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Beitrag vom 01.07.2014
Zeina Abirached - Ich erinnere mich
Julia Lorenz
Frisurendesaster, Kugelhagel und Wagners Symphonien: Wenn Graphic-Novel-Künstlerin Zeina Abirached ("Das Spiel der Schwalben") an ihre Kindheit in Beirut zurückdenkt, erinnert sie sich an...
... mehr als den Bürgerkrieg. Und zwar an ihre Familie, NachbarInnen und FreundInnen, die für lichte Momente in unmenschlichen Zeiten gesorgt haben.
Die Erinnerung, so scheint es, ist den Menschen so heilig wie verhasst. Jean Paul behauptete einst, die Erinnerung sei "das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können". "Die Erinnerung ist die einzige Hölle, in die wir schuldlos verdammt sind", setzte ihm der Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler entgegen. Die libanesische Illustratorin und Graphic-Novel-Künstlerin Zeina Abirached beweist den alten Herren mit ihren Werken, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt.
Schon einmal erinnerte sie sich: An ihre Kindheit im libanesischen Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 wütete, an ihre frühen Jahre in Beirut, an die Straßen, die begrenzt von der "Green Line" - jener Demarkationslinie, die das christlich geprägte Ost-Beirut vom muslimischen Westen der Stadt trennte - zum Labyrinth wurden. Vor allem aber erinnerte sie sich an die NachbarInnen in ihrem Elternhaus und deren Eigenheiten, ihre kleinen und großen Geheimnisse, ihre Tricks, mit der Angst vor dem nächsten Anschlag umzugehen. Zeina Abiracheds Graphic Novel "Das Spiel der Schwalben", die 2013 in Deutschland erschien, kleidet Zeitgeschichte in intime Anekdoten und eröffnet einen radikal subjektiven Zugang zu einer Kindheit im Ausnahmezustand. Genau darin liegt auch die Stärke ihres neuen Werks "Ich erinnere mich", das einen biografischen Bogen vom Libanon bis ins Frankreich des Jahres 2006 spannt.
In reduzierten, Schwarz-Weißen Zeichnungen erzählt die Künstlerin vom Beirut ihrer Jugend. Anders als im Vorgängerwerk ist der Bürgerkrieg nicht mehr das zentrale Motiv, bleibt jedoch allgegenwärtig. Zum Beispiel, wenn Zeinas Mutter es leid ist, die von Schüssen durchlöcherte Windschutzscheibe ihres Renaults ersetzen zu lassen und sich stattdessen mit einer Sonnenbrille vor dem Fahrtwind schützt. Oder wenn der Vater lieber mit düsteren Wagner-Symphonien auf Maximallautstärke die NachbarInnenschaft verärgert, als sich das Chaos auf der Straße anzuhören. Es gibt ein Wiedersehen mit Charakteren aus "Das Spiel der Schwalben" wie dem liebenswerten Intellektuellen Ernest oder dem Kindermädchen Anhala, aber auch neue Episoden aus Zeina Abiracheds Leben wie ihre Jahre in Paris.
Immer sind Abiracheds Memoiren eher Bewusstseinsstrom als Chronik.
Erinnerungen an geliebte Fernseh-HeldInnen, die erste Zahnspange und die alten Verpackungen der KitKat-Schokoladenriegel stehen gleichberechtigt neben Rückblenden, aus denen sich die Entbehrungen und Schrecken des Krieges erahnen lassen. Für einen jungen Menschen im Bürgerkrieg, so vermittelt die Künstlerin, kann ein Friseurbesuch mit desaströsem Ergebnis ebenso das Ende der Welt bedeuten wie für alle anderen Teenager auch.
Stilistisch verlässt sich Abirached auf ihre bewährte Mischung aus ornamentaler Opulenz und Minimalismus. Es bedarf nur einem Schnörkel, einer Locke der charakteristischen Haarpracht, mit der die Künstlerin ihr graphisches Alter Ego ausstattet, um "Ich erinnere mich" als Zeina Abiracheds Werk zu identifizieren. Vom naheliegenden Vergleich mit der Iranerin Marjane Satrapi, deren autobiographische Werke wie "Persepolis" ebenfalls in geradlinigem Schwarz-Weiß gehalten sind, schwimmt sich Abirached durch ihr Spiel mit orientalistischen Klischees frei: Die Künstlerin weiß um die gängige Erwartungshaltung an die Ästhetik des "geheimnisvollen Orients" und begegnet dieser mit viel Humor.
Überhaupt ist es Zeina Abiracheds Gespür für liebevolle Ironie und leisen Witz, das ihre Erinnerungen auszeichnet. Nie gibt sie die Betroffenheitsautorin, immer behält sie ihren subtilen, augenzwinkernden Ton bei. Welche Wirkungsmacht das Unausgesprochene hat, weiß sie schließlich selbst: "Ich erinnere mich, dass meine Mutter täglich mehrere SMS schickte, um mich zu beruhigen", entsinnt sich Abirached im Rückblick auf ihre ersten Jahre in Paris, in denen sie oft um ihre Familie im Libanon bangte. "Aber ich weiß, dass das, was sie erlebt haben, in all den SMS steckt, die sie mir nie geschickt hat".
AVIVA-Tipp: Erneut lässt Zeina Abirached ihre Kindheit im libanesischen Bürgerkrieg Revue passieren, erneut ist ihr eine so bewegende wie humorvolle Graphic Novel geglückt, an deren Detailverliebtheit mensch sich kaum sattsehen kann. "Ich erinnere mich" zeigt, welche Spuren der Krieg im Alltag eines Kindes hinterlässt, auch wenn die Gefechte vorüber sind.
Zur Autorin: Zeina Abirached wurde 1981 in Beirut geboren. Nach ihrem Studium an der Académie Libanaise des Beaux-Arts ALBA zog sie mit Anfang Zwanzig nach Frankreich, um ihre Ausbildung an der École nationale supérieure des arts décoratifs fortzusetzen. "Ich erinnere mich" ist nach "Das Spiel der Schwalben" ihre zweite Graphic Novel, die in deutscher Übersetzung erscheint. Zeina Abirached lebt und arbeitet in Paris.
Website der Autorin: www.zeinaabirached.ultra-book.com
Zeina Abirached
Ich erinnere mich
Erste Auflage erschienen 2008 bei Cambourakis, Paris
Aus dem Französischen von Paula Bulling
Avant-Verlag, Berlin, erschienen im Mai 2014
96 Seiten, Schwarz-Weiß, Softcover
ISBN 978-3-939080-99-2
www.avant-verlag.de
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