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Beitrag vom 18.06.2014
A.M. Homes - Auf dass uns vergeben werde
Britta Meyer
Harry hat seinen jüngeren Bruder George nie gemocht. Kein Wunder, denn dieser ist ein jähzorniger, rücksichtsloser Narzist. Darum wundert es auch niemanden wirklich, als er nach einem selbst...
... verschuldeten Autounfall mit unkontrollierten Wutanfällen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird.
Zurück bleibt George´s perfekte Vorzeigefamilie in der gepflegten Villa am Stadtrand. Der zurückhaltende Harry versucht nach Kräften, seine Schwägerin Jane und die beiden Kinder zu unterstützen – nicht ganz uneigennützig, denn eigentlich ist er seit Jahren heimlich in Jane verliebt. Dies beruht auf Gegenseitigkeit und noch bevor der Monat verstrichen ist, hat er ohne viel Aufhebens mehr oder weniger George´s Platz eingenommen. Während beide erfolgreich verdrängen, wie sie damit umgehen sollen, dass es da noch einen cholerischen und beängstigend gewalttätigen Ehemann und Bruder gibt, kehrt wieder eine Art häusliche Ruhe ein.
Bis Harry eines Nachts plötzlich wach wird, um den aus der Anstalt entkommenen George über sich und Jane stehen zu sehen...
Was bedeutet Verwandtschaft?
"Auf dass uns vergeben werde" beginnt mit einem wahr gewordenen Alptraum und setzt eine Katastrophe an den Anfang seiner Erzählung, die mensch traditionell eher als Höhepunkt eines Spannungsbogens erwarten würde. Als die Polizei und der Krankenwagen weg sind, ist Jane´s Geschichte brutal zu Ende gegangen – Harry hat Glück, seine beginnt gerade erst. Der verschrobene Collegedozent, der zufrieden damit war, bis in Kleinste das Leben und die Persönlichkeit des Ex-Präsidenten Richard Nixon zu erforschen, hat keine Zeit zu trauern. Zwei traumatisierte Heranwachsende müssen versorgt, Papiere ausgefüllt, eine Beerdigung organisiert, die Miete gezahlt und eine Scheidung eingereicht werden. Während er mit den absurd erscheinenden Erwartungen des Alltags kämpft, sich in Ablenkungen und Abhängigkeiten verzettelt und im Try-and-Error-Verfahren lernt, ein guter Vaterersatz zu werden, wachsen er, seine Nichte und sein Neffe besser zu einer neuen Familie zusammen als erwartet.
Schnell zurück zur Normalität, bitte
Der schöne Schein der Vorstadt mag durch Wahnsinn und Mord kurz gewackelt haben, aber nach einigen höflichen Beleidsbekundungen gehen alle wieder zur Tagesordnung über und lassen die Betroffenen mit den Scherben allein. Deren Situation ist umso surrealer, da sie nicht existenzbedrohend ist: wo weniger wohlhabenden Menschen jetzt zu ihren psychischen Verletzungen noch der finanzielle Ruin bevorstünde, verändert sich der gewohnte Lebensstandard für Harry und die Kinder nicht. Die Annehmlichkeiten der gehobenen Mittelklasse bleiben ihnen samt Klimaanlage, Internat und Urlaubsreisen erhalten. Auch wenn hier schon lange nichts mehr "normal" ist, das neu entstandene Bild einer funktionalen Familie wird von der restlichen Welt willig akzeptiert.
Besonders irritierend zeichnet A.M. Homes die Art, mit der Außenstehende George´s Taten begegnen. Egal was er tut und wie viele Menschen er mit seinen Ausbrüchen umbringt, es wird entschuldigt, abgewiegelt und rationalisiert, was das Zeug hält. Vielleicht wird er sogar eines Tages als geheilt aus der Psychiatrie entlassen.
AVIVA-Tipp: Der Erzählrhythmus von "Auf dass uns vergeben werde" ist zunächst ungewohnt, wenn nach anfänglichem Worst-Case-Szenario eine von hartnäckigem Chaos durchzogene Alltagsruhe einkehrt. Homes´ bitterböser Humor und die lakonische Gelassenheit ihrer Charaktere gegenüber im Grunde unerträglichen Situationen bringen aber auch dann noch zum Lachen, wenn eigentlich gar nichts mehr lustig ist. Ein skurril-glaubhaftes Drama.
Amy Michael Homes, geboren 1961 in Washington D.C., schrieb ihren ersten Roman "Jack" im Alter von 19 Jahren, 1993 wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Ihre Werke wurden mittlerweile in 22 Sprachen übersetzt, ihre bekanntesten Romane sind "Das Ende von Alice" (1996), "Dieses Buch wird Ihr Leben retten (2007) und "Die Tochter der Geliebten" (2008), eine literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer eigenen Adoption. Sie erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, unter anderem die "Guggenheim Fellowship", die "National Endowment for the Arts Fellowship".
"Auf dass uns vergeben werde" gewann 2013 den "Women´s Prize for Fiction".
Mehr Infos unter:
www.amhomesbooks.com
A.M. Homes
Auf dass uns vergeben werde
Titel der Originalausgabe: May We Be Forgiven
Aus dem amerikanischen Englisch von Ingo Herzke
Kiepenheuer & Witsch Verlag, erschienen am 08.03.2014
Gebunden, 672 Seiten
ISBN: 978-3-462-04610-6
Preis: 22,99,- Euro
www.kiwi-verlag.de
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