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Beitrag vom 28.12.2012
Martha Gellhorn - Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937-1987
Claire Horst
Unerschrocken und mutig wie ihre Texte sind auch die selbstkritischen Kommentare, mit denen die Kriegsreporterin Martha Gellhorn die Gesamtausgabe ihrer Zeitungsbeiträge versah. Als vollkommen naiv…
... stellt sie sich selbst in jungen Jahren dar, als unbedarfte Schriftstellerin, die ohne große Vorbereitung nach Europa ging, um für eine amerikanische Zeitung aus dem Spanischen Bürgerkrieg zu berichten.
Schnell stellt sie fest, dass sie die eigenen Überzeugungen völlig über den Haufen werfen muss – weder ihr Pazifismus noch ihr Glaube an die Kraft des Journalismus halten der Realität stand. Dem Faschismus ist nicht beizukommen, indem nur vom Frieden gesprochen wird, und journalistische Texte bewirken – rein gar nichts. Diesen Ernüchterungen zum Trotz macht Gellhorn weiter und ist in den folgenden 50 Jahren auf allen großen Schlachtfeldern der Welt anwesend.
Es sind aber nicht nur ihr Mut und ihr guter Riecher für die wichtigen Momente, die ihre Texte auszeichnen. Gellhorn kann schreiben wie kaum eine andere. Ihre Reportagen sind lyrisch und punktgenau zugleich, informieren über das Geschehen hinter den Kulissen und lassen die Realität des Krieges auch auf der anderen Seite der Welt nachvollziehbar erscheinen. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen immer die Menschen, denen sie begegnet. Selbst wenn sie von einem Manöver berichtet, sind es nicht Befehlshaber und Kanonentypen, die sie beschreibt, sondern sie angespannten Gesichter einfacher Soldaten oder die zerlumpten Kleider der Kinder, auf die sie trifft.
Dass sie solche Texte schreiben konnte, hing natürlich auch mit den völlig anderen Bedingungen des Journalismus zusammen. Welche Zeitung würde heute noch 15 Seiten für einen beinahe literarischen Bericht aus dem Afghanistan-Krieg oder aus dem Sudan-Konflikt einräumen? Wer würde sich für einen Text interessieren, der nicht auf die Kosten fokussiert, die ein Feldzug mit sich bringt, sondern Einzelheiten wissen wollen zu den Lebensbedingungen der Opfer auf ziviler und militärischer Seite?
Martha Gellhorn beschreibt Alltagsbilder aus dem bombardierten Spanien, von den Schlachtfeldern Vietnams, erzählt einfach von den Eindrücken, ihren Gesprächen mit Familien, von der Großmutter, deren Enkel auf dem Weg zum Schlangestehen um Nahrungsmittel von einem Granatsplitter am Hals getroffen wird, von der erschütternden Ruhe, mit der die Großmutter nur noch seine Leiche nach Hause bringt. Sie erzählt von drei polnischen Männern, die mit einer unfassbaren Lakonie von dem Elend erzählen, das die Deutschen über sie und noch viel mehr über die polnischen JüdInnen gebracht haben. Sie berichtet, ohne davon ein Aufsehen zu machen, von ihrer eigenen Tätigkeit als Minenräumerin, weil sie den verantwortlichen Soldaten nicht alleinlassen wollte, erzählt von den unzähligen Leichen und Verletzten auf einem Lazarettschiff, das die Opfer der Invasion der Normandie einsammelt.
Es sind erschütternde Berichte, nicht nur wegen der Geschehnisse, von denen sie erzählen. Erschütternd ist vor allem die Sprache, in der Gellhorn sie ablegt – eine Sprache, die sie auch in ihren literarischen Werken, vor allem Novellen, verwendet hat. Lesenswert ist daher sicherlich die gesamte Reihe von Gellhorns Schriften, die der Dörlemann-Verlag nach und nach herausbringt.
Gellhorn versucht an keiner Stelle, der in Deutschland verbreiteten Überzeugung nachzukommen, JournalistInnen müssten neutral bleiben, dürften sich mit keiner Sache gemein machen, auch keiner guten. Dass sie dennoch selten urteilt, dient dem reinen Überleben: "Das Gefühl des Irrsinns verstärkte sich in mir, bis ich aus Gründen geistiger Hygiene alle Versuche aufgab, darüber nachzudenken oder zu urteilen, und zu einem wandelnden Tonbandgerät mit Augen wurde. Die beste Möglichkeit für alle Menschen, sich im Kriege ihren Verstand wenigstens halbwegs zu bewahren, besteht, denke ich, darin, daß sie ihre Urteilskraft zu einem großen Teil abschalten, ihre Sensibilität weitgehend ablegen, beim kleinsten Anlaß lachen und ein bißchen, aber zunehmend, verrückt werden."
AVIVA-Tipp: Martha Gellhorns Kriegsreportagen sollten zur Pflichtlektüre werden. Sie eignen sich zur Information über die jüngere Geschichte ebenso wie als Lektion in Menschlichkeit. Ob in China, Finnland, bei der Befreiung von Dachau oder im Sechstagekrieg, wo immer die Autorin mit den grauenhaften Eindrücken, mit der kaum zu beschreibenden Wirklichkeit konfrontiert ist, gelingt ihr das eigentlich Unmögliche: die Bestialität der Menschheit mit nichts als dem eigenen Kugelschreiber zu bekämpfen. Obwohl sie keinerlei Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der Menschheit hat ("Wenn sie durch die Hölle des Zweiten Weltkriegs nicht klüger werden, wodurch dann?"), gibt sie nicht auf. Ihre Courage ist ebenso bewundernswert wie ihre Texte einzigartig und berührend.
Zur Autorin: Martha Gellhorn wurde am 8. November 1908 in St. Louis geboren. Sie studierte in Bryn Mawr, ging 1930 nach Paris. 1937 folgte sie Ernest Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg. Bis zum Ende des Kalten Krieges war sie bei jedem wichtigen internationalen Konflikt an vorderster Front dabei, um als Kriegsreporterin darüber zu berichten. Martha Gellhorn starb auf eigenen Wunsch am 16. Februar 1998 im Alter von 90 Jahren in London.
(Verlagsinformationen)
Martha Gellhorn
Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937–1987
Dörlemann Verlag, erschienen im August 2012
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
576 Seiten. Leinen mit Leseband
24,90 Euro
ISBN 978-3-908777-77-9
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