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Beitrag vom 15.10.2014
Samar Yazbek - Die Fremde im Spiegel
Claire Horst
International bekannt wurde Samar Yazbek mit ihrem 2012 veröffentlichten Tagebuch, in dem sie die syrische Revolution protokollierte. In ihrem ersten Roman wirft sie einen scharfen Blick auf...
... die streng hierarchisch geordnete syrische Gesellschaft.
Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt ihrer Erzählung, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Hanan gehört der gebildeten und wohlhabenden Oberschicht an. Mit ihrem viel älteren und schwerkranken Cousin führt sie eine lieblose, gleichgültige Beziehung – beschlossen wurde die Ehe von der Familie. Hanans Leben ist von Bedeutungslosigkeit geprägt:
"Diese Leute langweilten sie. Ihr ganzes Leben langweilte sie. Gleichzeitig konnte sie all das, woran sie sich gewöhnt hatte, nicht mehr aufgeben: ihr gesetztes Leben, die Soireen der höheren Gesellschaft, auf denen sie sich bewegte wie eine verwöhnte Prinzessin, ihre ganzen Bedürfnisse und ihr Einkaufstick."
Einzige Ablenkung von ihrem Leben – sie hat weder Kinder noch einen Beruf –, sind die Frauenpartys bei "Madame Nasik", an denen ausschließlich Frauen teilnehmen. Nasik hat Hanan einst verführt: "Plötzlich machte sie die Erfahrung, wie es ist, wenn man das Aufgehen der Sonne kaum erwarten kann und freudig aus dem Bett springt, um das Haus zu verlassen." An den Abenden bei Nasik erlebt Hanan Liebe zwischen Frauen – Zuneigung und Nähe erfährt sie nur hier. Doch auch wenn diese Partys und die heimlichen lesbischen Liebesbeziehungen, die diese Frauen neben ihren Ehen führen, als Ausweg aus der patriarchalen Unterdrückung erscheinen: Stärker als dieses Befreiungsmoment ist die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft.
Denn nicht mit Nasik, sondern mit dem jungen Dienstmädchen Alia führt Hanan eine langjährige sexuelle Beziehung. Und diese Beziehung ist weniger von Liebe und Zuneigung geprägt als von gegenseitiger Abhängigkeit und Ausbeutung. Denn Alia wurde als Achtjährige von ihrem gewalttätigen Vater an Hanan verkauft. Seither muss sie nicht nur das Haus putzen, sondern auch das Bett ihrer Herrin teilen.
Keine der beiden Protagonistinnen ist wirkliche Identifikationsfigur für die Leserin, keine der beiden ausschließlich Täterin oder Opfer. Denn so abstoßend die Handlungsweise Hanans, die das kleine Mädchen zur eigenen sexuellen Befriedigung nutzt, so mitleiderregend ihre eigenen sexuellen Erfahrungen. Denn auch sie ist Opfer ihrer gesellschaftlichen Rolle und hat wenige Möglichkeiten, sich den Erwartungen der Umgebung zu widersetzen. Ihre Hochzeit mit ihrem nur als "Krokodil" bezeichneten Cousin hat sie als unabwendbares Schicksal erlebt. Davon erzählt sie im Rückblick:
"Sie dachte nicht weiter an den bevorstehenden Schmerz und die Angst der Mädchen vor dem ersten Mal. Sie wusste, dass die Frauen dazu erschaffen waren, Schmerzen zu ertragen, wie ihre Mutter sich auszudrücken pflegte. Und am besten war es, den Schmerz stillschweigend zu erdulden, ihm stur, gleichmütig und gelassen zu begegnen."
Alia gegenüber tritt Hanan dafür als Gebieterin auf. Doch Alia, die eine harte Kindheit in tiefster Armut verbracht hat, weigert sich, die Rolle der Untergebenen unwidersprochen auszufüllen. Und so dreht sich ihr Verhältnis schnell um: Alia beginnt eine heimliche Affäre mit dem Mann ihrer Chefin, um sich selbst als machtvoll empfinden zu können. Als Hanan das entdeckt, zerbricht die fragile Beziehung zwischen den beiden Frauen. Alia landet auf der Straße, hinausgeworfen von ihrer Geliebten und Arbeitgeberin. In Rückblenden reflektieren beide ihren bisherigen Lebensweg, der in beiden Fällen keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung bot.
Die Brutalität eines kapitalistischen Systems, in dem die Ärmsten der Armen kaum über den eigenen Körper verfügen, die Erbarmungslosigkeit einer Gesellschaft, in der schon Kleinkinder lernen, sich mit körperlicher Gewalt zu behaupten, überschattet Alias Erinnerungen an ihre Kindheit und Familie. Und dass Hanan zu den GewinnerInnen dieses Systems gehört, ändert nichts an der Lähmung, die mit den Rollenzuschreibungen an sie als Frau verbunden ist.
AVIVA-Tipp: Schonungslos schildert Yazbek eine Gesellschaft, die von Abhängigkeiten und eingrenzenden Rollenerwartungen geprägt ist. Gleichzeitig zeigt sie eine Welt auf, in der auch die Unterdrückten – ob Frauen oder Angehörige der unteren Klassen – für Entscheidungsfreiheit kämpfen und sich nicht widerspruchslos den Erwartungen fügen. Mit seiner klaren und schnörkellosen Sprache wirkt Yazbeks Roman fast wie das Protokoll realer Ereignisse. Auf Metaphern und Umschreibungen verzichtet sie völlig.
Zur Autorin: Samar Yazbek wurde 1970 in Dschabla (Syrien) geboren. Sie studierte Literatur, veröffentlichte Romane und Erzählungen und engagierte sich als Journalistin für BürgerInnenrechte und die Rechte der Frauen. Außerdem ist sie Herausgeberin der Online-Zeitschrift "Women of Syria" und Autorin der Gruppe Beirut 39. Als im März 2011 die syrische Revolution beginnt, schreibt Yazbek ein Protokoll der Protestbewegung. Sie befragt DemonstrantInnen, aus der Haft entlassene DissidentInnen, aber auch Polizisten und Militärs. Bald wird sie selbst verfolgt und vom syrischen Geheimdienst massiv eingeschüchtert. Als sie erfährt, dass ihr Name auf einer Todesliste steht, flieht sie mit ihrer Tochter ins Ausland. 2012 erhielt sie den britischen PEN/Pinter Prize International Writer of Courage und in Schweden den Tucholsky-Preis. (Verlagsinformationen)
Samar Yazbek
Die Fremde im Spiegel
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Mit einem Nachwort der Ãœbersetzerin
Originaltitel: Ra´ihat al-Qirfa
Nagel & Kimche, erschienen im August 2014
Fester Einband, 160 Seiten
ISBN 978-3-312-00632-8
17,90 Euro
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