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Beitrag vom 08.02.2015
Luca Crippa und Maurizio Onnis - Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz
Lisa Sophie Kämmer
Die erste Biographie über das Leben des Fotografen und KZ-Häftlings Wilhelm Brasse, der gezwungen wurde, für den Erkennungsdienst der SS zu arbeiten. Seine an die 50.000 Fotos dokumentieren ...
... das Leben und Sterben in Auschwitz.
Wer, der sie einmal gesehen hat, erinnert sich ihrer nicht? Der Schwarz-Weiß Fotografien von Auschwitz. Von dem Ort, der bis heute wie kein zweiter für die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Kollaborateure in Europa steht. Der Ort, an dem letztere zwischen 1940 und 1945 circa 1,1 Millionen Menschen verhungern, erschießen, vergasen oder – nachdem sie als Objekte für wissenschaftliche Experimente ausgedient hatten – von SS-Ärzten "abspritzen" ließen. Die individuellen Lebensgeschichten von mehr als einer Million zumeist jüdischer Frauen, Kinder und Männer trafen binnen dieser Jahre in Auschwitz zusammen – bis sie sich schließlich in Asche und Staub auflösten.
Neben ihren Namen auf den Deportationslisten, die das industrielle Töten in den Vernichtungslagern und dessen "Effizienz" dokumentieren sollten, sind es diese Fotos, die die letzten Momente ihres Lebens einfangen. Die Aufnahmen legen auf diese Weise eindrücklich Zeugnis davon ab, zu welchen Taten der Mensch fähig ist, indem sie der Nachwelt das schier Unfassbare vor Augen führen: verängstigte, sich aneinanderklammernde Familien an den Selektions-Rampen, ausgemergelte, apathisch blickende Gestalten, die wie Gespenster durch das Lager streifen, in der ständigen Erwartung, bald selbst auf einem der vielen anonymen Leichenberge zu enden.
Doch von wem stammen die Aufnahmen? Mit dieser Frage beginnt die biografische Spurensuche der beiden italienischen Journalisten Luca Crippa und Maurizio Onnis, in deren Folge sie das Leben von Wilhelm Brasse, dem Fotografen von Auschwitz, erstmals in einem Buch nachzeichnen.
Wilhelm Brasse ist selbst Häftling in Auschwitz gewesen. Nach einem fehlgeschlagenen Fluchtversuch nach Frankreich, wo sich der 23 Jährige Pole dem Widerstand anschließen wollte, wurde er 1939 gefasst und wenige Monate später als einer der ersten Häftlinge nach Auschwitz deportiert. Als ausgebildeter Fotograf, dessen Vater österreichischer Christ und somit "arisch" war, kommandierte man ihn nach kurzer Zeit für den Erkennungsdienst der SS ab. In einem sporadisch zusammengezimmerten Fotostudio fertigte Brasse etwa 50.000 Fotos von Häftlingen, aber auch dem berüchtigten Lager-Personal an. Die bekannten Bilder eines freundlich dreinblickenden Josef Mengeles, dessen Experimente ebenfalls zu dokumentieren waren, stammen also aus der Hand des jungen polnischen Fotografen.
Wilhelm Brasse machte es sich dabei von Beginn an zur Aufgabe, die Häftlinge nicht allein der Registrierung wegen zu fotografieren, sondern um aus Respekt vor ihrem Leben und Schicksal ein letztes, möglichst ehrenhaftes Bild von ihnen anzufertigen. In aufwendigen Nacharbeiten retuschierte er so die Aufnahmen, überdeckte blaue Flecken und andere Wunden, um den Frauen und Männern ein Stück Menschlichkeit zurückzugeben, die man ihnen geraubt hatte und bar der sie der Vergessenheit preisgegeben werden sollten. Und Brasse ging noch weiter. Er schmuggelte Fotos, die die Schrecken des Lagerlebens dokumentierten, nach draußen. Er wollte, dass alle Welt sieht, was in Auschwitz passiert. Deswegen entschied er sich schließlich auch unter Lebensgefahr, die Fotos vor den SS-Männern, die bei ihrer Flucht so viele Beweise wie möglich vernichten wollten, zu retten.
Wilhelm Brasse gelang es in der Folge, zahlreiche Aufnahmen zu retten, indem er diese versteckte. Nachdem er angesichts der heranrückenden Roten Armee gemeinsam mit anderen Häftlingen in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert worden war, kehrte er nach seiner Befreiung im Mai 1945 zurück nach Polen. Nur wenige Kilometer von Auschwitz entfernt lebte er dort bis zu seinem Tod am 23. Oktober 2012. Als Fotograf konnte er – nach allem was er in Auschwitz erlebt hatte – nie wieder arbeiten.
Zu den Autoren: Luca Crippa studierte Philosophie und Theologie. Er veröffentlichte ein Buch über die Darstellung von Hölle und Paradies in den Künsten sowie zahlreiche historische Abhandlungen, Romane und Dokumentationen. Er lebt in der Nähe von Mailand. Maurizio Onnis wurde 1969 in Cagliari geboren. Er studierte Anthropologie und Geschichte, schrieb historische Untersuchungen, Romane und Theaterstücke und lebt und arbeitet als Journalist und Lektor auf Sardinien.
Crippa und Onnis arbeiten gegenwärtig an einer Biographie über die heute in den USA lebende Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Hedy Epstein, die mit einem Kindertransport 1939 nach England floh.
Zum Übersetzer: Bruno Genzler 1957 geboren, studierte Germanistik und Geschichte. Nachdem er mehrere Jahre in Italien gelebt hat, arbeitet er heute als Übersetzer in der Nähe von Frankfurt a.M. Neben Romanen von Lidia Raver, Giovanni Chiara, Francesco Guccini und Loriano Macchiavelli übertrug er zahlreiche Werke des Schriftstellers und Filmregisseurs Luciano De Crescenzo ins Deutsche.
AVIVA-Tipp: Crippa und Onnis ist eine bewegende Biographie gelungen, die eindringlich von den Schicksalen der fotografierten und später zu Tausenden in Auschwitz ermordeten Frauen, Kinder und Männer berichtet. Das Buch erzählt so aus der persönlichen Perspektive des Zeitzeugen Wilhelm Brasse um welche Personen es sich auf den Aufnahmen handelt und welche Geschichten sich mit ihnen verbinden. Neben diesen zumeist bislang unbekannten Einzelschicksalen sind es vor allem aber auch die Erfahrungen und Gefühle des ehemaligen politischen Häftlings Brasse selbst, die die Leserin bewegen. Sein innerer Disput um die Frage, wie er selbst helfen kann und warum letztlich er, anstelle seiner Mithäftlinge, denen er zu Tausenden gegenübersaß und die er fotografierte, überlebte, ergreifen dabei in besonderer Weise.
Luca Crippa und Maurizio Onnis
Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz
Originaltitel: Il fotografo di Auschwitz
Aus dem Italienischen übersetzt von Bruno Genzler
Blessing Verlag in der Verlagsgruppe Random House, erschienen am 27. Oktober 2014
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 29 Abb.
ISBN 978-3-89667-531-6
19,99 Euro
www.randomhouse.de
Weitere Infos unter:
www.ardmediathek.de, Wilhelm Brasse - Der Fotograf von Auschwitz. Videoporträt des Rundfunks Berlin-Brandenburg vom 22.01.2015
www.zdf.de, Auschwitz-Befreiung vor 70 Jahren. Dokumentationen, Interviews und Gedenkreden im ZDF
www.yadvashem.org Das Auschwitz-Album. Fotografische Zeugnisse von 1944, archiviert von Yad Vashem
auschwitz.org Pañstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau
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