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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 24.08.2014


Selja Ahava - Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
Doris Hermanns

Anna blickt als alte Frau blickt zurück auf ihr Leben, in dem sie sich nach dem Tod ihrer großen Liebe wie aus der Welt gefallen fühlt, sie erinnert dabei schöne wie schwere Momente.




"Anna war die Zeit zwischen den Händen zerfallen. Wie eine Flickendecke lag sie auf ihren Knien, alle Stücke gleich groß und weit voneinander entfernt. Anna betrachtete sie verwundert, ohne darin eine größere Logik zu erkennen."

Der Verlust ihres Geliebten Antti, der seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben gehört hatte, war für Anna kaum zu ertragen, jeder Tag enthielt für sie ein Stück Tod und er "brachte sich auch in all dem in Erinnerung, was nicht getan worden war". Anna sieht nur die Möglichkeit, weiterzugehen, dies zumindest zu versuchen. Sie verlässt Finnland und wagt in London einen Neuanfang mit Thomas, auch wenn die wilde Natur ihr dort fehlte, wie so vieles, das sie von zu Hause kannte. "Das einzig Wilde, was man in London fand, war die Stadt selbst." Letztendlich fragt sie sich, was sie dort tut. Und wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, aus der Welt zu fallen, geht sie spazieren. "Wegzugehen, in Bewegung zu bleiben, als würde das gegen die Unruhe helfen."

An einem Abend auf dem Nachhauseweg sah sie einen Wal, der sich in die Themse verirrt hatte, mit anderen Fahrgästen im Bus kommt sie über ihn ins Gespräch. "Dies war ein Tag, den niemand vergessen würde. Sie hatten miteinander den Tag geteilt, an dem ein Wal durch London schwamm".

Anna verliert immer wieder Stücke ihrer Erinnerung, flüchtet sich aber stattdessen in eine Art Traumwelt. Sind es erst vor allem Kinder, die sie herbeiphantasiert, so sind es später in Finnland Bären, die in ihrer Wohnung wohnen. Die Gedanken laufen ihr immer wieder davon. So wie sie selber auch Thomas verlässt und beginnt, durch die Stadt zu laufen und auf der Straße zu leben. Anlass hierfür ist, dass sie in der Zeitung einen Artikel über einen Jungen liest, der unter Hunden aufgewachsen war und über den Antti jahrelang einen Dokumentarfilm gedreht hatte. Nach sieben Jahren unter den Menschen war er nun wieder zu den Hunden zurückgekehrt. "Irgendwo gab es noch jemanden, den Antti zurückgelassen hatte, jemanden, der auch aus den Fugen geraten war, einen Vierbeinigen." Letztendlich kehrt Anna zurück nach Finnland.

Wie auch für Sofia in Lena Goreliks "Die Listensammlerin" so ist für Anna das Schreiben von Listen eine gute Methode, um inne zu halten und sich zu sammeln. So wie sie Listen erstellt, versucht sie auch ihre Umgebung so genau wie möglich zu beschreiben und dabei Unnötiges und Undeutliches zu vermeiden.

Abwechselnd aus der Perspektive von Anna als alter Frau, der immer mehr Stücke in ihrem Gedächtnis fehlen und die schließlich nicht mehr selbständig wohnen kann, und Rückblicken auf ihr Erwachsenenleben, wird ihre Lebensgeschichte anschaulich erzählt. Dabei spielen Erinnerungen und der Verlust selbiger eine große Rolle. Sie verlor Sachen, Stunden und Wörter. Nichts gelang ihr später noch wie früher, die Einzelheiten waren aus den Fugen geraten. Sie versteht nicht mehr, warum neuerdings alles so durcheinander war, sie möchte einfach nur gewöhnliche Tage haben.

"Es gab Tage, an denen sie kaum wusste, wer sie war. Tage, an denen sie den Mund aufmachte und nicht wusste, welche Sprache herauskommen würde. Jemand schlich ihr hinterher, leise und unabweislich, und aß Stücke ihres Gedächtnisses auf. Wo Stücke fehlten, wurden Steine hineingestopft, und dann wurden die Löcher zugenäht."

AVIVA-Tipp: Ein mit beeindruckenden Sprachbildern geschriebener berührender Roman, der leise und eindringlich von Erinnerungen erzählt, die langsam verloren gehen, und was dies für den Alltag bedeuten kann.

Zur Autorin: Selja Ahava, 1974 geboren, studierte Dramaturgie an der Theaterhochschule Helsinki und schrieb Drehbücher für Filme und Fernsehserien sowie Hörbücher, bevor sie mit Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ihren ersten Roman veröffentlichte. Sie hat fünf Jahre in London verbracht und lebt seit ihrer Rückkehr nach Finnland mit ihrer Familie in Porvoo. (Verlagsinformationen)
Zum Übersetzer: Stefan Moster, geboren 1964 in Mainz, lebt als Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Espoo, Finnland. Er übertrug u.a. Werke von Hannu Raittila, Kari Hotakainen, Petri Tamminen und Daniel Katz ins Deutsche. Stefan Mosters Romane erscheinen im mareverlag, zuletzt Die Frau des Botschafters (2013).

Selja Ahava
Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

Originaltitel: Eksyneen muistikirja
Ãœbersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster
Mareverlag, erschienen 2014, 2. Auflage
Gebunden mit Umschlag, 224 Seiten, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-86648-182-4
Euro 20,00
www.mare.de

Finnland als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2014:
finnlandcool.fi





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Beitrag vom 24.08.2014

Doris Hermanns