zurückgenommene Erzählweise gelingt es der Autorin, die Angst ihrer Protagonistin vor den eigenen Verletzungen und Schuldgefühlen spürbar zu machen. Trotzdem bleibt eine gewisse Distanz zu den Figuren – nahe an sie heran kommt die Leserin nicht. Wie im Erstlingswerk "Wasserblau" steht auch hier wieder das Schweigen im Mittelpunkt – vielleicht liegt darin das Problem: Es bleibt schwierig, die erzählte Distanz in der Erzählhaltung zu überbrücken.

Zu der Autorin/Herausgeberin: Monika Goetsch wurde 1967 in Marburg geboren, wuchs in der Nähe von Freiburg im Breisgau auf und lebt in München. Sie studierte Literatur-, Theater- und Kommunikationswissenschaften in München, arbeitete in Hamburg und ist heute als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften tätig. (Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: www.monikagoetsch.de

Monika Goetsch
Grüne Witwe

Gebunden, 222 Seiten
Dörlemann Verlag, Zürich, erschienen 2012
ISBN 9783908777786
18,90 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Monika Goetsch - Wasserblau

Katharina Hagena - Vom Schlafen und Verschwinden

Marica Bodrozic - Kirschholz und alte Gefühle


Literatur

Beitrag vom 18.12.2012

Claire Horst