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Beitrag vom 27.05.2014
Yoko Tawada - Etüden im Schnee
Claire Horst
Ein Roman, in dem der Berliner Eisbär Knut als denkender und sprechender Protagonist auftaucht? Wer ein einziges Mal die hingerissene Knut-Fangemeinde erlebt hat, die zu dessen Lebzeiten ...
... Zoo, Talkshows und Radiosendungen unsicher machten, hat an diesem Plot wahrscheinlich zunächst wenig Interesse – es sei denn, sie oder er gehört selbst zu den Knut-VerehrerInnen.
Weil dieser Roman aber von Yoko Tawada stammt, bleibt die Geschichte von Knut und einigen weiteren Eisbären vollkommen frei von jeder Niedlichkeitsattacke, verzichtet auf Berliner Lokalkolorit und folgt eher den Spuren der KritikerInnen an dem seltsamsten Starkult des letzten Jahrzehnts als diesen noch weiter zu beflügeln.
Während Tawadas Knut ein Naivling ist, hilflos auf seinen Pfleger angewiesen und von anderen Tieren im Zoo belächelt und verlacht, sind seine weiblichen Vorfahren starke Persönlichkeiten. Die Großmutter ist eine Tanzbärin in der UdSSR, die die Zirkuslaufbahn aufgibt, zur Büroangestellten und später erfolgreichen Autorin wird. Ihren Alltag verbringt sie auf Konferenzen zur "Bedeutung der Fahrräder für die Volkswirtschaft" oder über die "Arbeitsbedingungen der Künstler". Eine Parodie auf die Planwirtschaft, die auch die Kunst nur als Mittel der Revolution zulassen will? Oder doch eher eine märchenhafte Variante der Migrationsgeschichte vieler deutschsprachiger SchriftstellerInnen?
Mit ihrem Schicksal als Autorin hadert diese Bärin zumindest genauso, wie es jede menschliche Schriftstellerin tut: "Die Schriftstellerei war eine Akrobatik, die gefährlicher war als der Tanz auf einem dahinrollenden Ball.", oder: "Das Schreiben kostete mich genauso viel Kraft wie eine Jagd." Und auch das Gefühl der Bärin, sich in einer vollkommen neuen Welt zu bewegen, lässt sich nicht nur auf in zwei Sprachen schreibende Autorin Tawada übertragen: "Über zehn Jahre lang arbeitete ich pausenlos in einer Hitze, die keinen Winter zuließ. Alles, was mich belastete und verletzte, verwandelte sich sofort in Dünger für meine Karriere. (...) Mein Repertoire wurde immer breiter, mein Wortschatz immer größer, aber ich erlebte nie wieder eine so große, erhellende Überraschung wie damals, als ich zum ersten Mal begriff, was die Bühnenkunst bedeutete."
Mag sein, dass Tawada manchmal einen Seitenhieb auf die Ignoranz der deutschen Literaturkritik austeilt, die vor kurzem schon wieder über die besonderen Pflichten und Aufgaben "migrantischer" SchriftstellerInnen debattierte: "Allerdings lobte kein Literaturkritiker die poetische Qualität meiner Autobiografie. Es ging beim Lob um ganz andere Kriterien, von denen ich keine Ahnung hatte."
Tawadas Bärinnen-Figuren sind auf der Wanderschaft, setzen sich mit absurden Identitätsdebatten auseinander oder sind moralistischen Anfeindungen ausgesetzt, die auch als homophob interpretiert werden können. So besteht der größte Trick von Toska, der späteren Mutter von Knut, im "Todeskuss", bei dem sie ihrer Dompteurin ein Zuckerstück aus dem Mund "küsst". Nicht nur in den USA löst diese Szene Tumulte aus. Vorgeblich aus Hygienegründen wird sie verboten, doch die Bärin lernt, "dass wir nicht der Hygienebehörde die Schuld geben sollten, denn sie wurde durch eine fundamentalistische, religiöse Gruppe, die unseren Kuss nicht dulden wollte, unter Druck gesetzt. (...) Anscheinend stimmt die Annahme, dass die Pornografie beim Homo sapiens im Kopf der Erwachsenen existiere." Interessanterweise beruht diese Geschichte – wie viele in dem Buch – auf realen Begebenheiten, wie diese aufschlussreiche Rezension belegt: japanische-literatur.blogspot.de
Humor war immer ein tragendes Element von Tawadas Werken und spielt auch hier eine zentrale Rolle: "Nach der Wende hätte man mich vielleicht Rabenmutter genannt, aber damals gab es viele Mütter, die nicht anders konnten, als ihre Kinder in die öffentlichen Hände abzugeben und sie nur am Wochenende zu besuchen. (...) Die Mutterliebe war nur als Mythos bekannt. Die Kirchen waren geschlossen, in denen die heilige Maria ihr Kind vorbildlich im Arm hielt. (...) Es tat mir so leid, dass Toska nach der Wende hart kritisiert wurde, weil sie ihren Sohn Knut verstieß."
Am Ende versöhnt Tawada sogar die Knut-HasserInnen mit ihrer leisen Erzählung von der einsamen Figur, die, verlassen von allen, die sie einst kannte, in ihrem Betonkäfig den Schneeflocken zusieht und traurig sinniert: "Es gibt Menschen, die einen Polarbären verachten, der noch nie am Nordpol gewesen ist. Aber der Malaienbär ist auch nich nie auf der Maaiischen Halbinsel gewesen, und die Kragenbärin war noch nie in Sasebo, wo die Soldaten hohe Kragen tragen. Wir alle kennen nur Berlin, und das ist kein Grund, uns zu verachten. Wir sind halt alle Berliner."
AVIVA-Tipp: Merkwürdig wie immer, ist der neue Roman von Yoko Tawada zugleich ein Familienepos, eine Politsatire und ein Märchen von der Einsamkeit des Menschen – oder des Bären. Die feinschichtigen Ebenen der Erzählung spiegeln sich auch im Layout des Buches mit Fotos von weißen Fellstrukturen, Schneeflocken in Vergrößerung oder Eisschollen wider.
Zur Autorin: Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt seit 1982 in Hamburg, seit 2007 in Berlin. Studium der Literaturwissenschaften in Tokyo und Hamburg, Promotion. Erste literarische Veröffentlichungen 1986 in "Japan-Lesebuch". Erste Buchveröffentlichung in Deutschland 1987 ("Nur da wo du bist da ist nichts"), in Japan 1992 ("Sanninkankai"). Sie schreibt in deutscher und japanischer Sprache. Bis 2013 erschienen 22 Bücher in deutscher Sprache. Zahlreiche Literaturpreise. (Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: yokotawada.de
Yoko Tawada
Etüden im Schnee
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, erschienen 15.03.2014
320 Seiten, Klappenbroschur, Fadenheftung, einige Bilder
ISBN 978-3-88769-737-2
Euro 12,90
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