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Beitrag vom 19.03.2015
Anne Philippi - Giraffen
Teresa Lunz
Die Dynamik der Metropole Berlin kann inspirieren, aber auch zerstören. Ein reiches, scheinbar sorgloses Paar erfährt es am eigenen Leib: Bei Drogentrips und Dauerparty, Krisen und Zusammenbrüchen.
Anne Philippi kennt sich aus in der Welt des Jetsets, die sich immer um exzessive Lebensfreude, hemmungslose Luxusorgien und die Schattenseiten des sinnentleerten Partydaseins dreht. Die Ex-Redakteurin der Vogue, die zwischen Los Angeles und Berlin pendelt, hat hinter die Kulissen geblickt, das bemerken Leser_innen ihres schonungslos ehrlichen Debütromans über die "Reichen und Schönen", deren Pflicht allein darin besteht, sich auf möglichst vielen Partys zu zeigen und dort kräftig mitzutrinken, sofort.
Im Mittelpunkt steht eine Ich-Erzählerin, die ihren Namen nicht nennt (erst weit hinten im Buch wird sie als "Eva" angesprochen): Mitte 30, trotz annähernd 20 Jahren bewältigter Partykarriere noch attraktiv, ausgehalten von ihrem steinreichen, chronisch untreuen Lebensgefährten Henry, wie dieser kokain- und alkoholabhängig, feiern Nacht für Nacht. Schauplatz der Handlung: Berlin, die "Ausflippungsmetropole". Und tatsächlich handelt es sich hierbei um die jüngste Version des (Anti-)Berlinromans, in den sich Bewohner_innen der Hauptstadt bestens hineinversetzen können.
"In unserer Zeit, in unserer Welt hier zwischen Torstraße und Alexanderplatz bin ich jung. Knackjung."
Die Erzählerin geht mit Henry ins E-Werk, dann in die Panorama-Bar, schick tafeln im Vino e libri, maß- und ziellos einkaufen im Kaufhaus des Westens und schließlich bis über den Zustand der Erschöpfung hinaus tanzen im Cookies. Das turtelnde, von allen Bekannten beneidete Pärchen versichert sich, vollkommen glücklich und sorglos zu sein, aus dem Vollen zu leben, auch wenn das zuweilen Kraft kostet. Warum ins Bett gehen, so lange man noch irgendwelche Freunde in der Stadt unterwegs weiß, die unverändert Wodkas stemmen und engtanzen?
"Henry kann es nicht leiden, wenn ich müde bin. Es ekelt ihn an."
Das Paar lebt die geteilte Alkohol- und Drogensucht als etwas Vergnügliches. Verzweiflung bricht über die Erzählerin nur herein, wenn Henry nicht nach Hause kommt, sein Handy ausgeschaltet hat, und sie nicht weiß, wo er feiert, was er nimmt und - mit wem er schläft…
"Das ist der härteste Part. Das viele Kokain, der viele Alkohol, das stecke ich immer noch irgendwie weg. Nur das Weg-bleiben. Das Vielleicht-nicht-Wiederkommen."
Sie ist abhängig – nicht nur von den Substanzen und von den Partys, die ihr Schlaf und ruhiges Nachdenken ersparen, sondern auch von dem reichen, attraktiven, immer für Spannung sorgenden Man an ihrer Seite. Durch die Sucht entstehen Bedrohung und Befriedigung gleichermaßen. Wenn die Süchtige mit dem Entzug liebäugelt, so ist es nur Teil ihrer Selbstinszenierung. Eine Selbsthilfegruppe nutzt sie als Bühne, um mit ihren Grenzerfahrungen zu prahlen. Dann wieder ernsthafte Verzweiflungsanfälle, Selbstmordgedanken. Und die Frage, ob es "anders" nicht schöner wäre.
Aber der Rückfall erfolgt unausweichlich: "Zugedröhnt sein" fühlt sich nach Grenzenlosigkeit an. Dann ist die Stadt nicht mehr schmutzig und die Partnerschaft mit Henry keine verlorene Lebenszeit.
"Kurz vor dem Umkippen ist alles schöner. Zauberhafter. Endgültiger. Ohne Schlaf hat mein Leben mehr Bedeutung."
Die Erzählerin hat tausend Bekannte und keine Freund_innen. Ihre "beste Freundin" Nathalie schläft mit Henry, während sie selbst vom Kokain außer Gefecht gesetzt ist. Wenigstens Sexualpartner müssen her, immer neue, immer mehr, um ein Gefühl des intensiven Zusammenseins, der Selbstbestätigung zu erzeugen. Doch auch gemeinsam mit Henry unternommene Versuche, gemäßigter zu leben – mit Rosé statt Wodka am Nachmittag, mit MDMA statt hartem Kokain – münden nur in der Feststellung, dass ein krankhaftes Verlangen dem nächsten weicht: In diesen "gesundheitsbewussten" Phasen schläft und isst das Paar unmäßig, um sich beschäftigt zu halten. Kauft Unmengen ein, fliegt spontan nach Sardinien. Tabu ist, den absoluten Leerlauf zuzulassen.
"Hier, in Berlin, können wir uns doch gar nicht langweilen, die Stadt ist viel zu aufregend. Unser Grundsatz lautet doch: Wer sich in Berlin langweilt, der ist krank."
Die Leser_innen wünschen der Protagonistin unwillkürlich die Kraft, aus dieser sich endlos weiterdrehenden Spirale auszubrechen. Ihren eigenen Weg zu gehen, ohne Henry und aufputschende Mittel. Doch sie bewegt sich im Rauschzustand durch die ständige Reizüberflutung aus Partys, Kultur- und Reiseangeboten, unübersichtlichen Freundeskreisen und sich endlos aneinanderreihenden Bars, Clubs, Musiklokalen. Sie verliert dabei nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Würde.
Zur Autorin: Anne Philippi schrieb u. a. für die Berliner Seiten der FAZ und die Vogue und bis 2009 für die Vanity Fair als Reporterin über die Glamour- und Jetset-Gesellschaft. Danach zog sie nach Los Angeles und begann für die Süddeutsche Zeitung und GQ Hollywood-Interviews zu führen (u. a. mit Lindsay Lohan und Jeff Bridges). Derzeit lebt sie in Berlin und Los Angeles.
Mehr Informationen auf ihrer Homepage: annephilippi.com
Reportagen von Anne Philippi zum Online-Nachlesen: www.waahr.de
AVIVA-Tipp: Zart besaitete Leser_innen seien gewarnt: Der "Heile Welt"-Mythos, der Drogeneskapaden, Alkoholabstürze und chronischen Kontrollverlust ins Milieu mittelloser sozialer Außenseiter_innen verweist, wird radikal dekonstruiert. Das Leben am Limit in den schicken Eigentumswohnungen in Berlin-Mitte, in den nobelsten Diskos der Stadt ist ausgeleuchtet: Krass, realistisch, differenziert, da auch das Gedanken- und Gefühlschaos Betroffener in Phasen der Nüchternheit eindrucksvoll zur Sprache kommt. Berührend, aber nie mitleidheischend oder moralisierend schildert Anne Philippi die täglichen kleinen Dramen im Leben der Abhängigen, die sich aus dem von Glitzer und Glamour kaschierten Teufelskreis zwischen Partys, Drogentrips und Tränen nicht befreien können. Dabei schreit der Roman nicht danach, Skandale zu provozieren, sondern schlägt auch immer wieder leise, fast philosophische Töne an.
Anne Philippi
Giraffen
Rogner & Bernhard-Verlag, erschienen im Februar 2015
Hardcover, 200 Seiten
ISBN 978-3-95403-082-8
Euro 19,95
www.rogner-bernhard.de
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