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Beitrag vom 10.06.2014
Katja Petrowskaja - Vielleicht Esther
Lisa Sophie Kämmer
Hatte sie wirklich Esther geheißen? Einfühlsame literarische Tiefenbohrungen in die eigene Familiengeschichte legen Namen einer fernen Vergangenheit frei, in die kein Weg mehr zurückführt.
Wie ist es gewesen und was, wenn alles anders verlaufen wäre? Nach dem Tod ihrer Tante und der anschließenden Erkenntnis, sich mittels persönlicher Gespräche nicht mehr den "Windmühlen der Erinnerung" stellen zu können, sind es diese Fragen, die die Autorin Katja Petrowskaja umtreiben.
Um die Geschichte ihrer jüdischen Familie, deren Mitglieder sie zeitlebens an einer Hand abzählen konnte, in der Folge nachzuzeichnen, begibt sich die 1970 in Kiew geborene Journalistin auf die Suche nach den eigenen Wurzeln. Im Zuge ihrer Recherchen führt es sie zuerst nach Warschau, wo ihr Urgroßvater zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Schule für Taubstumme leitete. Das Unterrichten taubstummer Kinder wird von Petrowskaja dabei mit unverkennbarer Anerkennung besonders herausgestellt, handelte es sich doch um eine altruistische Tätigkeit, die ihre Verwandten mütterlicherseits bereits in der siebten Generation ausübten.
Von Polen, wo ihre Vorfahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebten und um deren "westliche" Herkunft sie von der jungen Sowjetbürgerin Petrowskaja Jahrzehnte später beneidet wurden, verschlägt es die Autorin schließlich in ihre Geburtsstadt. In der "Weiberschlucht" von Babi Jar vernimmt sie retrospektiv die letzten Lebenszeichen ihrer Urgroßmutter und Großtante, bevor die beiden an einem sonnigen Herbsttag 1941 von deutschen und ukrainischen Soldaten ermordet wurden. Das titelgebende Kapitel "Vielleicht Esther" bildet hierbei das Herzstück dieser intimen Reise in die Vergangenheit. Basierend auf einer Zeugenaussage unternimmt Petrowskaja darin den Versuch, die letzten Stunden ihrer namenlosen Urgroßmutter zu rekonstruieren, die schließlich mit der Erschießung der gebrechlichen Frau im besetzten Kiew enden. Ob sie wirklich Esther geheißen hatte, bleibt offen.
Wie prekär die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte letztlich ist, lässt Petrowskaja ihre LeserInnen umstandslos wissen. Um eine "totale Rückkehr, wie im Märchen vom goldenen Schlüssel, der auf dem Boden eines Sumpfes liegt und eine Tür aufschließen soll", handelt es sich demnach keinesfalls. Die eigenen Recherchen stellen vielmehr eine nie enden wollende Sisyphusarbeit dar, durch die neue Fragen aufgeworfen werden, die als solche keine klaren Ergebnislinien erkennen lassen. Überdies negiert die Suche nach den eigenen Wurzeln, die für Petrowskaja längst zur Sucht geworden ist, persönliche Erwartungshaltungen und Imaginationen; sie entrinnt gewissermaßen den eigenen Händen und offenbart so eine "Vergangenheit, die lebt, wie sie will" . Dass die Gewissheit dabei jedoch immer auch in der Vermutung lebt, ist wohl eine der schönsten Schlussfolgerungen dieser lebensbejahenden Familienbiografie.
Zur Autorin: Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaft und Slawistik. Nach ihrer Promotion an der Universität Moskau ging sie nach Berlin, wo sie gegenwärtig als Journalistin für deutsche und russische Print- und Netzmedien arbeitet. Für ihr Werk "Vielleicht Esther" erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis.
AVIVA-Tipp: Katja Petrowskajas "Vielleicht Esther" entführt die LeserInnen in eine bildreiche und klangvolle Welt der Vergangenheit, die in der Realität längst verstummt ist. In assoziativen Bildern und authentischen Dialogen erzählt die Autorin die Geschichten einfacher Menschen, deren Hoffnungen, Glückseligkeiten und Ängste mit jeder Seite regelrecht spürbar und deren Schicksale so in besonderer Weise erfahrbar werden. Anhand einer Vielzahl intimer Lebensgeschichten, die durch private Dokumente aus Archiven und privaten Sammlungen erhellt werden, präsentiert sich der Leserin so ein großartig erzähltes Panorama des 20. Jahrhunderts.
Katja Petrowskaja
Vielleicht Esther
Suhrkamp Verlag, erschienen am 10.03.2014
288 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-518-42404-9
19,95 Euro
www.suhrkamp.de
Weitere Infos unter:
Katja Petrowskaja liest "Vielleicht Esther"
Katja Petrowskaja im Gespräch, 12.05.2014 Bayerisches Fernsehen
Videoporträt, Lesungen und Diskussionen der Bachmannpreis-Autoren 2013
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