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Beitrag vom 20.02.2015
Uwe Westphal - Ehrenfried & Cohn
AVIVA-Redaktion
Es ist der erste Roman, der sich der Modeindustrie und Konfektion Berlins während der 1930er Jahre und der systematischen Enteignung jüdischer Konfektionäre annimmt. Ein historischer Roman über ...
... die Berliner Konfektion und ihren Untergang – und ein Roman darüber, wie Diktaturen den Charakter von Menschen verderben und ruinieren können.
Die geschilderten Ereignisse haben so oder ähnlich tatsächlich stattgefunden, die Romanfiguren sind realen Personen nachempfunden, Örtlichkeiten und Geschäftstransaktionen historisch verbürgt.
Und dennoch ist die Geschichte frei erfunden. Sie erzählt das Schicksal des Kurt Ehrenfried, eines Berliner Konfektionärs, der mit seinem Partner Simon Cohn eine erfolgreiche Bekleidungsfirma in der Mohrenstraße betreibt.
Ehrenfried, jüdischer Herkunft wie die meisten Konfektionäre jener Zeit, begreift sich als assimiliert. Seinen jüdischen Wurzeln misst er so wenig Gewicht bei wie anfangs der "Judenpolitik" der Nazis, mit denen er sogar – 1936 blickt die Welt auf die Olympischen Spiele in Berlin – gute Geschäfte zu machen hofft. Während Kollegen und Bekannte bereits emigrieren, will er die wachsende Gefahr lange nicht wahrhaben, gerät dabei aber zunehmend in ein Netz aus Lügen, Gewalt, Charakterlosigkeit und politischem Terror. Alle – naiven – Anpassungs- und Rettungsversuche scheitern, seine Firma wird – im Moment ihres größten Erfolges – "arisiert", und Ehrenfried kann sich mit Frau und Kindern gerade noch rechtzeitig nach London absetzen. Im Unterschied zu den meisten seiner Familienangehörigen, die in der Folgezeit ermordet werden, kommt Ehrenfried mit dem Leben davon. Was er verloren hat, wird er auch nach dem Krieg nicht zurückerhalten.
Die Handlung:
Das "Vorspiel" des Romans zeigt den jungen Kurt Ehrenfried in den Sommerferien. Wie jedes Jahr reist der 17-Jährige mit seinen Eltern in die Bretagne – mit dem Zug von Berlin nach Hamburg, von dort mit dem Schiff nach St. Malo. Eine deutsch-jüdisch-bürgerliche Familie. Doch geprägt von einem Generationskonflikt: der Vater ist stolz auf sein Judentum und lebt es auch, seinem Sohn ist dieser Stolz fremd, er distanziert sich schon als junger Mann stark davon. Während eines Ausflugs erblickt Kurt in einer bretonischen Dorfkirche die Figur des Heiligen Bartholomäus, des "Budic" – Schutzpatron der bretonischen Gerber und Flachstuchhändler. Ehrenfried ist ebenso schockiert wie fasziniert. Die mittelalterliche Figur trägt die eigene Haut über dem Arm wie Ehrenfried die Stoffe in der väterlichen Firma. Der Reiseführer erklärt, dass sich Bartholomäus mit einem Messer die Haut vom Körper geschnitten habe, um auf das Schicksal der Pestkranken aufmerksam zu machen. Diese Märtyrerfigur prägt sich dem jungen Mann für immer ein – als sähe er in ihr seine eigene Zukunft aufscheinen.
Jahre später lebt Ehrenfried mit seiner Frau Lore und seinen beiden Kindern in Berlin und betreibt ab 1927 erfolgreich die Bekleidungsfirma Ehrenfried & Cohn in der Mohrenstraße. Er sieht sich auf dem richtigen Weg. Kunden und Kollegen schätzen ihn, die Zeichen stehen auf Wachstum. Während Paris die unangefochtene Hauptstadt der Mode ist, hat sich Berlin zum Zentrum der Prêt-à -Porter entwickelt – der günstigen Variante der Haute Couture für die Kaufhäuser.
Mit der Machtübernahme der Nazis ändern sich – zunächst schleichend – die Geschäftsgrundlagen. Wie viele andere will Ehrenfried diese Veränderungen anfangs nicht wahrnehmen und hält sich selbst wie seinen Beitrag für die Branche für unersetzlich. Selbst Nazigrößen schätzen die Produkte jüdischer Konfektionäre außerordentlich. Doch der Einfluss der NS-Politik auf die Berliner Konfektion wird immer spürbarer, die antisemitische Hetze in der Presse immer lauter, Arisierungen jüdischen Eigentums sind an der Tagesordnung. Auch in Ehrenfrieds Firma gründen zwei Nazis eine NS-Betriebsgruppe und zeigen dem Chef unverhohlen ihre neue Macht. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, macht er sie kurzerhand zu Anteilseignern und glaubt, durch diesen Schachzug das Heft des Handelns in der Hand behalten zu können. Gleichzeitig erfährt er, dass einer seiner Zwischenmeister, der Jude David Landauer, nach London emigrieren wird. Ein Besuch bei Landauer und dessen Familie zeigt ihm die Lebenswirklichkeit der Heimarbeiter, die für ihn und den jüdischen Konfektionär Max Graumann arbeiten. Ehrenfried zeigt sich nahezu unberührt von deren tristen Lebensumständen, Einfachheit, Armut und ostentatives Judentum stoßen ihn ab, und die vorgebrachten Gründe für die Emigration kann und will er nicht nachvollziehen.
Doch die Anzeichen der heraufziehenden Gefahr verdichten sich. Und es gibt Menschen, die dies erkennen und für sich zu nutzen wissen – so einer der wichtigsten Partner der Firma "Ehrenfried & Cohn", Rudi Berlau, genannt Rube. Ein Schweizer Textilgrossist, Brancheninsider mit Detailwissen und vielfältigen Beziehungen. Rube ist gebildet, charakterlos, reich und korrupt, er gibt sich jedoch äußerst hilfsbereit gegenüber den bedrängten jüdischen Geschäftsleuten. Berlau präsentiert Ehrenfried ein angeblich sicheres Geschäftsmodell für jüdisch geführte Betriebe. Er führt ihn in ein Tierheim, dessen jüdischer Besitzer namens Schwermann sein Unternehmen durch die Einsetzung eines arischen Geschäftsführers als Strohmann angeblich problemlos weiter führen kann. Erst später erfährt Ehrenfried, dass er einer Lüge aufgesessen ist. Tatsächlich hat Rube zahlreiche jüdische Konfektionäre in dieses Tierheim geführt und ihnen die Mär von der Sicherheit ihrer Betriebe durch Etablierung arischer Strohmänner erzählt. Die Konfektionäre sollten sich mit dieser Idee anfreunden – dafür hat sich Rube von den Ariseuren bestechen lassen.
Kurz darauf wird der Tierheim-Besitzer Schwermann mit einer Liste aller zu arisierenden jüdischen Berliner Konfektionsbetriebe ermordet im Schlachtensee aufgefunden. Nun endlich erkennt auch Ehrenfried seine bedrohte und rechtlose Lage. Er fürchtet Untersuchungen über eine Mitwisserschaft oder gar Beteiligung an Schwermanns Tod. Sein Selbstvertrauen und Selbstverständnis als assimilierter jüdischer Kaufmann – als Deutscher unter Deutschen – gerät zwar ins Wanken, behält aber als alltagsstützende Illusion immer noch die Oberhand.
Trotz aller Schwierigkeiten setzt er weiter auf geschäftliche Expansion und plant für das anstehende Großereignis einen Coup:
Mit einer opulent gestalteten Modenschau will er den Bekleidungstrend für die Olympiade 1936 in Berlin setzen. Dazu reist er, wie nahezu alle Berliner Konfektionäre, zu den alljährlichen Pariser Modenschauen. Seit vielen Jahren schon kopieren die Berliner Konfektionäre die Ideen der Pariser Haute Couture und bringen die neuesten Schnitte, Stoffe und Farben zu bezahlbaren Preisen in die Kaufhäuser.
Im Sonderzug der Berliner Konfektionäre wird sein schwuler Geschäftspartner Simon Cohn von nazitreuen Textilindustriefunktionären mit dem Grossisten Rudi Berlau in einer verfänglichen Situation in der Zugtoilette erwischt und fotografiert. Kurz zuvor hatte Rube die Lüge von den arischen Strohmännern gebeichtet und Ehrenfried berichtet, dass er unter Androhung der Vernichtung seines Rufes von Schwermann erpresst worden war.
Ehrenfrieds bürgerliche Sicherheit gerät immer mehr ins Wanken, er droht, den Halt zu verlieren. Derart verwirrt und verunsichert beginnt er in Paris eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit der Modezeichnerin Lissy und setzt damit seine Ehe aufs Spiel. Lissys Mann, der Arzt Albert, hält sich gerade in London auf, um dort für sich, Lissy und ihre beiden Kinder das Leben in der Emigration vorzubereiten. In einem verzweifelten Brief schildert Albert, wie nahezu aussichtslos seine Lage ist. Albert wird sich später, da er aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse keine Approbation erhält und als Teppichreiniger arbeiten muss, das Leben nehmen.
Der Besuch der Modenschauen in Paris endet in einer Katastrophe: Ehrenfried, Lissy, Cohn und Graumann werden aus der Modenschau hinausgeworfen und erhalten Hausverbot. Was bisher gängige Praxis war, das Abkupfern der Haute Couture-Modelle für die "Stange", wird den Berlinern nun als Vergehen angelastet. Offener Judenhass schlägt ihnen entgegen.
Simon Cohn wird nicht nach Berlin zurückkehren. Später erfährt Ehrenfried, dass Cohn bereits seit Monaten mithilfe von Rube die Emigration nach Palästina geplant hatte. Doch auch ohne Cohn hält Ehrenfried an seinem Plan einer groß angelegten Olympia-Modenschau in Berlin 1936 fest. Sein neuer Mitarbeiter Hermann Bartlet soll sie zu einem sensationellen Erfolg werden lassen.
Tatsächlich wird die Modenschau ein voller Erfolg – und zugleich Ehrenfrieds größte Niederlage. Die Presse, die Zwischenhändler und die Einkäufer – alle sind begeistert. Doch noch während der Modenschau sieht sich Ehrenfried massiven Drohungen ausgesetzt, die ihn nötigen, Unternehmen und Immobilie auf der Stelle an einen Versicherungskonzern zu verkaufen – selbstverständlich weit unter Wert. Verzweifelt und einem Nervenzusammenbruch nahe unterschreibt Ehrenfried die Kaufverträge, bedrängt von Rube, der für Ehrenfried und seine Familie bereits die Emigration nach London in die Wege geleitet hat.
Bartlet, der Simon Cohn in der Firma nachfolgte, wird neuer Geschäftsführer des Ehrenfriedschen Unternehmens, das nun "Deutsche Damenmäntel KG" heißt. In den Zeitungen erscheinen enthusiastische Berichte über die Modenschau. Ehrenfried findet darin keinerlei Erwähnung.
Das "Nachspiel" des Romans zeigt das weitere Schicksal von Ehrenfried und seiner Familie. Zunächst wird Ehrenfried als feindlicher Ausländer in Großbritannien interniert. Schließlich arbeitet er für den englischen Geheimdienst in der Illegalität in Frankreich. 35 Familienangehörige Ehrenfrieds, darunter sein Vater und seine Mutter, werden im KZ ermordet. Ehrenfrieds Frau Lore formuliert die Zerrissenheit dieses Lebens: "Wir haben überlebt, Kurt. Aber wir werden schuldig bleiben, nicht weil wir es sind, sondern weil wir es so fühlen."
1962 kommt Ehrenfried wieder nach Berlin. Dort erhebt er Anklage gegen den weiterhin erfolgreichen Textilunternehmer Bartlet, weil der ihn seinerzeit bei der "Übertragung" seines Unternehmens betrogen habe. Doch Bartlets Anwälte teilen Ehrenfried mit, dass die wichtigsten Beweisdokumente im Ostteil Berlins befindlich und somit nicht zugänglich seien. Ob er, Kurt Ehrenfried, tatsächlich jemals eine Firma besessen habe, wisse deshalb niemand. Mit dieser Aussage endet der Roman.
Zum Autor: Uwe Westphal wird 1951 in Radevormwald geboren. Er studiert Kommunikationswissenschaften an der Berliner Hochschule der Künste. Ab 1986 arbeitet er als freier Journalist für den Berliner "Tagesspiegel" und die ARD, außerdem für CBS New York und BBC London. Im Jahre 1986 beginnt Westphal über die "Geschichte der Berliner Konfektion" zu recherchieren.
Seine Recherchen führen ihn in die USA, nach Großbritannien, nach Israel. Ab 1992 lebt und arbeitet Westphal in New York, unter anderem als Chefredakteur des "AUFBAU" und als Generalsekretär für den "PEN-Club deutschsprachiger Autoren im Ausland". Hier wie auch später in London, wo er unter anderem als freier Fernsehkorrespondent arbeitet, führt er ebenso wie in Israel zahlreiche intensive Gespräche mit jüdischen Konfektionären, Schneidern, Modejournalisten, Verlegern und ehemaligen Geschäftsführern der Berliner Konfektion, die Opfer der Arisierung wurden und mit ihren Familien ins Exil getrieben wurden.
Daraus entsteht sein Buch: "Berliner Konfektion und Mode 1836-1939. Die Zerstörung einer Tradition." (Berlin: Edition Hentrich, 2. erw. Aufl. 1992).
Die umfangreichen Recherchematerialien sind heute als "Uwe Westphal Collection, 1836-1993" im New Yorker Leo Baeck-Institut zugänglich.
Jenseits dieser Recherchen und seiner Arbeit als Fernsehjournalist ist Westphal immer wieder publizistisch tätig. Er veröffentlichte unter anderem:
"Werbung im Dritten Reich". Berlin: Transit Buchverlag (1989)
"The Bauhaus". New York: Gallery Books (1991)
"German, Czech and Austrian Jews in English Publishing" (Essay). Tübingen: Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts, (1991)
Uwe Westphal lebt in Berlin und London.
Mehr Infos unter: www.uwewestphal.com, www.facebook.com und www.lichtig-verlag.de
Ehrenfried & Cohn
Roman von Uwe Westphal
Lichtig Verlag, erschienen März 2015
18.00,- Euro
ISBN 978-3-92-990533-5
www.lichtig-verlag.de
Zur Info: In einer Veranstaltung am 9. November 2016 wurden Ergebnisse durch das ForscherInnenteam der Humboldt-Universität zu Berlin vorgestellt:
Die Humboldt- Universität zu Berlin hat im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz die Schicksale der seinerzeit im heutigen Dienstsitz des Ministeriums in der Mohrenstraße ansässigen Unternehmer und ihrer Familien untersucht.
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer in der Mohrenstraße 37/38 während der NS-Zeit
Begrüßung: Heiko Maas. Bundesminister der Justiz und Verbraucherschutz
Diskussion: "Das Berliner Modezentrum in den 1930ern":
Uwe Westphal. Historiker und Journalist, Autor von u.a. "Berliner Konfektion und Mode: Die Zerstörung einer Tradition 1836 – 1939" und "Ehrenfried & Cohn"
Dora Heinze. Autorin und freie Filmemacherin, u.a. Dokumentation "Berlin – Hausvogteiplatz"
Christopher Charlton. Enkel von Fritz Adam, dem Inhaber und Geschäftsführer des einstigen Modehauses "Sport Adam"
Präsentation der Ergebnisse durch das ForscherInnenteam der Humboldt-Universität zu Berlin im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz:
Prof. Michael Wildt. Lehrstuhl Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Christoph Kreutzmüller. Historiker, Kurator im Jüdischen Museum Berlin, Autor von u.a. "Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930-1945"
Eva-Lotte Reimer. Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin
Moderation: Amelie Fried. Autorin und Moderatorin
Musikalische Begleitung: Klezmeyers
Die Veranstaltung wurde durch Gebärdensprachdolmetscher_innen begleitet.
Mehr Infos zum Thema unter:
www.bmjv.de/geschichte und "Magnet für Modemacher", DER SPIEGEL 1/1993
Uwe Westphal
Berliner Konfektion und Mode 1836-1939. Die Zerstörung einer Tradition
Berlin (Edition Hentrich) 1992 (2)
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Die Wertheims. Von Erica Fischer und Simone Ladwig-Winters
Die Autorinnen rekonstruieren den Aufstieg der jüdischen Kaufmannsfamilie über die zwangsweise Arisierung und Enteignung durch die Nazis bis zur Klage gegen den jetzigen Eigentümer KarstadtQuelle. (2004)
Quelle: Lichtig Verlag, AVIVA-Berlin