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Beitrag vom 24.04.2013
Anja Röhl - Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike
Bärbel Gerdes
Eine Terroristin als Lichtgestalt in der Wahrnehmung eines Mädchens – in ihrer autobiographischen Skizze zeichnet die Dozentin und Theaterrezensentin Anja Röhl ein anderes Bild von Ulrike Meinhof.
"Haut heißt Haut, weil man drauf haut" stellt Anja Röhl ihrem Buch voran – ein Zitat ihres Vaters, der diesem Satz Taten folgen ließ. Ein weiteres Zitat steht direkt darunter. Darin erklärt Klaus Rainer Röhl, Journalist, Publizist und ehemaliger Herausgeber und Verleger der Zeitschrift "Konkret", dass da nichts dran sei und zwar allein schon deshalb nicht, weil er viele Frauen hatte und mit Ulrike eine hocherotische Beziehung geführt habe: Schon von daher gab es keinen Anlass.
K.R. Röhl gab diese Erklärung dem Stern im Jahre 2010, nachdem seine Tochter Anja Röhl im Mai desselben Jahres in derselben Zeitschrift von den sexuellen Übergriffen, dem jahrelangen verbalen und physischen Missbrauch durch ihren Vater berichtet hatte. Wer diesen Bericht liest, der/dem schnürt sich die Kehle zu.
Anja Röhl, 1955 in Hamburg geboren, ist das einzige Kind ihrer Eltern, die getrennt leben. Immer wieder erlebt sie heftige Streitereien, das Toben ihres Vaters, das Weinen ihrer Mutter, wenn der Vater zu Besuch kommt. Klaus Rainer Röhl kommt einmal in der Woche zum Papitag - so jedenfalls ist es geplant. Oft kommt er nicht oder zu spät, und das Mädchen wartet stundenlang oder vergebens. Wenn er schließlich kommt, fährt er sie mit seinem Sportwagen durch die Gegend und sieht Frauen hinterher. Dabei erklärt er seiner Tochter, wie man eine Frau küsst und erobert, wie Haut und Beine sein müssen, wie kalt blonde Frauen seien und dass er sie alle haben könnte.
Die Mutter möchte ihrer Tochter gegenüber alles besser machen, als sie selbst es erlebt hat. Als allein erziehende Frau in den fünfziger Jahren reibt sie sich zwischen Beruf, Haushalt und Erziehung auf – auch sie sieht sich auf gemeinsamen Spaziergängen und Einkäufen nach dem anderen Geschlecht um.
Das Kind besucht den Kindergarten. Auch dort herrschen schreckliche Erziehungsmethoden, Beschimpfungen, Zwangsfütterungen ...
Eines Tages lernt Anja Röhl bei ihrem Vater eine Frau kennen, Ulrike Meinhof. "Die Frau ist ruhig und nett". Sie spricht sanft mit dem Kind, ist verständnisvoll und offen. Zum ersten Mal fühlt sich das Kind ernst- und wahrgenommen.
Meinhof und Röhl, das in den sechziger Jahren wohl prominenteste linke JournalistInnenpaar, machten aus der Zeitschrift konkret eine der auflagenstärksten politischen Zeitschriften. Anfangs finanziert mit Mitteln der DDR, entwickelte sich das Blatt zum Sprachrohr der 68er-Bewegung. Da zunehmend auch DDR-kritische Artikel erschienen, wurden die Zahlungen eingestellt. Die Auflagenstärke nahm aber nicht ab – im Gegenteil: Röhl veröffentlichte vermehrt sexualisierte Artikel und Abbildungen nackter Frauen, was die männliche Linke kräftig goutierte.
Dem gegenüber standen die zahlreichen Artikel und Kolumnen Ulrike Meinhofs, die sich mit gesellschafts- und kapitalismuskritischen Fragen auseinandersetzten.
1961 heiraten Röhl und Meinhof, 1962 kamen ihre Zwillingstöchter zur Welt.
Konsequent aus der Sicht des Kindes, später des Mädchens und der jungen Frau, schildert Anja Röhl ihr Heranwachsen zwischen den stetig zunehmenden Übergriffen des Vaters und der Wärme und Anteilnahme, des Bestärkens und Vertrauens ihrer Stiefmutter. Die Erzähltechnik aus der dritten Person heraus gibt dem Buch den Charakter eines distanzierten Berichts, die Verwendung des Präsens erzeugt den Eindruck von Gegenwärtigkeit.
Die Rezensentin fühlte sich, als folge sie einer Person in die Erinnerung, als stiegen Anja Röhl Episode um Episode erinnerter Erlebnisse und traumatisierender Ereignisse auf. Viele Aussagen ihres Stern-Artikels finden sich im Buch wieder. Schrecklich ihre Heimaufenthalte, furchtbar der widerliche, alle Grenzen überschreitende Vater, grausam die innere Einsamkeit des Mädchens.
Und vielleicht ist es dieser pechschwarze Hintergrund, der Ulrike Meinhof so überdimensioniert als Lichtgestalt erscheinen lässt. Ulrike lacht viel, weiß viel und kann alles erklären, Vor Ulrike braucht das Kind keine Angst zu haben, nie schreit sie, immer spricht sie geduldig. Wenn Ulrike dabei ist, hat das Mädchen keine Angst vor dem Vater, denn Ulrike bändigt ihn, sie weist ihn mit wenigen Worten in die Schranken. Dieses allzu deutliche Gutsein Ulrike Meinhofs macht die Leserin skeptisch. Wo, so fragt sie sich, war diese, als Anja Röhl ins Heim kam? Wo war sie, als der Vater seine sexistischen, sexualisierten Bemerkungen machte? Warum blieben die vehementen Übergriffe unbemerkt? Oder doch nicht?
Lässt sich die Entführung ihrer Zwillinge durch RAF-Mitglieder im Mai 1970 neu und anders interpretieren? Ging es Ulrike Meinhof darum, die Kinder vor dem väterlichen Missbrauch zu schützen und in Sicherheit zu bringen?
Anja Röhls Buch sollte ursprünglich "Die Mutter meiner Schwestern" heißen. Doch eine der Zwillingsschwestern drohte juristische Schritte unter Berufung auf ihr Persönlichkeitsschutzrecht an. Zahlreiche Passagen wurden aus dem Buch gestrichen. Als jedoch gefordert wurde, die Halbschwestern müssten gänzlich unerwähnt bleiben, sah sich der Verlag zwar gezwungen, den Streichungsforderungen nachzukommen, sie wurden aber als Ausdruck des Protestes mit Schwärzungen versehen.
In einem Gespräch mit Ulrike Timm im Deutschlandradio Kultur erzählt Anja Röhl, ihr sei es darum gegangen, dem Bild, das ihr Vater öffentlich von Ulrike Meinhof gezeichnet hat, ihr eigenes gegenüberzustellen. Sie erlebte ihre Stiefmutter ganz anders, da sie anders ist als alle ihr bekannten Erwachsenen. Von ihr fühlte Anja Röhl sich verstanden. Keineswegs ginge es ihr darum, die Terroristin Ulrike Meinhof zu repräsentieren. Sie habe deshalb diesen rückhaltlosen Subjektivismus gewählt.
Nicht jede Erinnerung wird von anderen geteilt. Je nach Blickwinkel verzweigt sich das Erinnerte in der persönlichen Erzählung, heißt es in der Vorbemerkung des Verlages. Anja Röhls Buch schenkt uns einen anderen Blick auf Ulrike Meinhof.
AVIVA-Tipp: Das Buch zeigt Ulrike Meinhofs nicht-öffentliche Seite, erinnert an die Erziehung der fünfziger und sechziger Jahre und macht erschreckend deutlich, wie unbehelligt gewalttätige Väter weiterleben.
Zur Autorin: Anja Röhl, geboren 1955 in Hamburg arbeitet als freie Dozentin und Theaterrezensentin für die junge Welt und Ossietzky. Sie hat drei Kinder. Mehr Infos unter: www.anjaroehl.de
Anja Röhl
Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike
Edition Nautilus, erschienen Februar 2013
156 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-89401-771-2
18 Euro
Weiterhören:
"Sie hat sich ausgezeichnet dadurch, dass sie gut zuhören konnte"
Ulrike Meinhof aus der Perspektive eines Kindes in dem Buch "Die Frau meines Vaters". Anja Röhl im Gespräch mit Ulrike Timm auf Deutschlandradio Kultur.
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