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Beitrag vom 05.06.2014
Andréa del Fuego - Geschwister des Wassers
Helga Egetenmeier
Jenseits von Favelas und Fußball zeichnet die Autorin ein Bild des ländlichen Brasilien, das in seiner Intensität die unüberbrückbar erscheinende Kluft zwischen Arm und Reich...
... des fünftgrößten Staats der Erde widerspiegelt.
In ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, für den sie im Jahr 2011 als zweite Frau den renommierten portugiesischen Literaturpreis "Prémio José Saramago" erhielt, nimmt sich del Fuego der facettenreichen Entwicklung Brasiliens an. Mit der Widmung "Für die Figuren der Geschichte" umarmt sie ihre drei verwaisten ProtagonistInnen, die Teil ihres siebenjährigen Schaffensprozesses und auch ihrer Familiengeschichte sind.
Durch einen Blitz, der die Eltern Nachts zuhause im Bett tötet, verändert sich schlagartig das Leben der Geschwister Malaquias. Rücksichtslos verfrachtet der mächtige Großgrundbesitzer Passos die vierjährige Júlia und den sechsjährigen Antônio in das Waisenhaus französischer Missionsschwestern in der nahegelegenen Stadt. Den neunjährigen Nico behält er als billige Arbeitskraft auf seiner Kaffeeplantage und eignet sich zudem ganz selbstverständlich das kleine Erbe der drei Kinder an.
Für den zwergwüchsigen Antônio finden die Jesuitenschwestern keine Adoptivfamilie, doch die Ablehnung durch die "Großen" lässt ihm den Freiraum, eine nicht nur männlich konnotierte Eigenständigkeit zu entwickeln. Für Júlia interessiert sich eine reiche Matriarchin, die ihre zukünftige Adoptivtochter, "Ihre Manieren, das Äußere, das Rohmaterial." genau begutachtet, bevor sie sie der Missionsschule als billige Haushaltshilfe abnimmt.
Als Júlia, die bisher nur zu Kirchgängen das Haus verlassen durfte, gegen den Willen ihrer Adoptivmutter heimlich verschwindet, um zur Hochzeit ihres Bruders Nico zu fahren, bei dem sich nun auch Antônio aufhält, wird sie verstoßen. Doch Júlia gelingt es nicht, die Stadt zu verlassen, um ihre beiden Brüder und das renovierte kleine Elternhaus wiederzusehen. Sie scheitert mehrfach und schlägt sich schließlich als Toilettenfrau und Schneiderin innerhalb des Ortes durch.
Weder den StädterInnen noch den LandbewohnerInnen fällt es in del Fuegos Roman leicht, ihren Ort zu verlassen, alle haben sich in ihrer Welt eingerichtet. Nur der Bau eines Staudammes vertreibt die meisten Menschen, arm wie reich, vom überschwemmten Land in die Stadt. Der Großgrundbesitzer stellt sich in den Dienst des Stauseeprojektes und bleibt auch hier der Gewinner, denn "Geraldo erhielt eine Provision für jede Familie, die er überzeugte. Er beabsichtigte, ein Geschäft in der Stadt zu eröffnen und von dem neuen Wohlstand, der sich abzeichnete, zu profitieren".
"Abgesehen von den Malaquias waren die Leute dort dunkel wie wild lebende Säugetiere." Genauer bestimmt die Autorin weder die Zeit noch den Ort des Geschehens, sondern verweist auf die hellhäutigen portugiesischen Vorfahren der drei Waisenkinder, die damit eine Ausnahme an ihrem Geburtsort sind. In einem 3sat-Interview auf der Frankfurter Buchmesse 2013 mit Ariane Binder macht sie als möglichen Ort ihres Romans auf den durch seinen Bergbau bekannten Bundesstaat Minas Gerais aufmerksam. Die die Geschichte strukturierende Rolle des Staudamms erinnert jedoch auch an das seit vierzig Jahren umstrittene Wasserkraft-Megaprojekt Belo Monte, das große Teile des Amazonasrandgebietes unter Wasser setzen soll.
In der Geschichte der "Os Malaquias", so der Originaltitel, ziehen die Brüder auf der Suche nach ihrer Schwester weiter, als der Stausee sich in sein ursprüngliches Bett zurückzieht. Mit solch phantastischen Momenten, unterstützt durch den Perspektivenwechsel bei jedem der dreiundsiebzig kurzen Kapitel, gewinnt die Geschichte an Fahrt, folgt den reduzierten Emotionen der Menschen und vermeidet dabei konsequent jede offensichtlich körperliche Brutalität.
Andréa del Fuego war eine der zweiundzwanzig weiblichen Schriftstellerinnen auf der Frankfurter Buchmesse 2013, die zu den siebzig geladenen AutorInnen des Ehrengastes Brasilien gehörte. Zu wünschen ist, dass diese Aufmerksamkeit und die anstehende Fußballweltmeisterschaft samt Olympiade 2016 eine größere Auswahl an Übersetzungen brasilianischer AutorInnen bringt, die den LeserInnen die Vielfalt brasilianischer Literatur jenseits des Sensationsjournalismus erfahren lässt.
AVIVA-Tipp: Mit feinen Gesten und klaren Sätzen zeichnet Andréa del Fuego ein literarisches Gesellschaftsbild Brasiliens, das die Weite des Landes jenseits von Sao Paulo und Rio de Janeiro erfasst. Historisch unbestimmt baut sie gekonnt Facetten der brasilianischen Verhältnisse in eine tragische Familiengeschichte, die durchaus parallel zu den Lebensumständen in der weltbekannten "City of God" existiert. Wer mehr von Brasilien verstehen will, der oder dem bietet dieser Roman eine kurzweilige Gelegenheit, die sich beim zweiten Lesen noch vertieft.
Die Autorin: Andréa del Fuego, geboren 1975 als Andréa Fátima dos Santos in Sao Paulo, nahm das Pseudonym "del Fuego" am Anfang ihrer Karriere an, als sie 1988 für die Zeitschrift eines Radiosenders von Sao Paulo Glossen verfasste und LeserInnenfragen zu Sex-Themen beantwortete. Sie studierte Journalismus und betätigt sich seit dem Jahr 2000 als literarische Bloggerin. Dazu veröffentlichte sie in zahlreichen Anthologien, ist Autorin von Kurzgeschichten und Büchern für Kinder und Jugendliche.
Die Autorin im Netz: Blog (pt) andreadelfuego.wordpress.com
Die Übersetzerin: Marianne Gareis, geboren 1975, studierte Lateinamerikanistik, Anglistik und Ethnologie. Mit langen Reisen durch Lateinamerika, Brasilien und mehreren Jahren in Portugal vertiefte sie ihre Sprach- und Literaturkenntnisse und übersetzte u.a. auch José Saramago.
Die Ãœbersetzerin im Netz: www.marianne-gareis.de
Andréa del Fuego
Geschwister des Wassers
Originaltitel: Os Malaquias
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
Carl Hanser Verlag, erschienen im Juli 2013
Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, 208 Seiten
ISBN-13: 978-3-446-24331-6
17,90 Euro
www.hanser-literaturverlage.de
Weitere Infos unter:
Brasilianische SchriftstellerInnen auf der Frankfurter Buchmesse 2013
3sat-Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse: www.3sat.de
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