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Beitrag vom 19.11.2014
Vanessa F. Fogel - Hertzmann´s Coffee
Robin Schmerer
"Glückliche Familien haben keine Vergangenheit". Nach dem Debütroman "Sag es mir" erzählt die Autorin in ihrem zweiten Roman "Hertzmann´s Coffee" eine Lebensgeschichte zwischen den Kontinenten.
Von gutem Kaffee und bösen Kindern
Für Yankele Hertzmann bricht eine Welt zusammen. Über viele Jahre hat er in New York ein florierendes Kaffeeunternehmen aufgezogen, das er nun an die nächste Generation weitergeben will. Zum Erstaunen des alten Mannes sorgt dies jedoch für Neid, Missgunst und Streitereien unter seinen Kindern. "Kaputte Familien gibt es überall. Besonders, wenn Geld im Spiel ist. Aber ich habe immer gedacht, wir wären anders", muss er resigniert feststellen. Bei all dem Gezeter schenkt niemand dem Familienoberhaupt ein Ohr, weshalb sich Yankele eines Nachts vor eine Videokamera setzt und seine Lebensgeschichte zu erzählen beginnt. Im Internet veröffentlicht, finden die Videos mit den Erinnerungen des 85-jährigen schnell ein breites Publikum. Zusammen mit den Zuschauer_innen tauchen auch die Leser_innen ein in die bewegende Vergangenheit des Holocaust-Überlebenden, erfahren von der fortwährenden Liebe zu seiner Frau Dora und lernen nebenbei viel über die Herstellung von Kaffee.
Neben New York führt der Roman seine Leser_innen auch nach Berlin und Caracas. In Deutschland folgen sie dem 16-jährigen Enkel Hertzmanns, der gegen seinen spießigen Bruder und die ebenso spießigen Eltern rebelliert und seinen Platz im Leben sucht. Wie jedoch der junge Mann aus Venezuela, der auf den Tod seiner ins Koma gefallenen Mutter wartet, mit dem Kaffeehändler aus New York in Verbindung steht, bleibt zunächst ein Geheimnis. Erst ganz am Ende des Romans führt die Autorin die einzelnen Erzählstränge zusammen und sorgt auf diese Weise für Spannung. "Was Familiengeschichten so spannend macht ist ja", so Fogel, "dass sie komplex und zusammengewürfelt sind und aus verschiedenen Blickwinkeln bestehen. Es wäre daher ungerecht gewesen, das Buch aus nur einer Perspektive zu schreiben – ungerecht gegenüber dem Plot, den Figuren und den Lesern." Das Spiel mit verschiedenen Erzählperspektiven war für Vanessa F. Fogel zugleich herausfordernd und befreiend. Man werde gewissermaßen ganz zu der Figur, aus deren Sicht man schreibe, erklärt sie.
Fogels erster Roman Sag es mir entstand noch auf Wunsch des Großvaters, eines polnischen Juden, der ähnlich wie Yankele Hertzmann seine Lebensgeschichte erzählen wollte. In Hertzmann´s Coffee erzählt die 33-jährige nun eine fiktive Familiengeschichte, die dennoch gewisse Parallelen zu ihrer eigenen Vita aufweist:
Anfang der 80er Jahre in Frankfurt am Main geboren, wandert sie als kleines Mädchen mit den Eltern nach Israel aus. Seit etwa zehn Jahren lebt die Tochter einer Architekt_innenfamilie in den USA und in Tel Aviv. An der Cornell University studierte Vanessa F. Fogel Komparatistik, an der Bar-Ilan Universität Englisch mit Fokus auf kreatives Schreiben. Auch im Bereich der bildenden Kunst war Vanessa F. Fogel tätig und arbeitete für Kunstgalerien, als Chefredakteurin des Graphis-Magazins und für einen anerkannten Videokünstler. Während sich Fogel im Jugendalter keiner Kultur so recht zugehörig fühlte, empfindet sie heute anders: "Es lebt sich sehr gut mit drei Kulturen im Herzen – mein Leben und auch das Konzept von Heimat erscheinen mir als wunderschönes Mosaik."
So wie der Kaffee, den Yankele Hertzmann vertreibt, einen langen Weg hinter sich hat, bis er in den Tassen seiner Kund_innen landet, so ist auch er als Firmengründer einen weiten Weg gegangen, an dem er die Leser_innen teilhaben lässt. Hertzmanns Liebe zum Kaffee scheint dabei ebenso stark wie die Liebe zu seiner Frau, so dass die Autorin ihrer Figur wunderbare Vergleiche in den Mund legt. So breitet sich etwa Yankeles Hoffnung, dass sich der Familienzwist doch noch zum Guten wendet, in ihm aus wie Milch, die man in eine Tasse Kaffee gießt. Die Autorin ist selbst leidenschaftliche Kaffeetrinkerin, hat während ihres Studiums als Barista gearbeitet und denkt gerne an die vielen interessanten Kund_innen zurück, die sie besonders während ihrer Nachtschichten bedient hat. Ihr Großvater habe seinen Kaffee immer kochend heiß getrunken, erinnert sich Fogel.
Ausgangspunkt für den Roman war jedoch ihr Wunsch, eine Geschichte über Geschwisterbeziehungen zu schreiben. In der Erzählung sind sowohl Hertzmanns Kinder als auch dessen Enkel verkracht. Während erstere alle Ich-bezogen um das Recht der Firmenführung kämpfen, fühlt sich einer der Enkel von den Eltern vernachlässigt und glaubt, sein Bruder werde ihm vorgezogen. Eine gänzlich andere Geschwisterbeziehung schildert der Erzählstrang aus Caracas. Dort muss der junge Venezolaner José-Rafael den frühen Tod seines Bruders verarbeiten. Ihn ängstigt, dass er nach dem bevorstehenden Verlust der Mutter ganz allein zurück bleibt.
"Glückliche Familien haben keine Vergangenheit", erklärt Hertzmanns Frau Dora und versucht ihren Mann vom Erzählen der eigenen Lebensgeschichte abzuhalten. Doch glückliche Familien liefern auch in den seltensten Fällen den Stoff, aus dem interessante Romane gemacht sind. Und so bleibt die Vergangenheitsbewältigung glücklicherweise auch in Vanessa F. Fogels zweitem Roman ein wichtiges Thema.
Wie schon in ihrem Erstlingswerk ist auch in Hertzmann´s Coffee die Verarbeitung des Holocaust ein zentraler Aspekt. "Als Angehörige der dritten Generation nach dem Holocaust verfüge ich über mehr Distanz, was mich neugierig macht und mir erlaubt, die Dinge zu untersuchen", erklärt Fogel die fortwährende Beschäftigung mit dem Thema. "Diese Geschichte handelt nicht vom Krieg", betont indes Yankele Hertzmann. "Der Krieg ist nur ein unvermeidlicher Teil davon. Wie es mit dem Krieg immer ist." Ähnlich geht es Vanessa F. Fogel, deren Schreibprozess durch aktuelle Geschehnisse beeinflusst wird. Im letzten Sommer erlebt sie in Tel Aviv den Krieg vor der eigenen Haustür. Eine sehr bedrückende Zeit für die junge Frau. Sie lasse allerdings nicht zu, dass diese Entwicklungen ihren Alltag allzu stark beeinträchtigen. "Wo immer man lebt, lebt man sein Leben…bis es endet."
Doch Fogels neuer Roman ist keineswegs nur ernste Rückschau. Dafür sorgen Hertzmanns Enkel Marc mit seinem frechen Mundwerk, und der rüstige Yankele selbst. Mit seiner liebenswürdigen Art erinnert der alte Mann bisweilen an die Figur eines Woody Allen Films, klagt über Gebrechen und genießt dennoch sein Leben in vollen Zügen. Besonders die liebevolle Beziehung zu seiner Frau Dora zaubert den Leser_innen immer wieder ein Lächeln ins Gesicht.
AVIVA-Tipp: Letztlich ist Hertzmann´s Coffee sowohl Familien- als auch Unternehmensgeschichte und dabei abwechslungsreich und ausgewogen wie eine gute Kaffeemischung.
Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter:
www.weissbooks.com
vanessaffogel.tumblr.com
Vanessa F. Fogel
Hertzmann´s Coffee
Weissbooks, Frankfurt am Main, erschienen 2014
Gebunden, 311 Seiten
978-3-86337-043-5
www.weissbooks.com
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