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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.05.2014


Emmanuèle Bernheim - Alles ist gut gegangen
Ahima Beerlage

Der Pariser Kunstsammler André Bernheim erleidet einen schweren Schlaganfall und bittet seine Tochter, die Schriftstellerin und Drehbuchautorin, "Ich möchte, dass du mir hilfst, Schluss zu machen."




In ihrem autobiografischen Roman zeichnet sie mutig und offen noch einmal diesen schweren Weg bis zum Tod ihres Vater nach.

Emmanuéle Bernheim erhält 2008 einen Anruf. Ihr Vater, ein angesehener Kunstgalerist, hat mit 88 Jahren einen Schlaganfall erlitten. Als sie in der Klinik eintrifft, findet sie ihn rechtsseitig gelähmt, verwirrt und mit bis zur Unverständlichkeit verschliffener Sprache vor. Nach dem ersten Schock nährt sie immer wieder ihre Hoffnung, dass alles wieder in Ordnung kommt.

Ihr Vater, der charmante, egoistische große Junge, der sich der Liebe aller Geschlechter, dem Genuss und der Kunst verschrieb, hat bereits mehrere lebensbedrohliche Situationen überstanden. "Jedes Mal, wenn er so eben wiederhergestellt war, fuhr er weit weg, ... Und dann, zehn, vierzehn Tage, manchmal drei Wochen später, kam er von seiner Reise zurück, mit rundem Gesicht und in Hochform."

Nach diesem Schlaganfall ist alles anders. Zwar erholt sich der Vater etwas, aber er bleibt pflegeabhängig, muss Windeln tragen. Vollmachten müssen erteilt werden, weil der Vater sich nur schwer verständlich machen und kaum noch schreiben kann. Emmanuéle muss sich mit ihrer Schwester Pascale um alles kümmern. Die Mutter ist keine Hilfe. Sie leidet unter Parkinson und schweren Depressionen. Die Rollen verkehren sich. Die Kinder werden zu Fürsorgenden für die Eltern. Emmanuéle muss medizinisches Vokabular enträtseln.

Der Vater wird seinem ehemals vitalen Ebenbild immer fremder, magert ab, weil er nicht schlucken kann. André will so nicht leben. "Ich möchte, dass du mir hilfst, Schluss zu machen." Der erste Satz, den er klar und deutlich ausspricht, seit er den Schlaganfall erlitten hat. Ein Schock für die Tochter. Als sie sich nach einer Weile der behandelnden Ärztin anvertraut, fällt dieser nur ein, die Antidepressiva zu erhöhen. Eingehen auf den Wunsch des Patienten? Undenkbar in Frankreich. Auch als sich Emmanuéle bei anderen Institutionen umhört, stößt sie nur auf Hindernisse. Solange ihr Vater keine unerträglichen körperlichen Schmerzen erleidet, so heißt es, kann nichts unternommen werden. Hilft sie ihm, macht sie sich strafbar. Als sie ihrem Vater ihre Ratlosigkeit erklärt, bleibt er unnachgiebig. Er will unbedingt verschwinden. Wie sie das bewerkstelligt, ist ihm egal. Der große Junge, für den der größte Schmerz war, seine Mutter zu verlieren, will auch dieses Mal seinen Willen bekommen.

Emmanuéle findet schließlich einen Verein in der Schweiz, der es Menschen ermöglicht, sich selbstbestimmt zu töten. Dazu müssen Papiere zusammengestellt werden: die Krankengeschichte, ein medizinisches Gutachten und eine Adresse, an die die Urne geschickt werden soll. Der Tod des Vaters wird zum grotesken Verwaltungsakt.
Obwohl die Töchter ihn um Diskretion bitten, um die Justiz nicht auf sich aufmerksam zu machen, will der Vater sich persönlich von Verwandten, FreundInnen und WeggefährtInnen verabschieden. Eine Verwandte aus den USA setzt den lebensmüden André und seine Töchter moralisch unter Druck, die Selbsttötung aufzugeben. André hält dem Druck nicht stand, windet sich mit der Lüge, seine Töchter wollten seinen Tod, aus der Affäre. Dass er damit seine Töchter der Gefahr aussetzt, strafrechtlich verfolgt zu werden, blendet er aus.
Es kommt, wie es Emmanuéle befürchtet hat. In letzter Minute werden sie und ihre Schwester Pascale auf die Polizeiwache gerufen. Eine anonyme Anzeige wegen geplanter Sterbehilfe liegt gegen die Schwestern vor. Noch einmal fürchtet Emmanuéle, die Reise verschieben zu müssen. Doch der Vater lässt das nicht zu. Seine Töchter sollen gefälligst mit den Folgen umgehen. Er will nur noch sterben. Das gelingt ihm letztendlich auch. Emmanuéle erhält die Nachricht. "Alles ist gut gegangen." Für ihren Vater.

Der selbstbestimmte Tod ist in der modernen Gesellschaft immer noch ein moralisches und juristisches Schlachtfeld. Während die Medizin alles daran setzt, das Leben um jeden Preis zu verlängern, kommt die Gesetzgebung und die Moral nicht mehr hinterher. Sterbende sollen verständlicherweise davor geschützt werden, dass der Tod von Menschen mit falschen Zielen herbeigeführt wird.

Einen Roman dazu zu schreiben, der auch noch auf Tatsachen beruht, ist ein mutiger Schritt. Die Klippen sind falsche Melodramatik, Kitsch oder Düsternis. All das hat Emmanuéle Bernheim gekonnt umschifft.
Bernheim, die als Script-Doctor für das französische Fernsehen Drehbücher überarbeitet, mit Michel Houellebecq dessen Roman "Plattform" fürs Kino umgesetzt hat und zusammen mit François Ozon dessen Filmen "Unter dem Sand" oder "Swimmingpool" entwickelt hat, lebt hier von ihren Drehbucherfahrungen. Keine Statements erzeugen die Beklemmung, in die eine solche Situation führt, sondern starke Bilder für den quälenden Alltag, die grotesken Situationen zwischen Leben und Tod, Gesetz und Freiheit und die trotzige Fokussierung des Sterbewilligen.

AVIVA-Tipp: Emmanuèle Bernheim hat in ihrem autobiografischen Roman ein mutiges Buch geschrieben, das einen tiefen Einblick in eine der größten Herausforderungen für ein Kind bietet. Ein unheilbar kranker Vater bittet darum, mit ihrer Hilfe sterben zu dürfen. Die bloße Beschreibung dieser Situation ist stärker als jeder Appell, die Situation Sterbewilliger und ihrer Angehörigen zu überdenken. Ein lesenswertes Buch, das jeden falschen Pathos meidet und tief berührt.

Zur Autorin: Emmanuèle Bernheim, geboren 1955, ist Japanologin und lebt als freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Paris. Sie arbeitet für das französische Fernsehen als Script-Doctor und an eigenen Drehbüchern. Mit Francois Ozon schrieb sie die Drehbücher für "Unter dem Sand" (Sous le Sable), "5x2 - Fünf mal zwei" und "Swimming Pool". Mit Claire Denis arbeitete sie an "Vendredi soir". Sie schrieb zahlreiche Romane, die in 25 Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen "Der rote Rock" (2002) und "Stallone" (2003).

Zur Übersetzerin Angela Sanmann , geboren 1980 in Iserlohn. Studium der Germanistik, Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris. Arbeitet an ihrer Promotion im Fach Komparatistik an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Nantes. 2006 erschien ihr Gedichtband "stille. verkaspert". Sie erhielt das Goldschmidt-Stipendium für junge LiteraturübersetzerInnen.

Emmanuèle Bernheim
Alles ist gutgegangen

Orginaltitel: Tout s´est bien passé (2013)
Aus dem Französischen von Angela Sanmann
Hanser Berlin, erschienen 03.02.2014
Fester Einband, 208 Seiten
ISBN 978-3-446-24499-3
18.90 Euro
Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-446-24579-2

www.hanser-literaturverlage.de





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