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Beitrag vom 05.04.2015
Julia Friedrichs - Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Jane Gleeson-White - Soll + Haben. Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus
Teresa Lunz
Geld bestimmt in unserer heutigen Gesellschaft das Verhältnis des Menschen zur Welt, seine Wahrnehmung, sein Handeln – doch auch seine tatsächliche Lebensqualität? Mit unterschiedlicher...
... Schwerpunktsetzung gehen eine Journalistin und eine Wirtschaftswissenschaftlerin dieser Frage auf den Grund.
Ein Zitat aus dem Buch von Jane Gleeson-White erkennt die absolute Machtfunktion von Geld zu einer Zeit an, als es den Naturalienhandel eben erst abgelöst hat:
"Geld ist die Wurzel aller Dinge. Mit Geld kann man ein Stadthaus besitzen oder eine Villa, und alle Berufsstände werden wie Knechte schuften für den Mann, der Geld hat. Derjenige, der keines hat, muss auf alles verzichten, für alles, was man sich vornimmt, braucht man Geld." (Leon Battisti Alberti, um 1430)
Es stellt sich die Frage: Müssen wir dem Diktat des Wohlstands gehorchen? Ist dies ohne einen Verlust der ethischen Moral überhaupt möglich?
"Wir Erben" von Julia Friedrichs beginnt mit der Feststellung, dass der größte Teil des Reichtums in Deutschland bei der 1945 bis 1955 geborenen Generation konzentriert ist. Selbst hier bleibt weiter zu differenzieren: Die meisten Vermögenden sind männlich, westdeutsch, Führungskräfte in Unternehmen oder selbständig, Sparer. In der Dekade ab 2015 werden sie 250 Milliarden Euro Erbsumme pro Jahr verfügbar machen, oft durch Schenkungen an die nachgefolgte Generation schon vor dem eigenen Ableben. Ein Glückstreffer für die profitierenden Kinder und Kindeskinder, oder ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem, das die erstrebte Proportionalität zwischen Leistung und Kapital bedroht?
Julia Friedrichs spürt der Frage nach, was Geld mit Menschen macht - ihre Untersuchung fördert jedoch keine absoluten Wahrheiten zutage, sondern persönliche Lebensentwürfe. Reale Schicksale hinter den schnöden Zahlenaufstellungen werden sichtbar.
"Sind wir noch ein Land, in dem Fleiß und Ideen zählen? Oder der Status der Eltern? Können wir uns glücklich schätzen, weil die Alten so viel Wohlstand weitergeben? Oder wird das Erbe die Unterschiede im Vermögen, die ohnehin schon groß sind, unerträglich machen?"
Ist es fair, den eigenen Beruf niederzulegen und fortan vom elterlichen Erbe zu leben, weil sich die Möglichkeit bietet? Und wie ist es mit nicht durch eigenen Verdienst erworbenem Reichtum, der sich nun auf dem Konto befindet, überhaupt "ethisch korrekt" umzugehen? Julia Friedrichs spart sich und den Leser_innen abgehobene theoretische Betrachtungen und spricht über das Verhalten, die Gefühle und Pläne der von ihr interviewten Erb_innen. Somit gewinnt ihr Buch passagenweise soziologischen, weniger wirtschaftlichen Charakter. Zwischengeschaltet finden sich Expert_innenmeinungen, die den Kontext ausweiten, Vergleiche zur Vergangenheit ziehen und Zukunftsprognosen abgeben. Beide Seiten der Medaille werden fokussiert: Reichsein als persönlicher Gewinn, aber auch als soziales Hindernis, denn - plötzlicher Reichtum durch Erbschaft kann soziale Isolation bewirken.
Wenn zu viel Reichtum die "Familie" zerstört…
Betrachtet wird auch die Vererbung ganzer Unternehmen und die Frage, unter welchen Bedingungen sich die zweite Generation einer solchen Verantwortung stellt, die sie ohne vorhergegangene Eigenleistung in den Chef_insessel hebt. Und wann diese zur einengenden Belastung wird. Zum Interview bereit findet sich Wolfgang Grupp, Chef von "Trigema", für den immer außer Frage stand, dass die Firma in Familienbesitz bleiben wird. Doch deckt Friedrichs auch auf, wie hinter dem Betrieb zurückstehende Familien durch Macht und Vermögen zerstört werden können. Hinter dem glücksverheißenden Reichtum verbergen sich oft Zwist, Depressionen, gescheiterte eigenständige Lebensentwürfe der Nachkommen. Manche potentielle Erb_innen werden zu Kriminellen, gar zu Mörder_innen, um schneller in den Besitz des Geldes zu gelangen. Empathie für die Familie ist ausgelöscht. Das Buch greift populäre Medienfälle auf und berichtet über Gespräche mit Gefängnisinsass_innen, die für Geld zu allem bereit waren. Daneben interviewt die mehrfach ausgezeichnete Journalistin Notare und Nachlassverwalter und deckt auf, wo außerhalb der hinterbliebenen Familie mitunter habgieriges Eigeninteresse bis hin zur Korruption geltend wird. Julia Friedrichs kreidet die Tatenlosigkeit der Politik ihrer Meinung nach zu geringen Besteuerung von Erbschaften offen an und würzt den Text mit eigenen Überlegungen und den Sorgen einer nicht reich erbenden Vertreterin der Generation "1975 bis 1990". Ihre Recherche führt zu neuen Erkenntnissen, und der Offenlegung von politischen und gesellschaftlichen Skandalen, durch ihren lebendigen, manchmal polemischen Stil sorgt die Autorin dabei für Spannung bei den Leser_innen.
Zur Autorin: Julia Friedrichs, geboren 1979, studierte Journalistik in Dortmund und arbeitet als freie Autorin von Fernsehreportagen und Magazinbeiträgen u. a. für die Zeit. 2007 wurde sie für eine Sozialreportage mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalist_innen und dem Ludwig-Erhard-Förderpreis ausgezeichnet. 2010 erhielt sie den Nachwuchspreis des deutsch-französischen Journalistenpreises. 2013 war sie für den Deutschen Reporterpreis nominiert. 2014 erhielt sie den Medienpreis der Deutschen Telekom Stiftung. Julia Friedrichs lebt in Berlin. Sie veröffentlichte die Bestseller "Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen" (2008), "Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht" (mit Eva Müller und Boris Baumholt, 2009) und "Ideale. Auf der Suche nach dem, was zählt" (2011). (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr zu Julia Friedrichs im Netz:
Radiointerview zu "Wir Erben"
Interview mit Julia Friedrichs auf Spiegel online
Julia Fiedrichs Artikel in der "ZEIT"
AVIVA-Tipp: Ein gut zugängliches "Wirtschaftsbuch" für alle, die zukünftig beträchtliche Summen zu erben oder zu vererben haben aber auch für alle, die nicht nachvollziehen können, warum das Prinzip der strikten Leistungsgesellschaft in unserer Demokratie nicht funktioniert. Schließlich für alle, die sich für die Gesellschaftsstrukturen, ihre (finanziellen und moralischen) Grenzen und Potenziale interessieren.
Jane Gleeson-Whites "Soll + Haben. Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus"
Die im Original unter dem Titel "Double Entry" erschienene Veröffentlichung der in Australien lebenden Autorin setzt sich mit der vor 600 Jahren unter venezianischen Kaufleuten und Gelehrten entstandenen Form der Buchhaltung auseinander. Sie zeigt mithilfe zahlreicher historischer Belege, wie diese zunächst die materielle und kulturelle Blüte der Renaissance ermöglichte – und irgendwann dann zur – so das Fazit der Autorin - Beherrscherin der Weltwirtschaft wurde: Die doppelte Buchführung befähigt zur Rettung und Zerstörung des Planeten, da sie jede beobachtbare oder zu erwartende Entwicklung auf Zahlensysteme herunterbricht. Auf 370 Seiten erbringt die Autorin den Beweis dieser These. Es ergibt sich ein Streifzug durch die Welt der Finanzen, eng im Zusammenhang mit Handelsbeziehungen, Mathematik, doch auch mit Kultur und Lebenskunst. Diese historische Aufarbeitung zur Geschichte des Kapitalismus führt letztlich diverse Themen zusammen. Es wird belegt, dass schon im "Alten Rom" jede Familie über ein alle von ihr getätigte Transaktionen aufführendes Haushaltsbuch verfügte. Es zeigt, wie die Entwicklung der Zahlenlehre mit anderen wesentlichen Errungenschaften in Verbindung stand, so der Durchsetzung der Volkssprachen gegenüber der Sprache Latein und dem Buchdruck. Bis in die frühe Neuzeit hinein beherrschte sie Musik, Malerei, Astrologie, Theologie und Philosophie so maßgeblich, dass diese Disziplinen oft durch dieselben Gelehrten vermittelt wurden und sich erst spät getrennte Fakultäten etablierten.
Die erste Hälfte des Buches beleuchtet vor allem den Lebensweg des heute weitgehend vergessenen "Erfinders" der doppelten Buchführung: Des um 1500 lebenden Franziskanermönchs Luca Pacioli, Freund und zeitweiliger Mitbewohner Leonardo da Vincis, Lehrer von Albrecht Dürer. Nur ein geringer Anteil des Buches steht mit unserer heutigen Wirtschaftswelt in Verbindung. Es spürt etwa den Fragen nach: Wie wirkte sich die doppelte Buchführung auf die Industrialisierung aus - etwa zu Zeiten des expansiven Eisenbahnbaus? Inwiefern sorgte das Verfahren für faire, transparente Arbeitsbedingungen, wo führte es zur maßlosen Akkumulation von Reichtum? Ein äußerst komplexer historischer Diskurs entsteht.
Auf das Zeitgeschehen des 21. Jahrhunderts geht Jane Gleeson-White vorwiegend im letzten Kapitel unter der Fragestellung "Das Bruttoinlandsprodukt: Kann Buchführung unsere Erde retten?" ein. Hier setzt sie sich mit dem Potenzial eines effizienten Umweltrechnungswesens auseinander, das es als Komponente des bisherigen Bruttoinlandsprodukt (BIP) fertig brächte, in der Natur anzutreffende Vermögenswerte (und ihren Rückgang) zu erfassen. Das Ergebnis könnte eine aufrüttelnde Bilanz zum tatsächlichen Wohlstand eines Landes sein, vielleicht sogar eine Änderung unseres Konsumverhaltens bewirken. Die Haupterkenntnis der Autorin, die der umfassenden Recherche folgt: Anscheinend erkennt der Mensch den Wert eines Gutes oft erst dann an, wenn er mit Dollarzeichen beziffert ist.
Zur Autorin: Jane Gleeson-White studierte Wirtschaftswissenschaften und Literaturwissenschaft. Nach 15jähriger Tätigkeit als Lektorin lebt und arbeitet sie heute als freie Autorin und Journalistin in Sydney. (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Informationen zu Jane Gleeson-White im Netz:
janegleesonwhite.com und Jane Gleeson-Whites Literaturblog
AVIVA-Tipp: Die Lektüre erfordert keine spezifischen Vorkenntnisse aus dem wirtschaftlichen Bereich, denn alle Fachtermini, selbst recht geläufige wie "Wechsel" oder "Soll und Haben", werden erläutert. Ein facettenreiches und komplexes Thema, das jedem_r Leserin Konzentration und einige ruhige Stunden abverlangt, um sich darauf einzulassen. Doch die Zeitinvestition wird mit vielfältigen Erkenntnissen aus den Bereichen der Wirtschaft, der Geschichte und der Soziologie belohnt. Im Unterschied zu Jane Gleeson-Whites Veröffentlichung liefert "Wir Erben" einen aktuellen Bezug zu den Gesellschaftsstrukturen von Heute.
Julia Friedrichs
Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht
Berlin Verlag, erschienen im März 2015
Hardcover, 320 Seiten
ISBN 978-3-8270-1209-8
19,99 €
www.berlinverlag.de
Jane Gleeson-White
Soll + Haben. Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus
Aus dem Englischen von Susanne Held (Originaltitel: Double Entry)
Klett-Cotta Verlag, erschienen im März 2015
Hardcover, 370 Seiten
ISBN 978-3-608-94860-8
24,95 €
www.klett-cotta.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt: Deutschland dritter Klasse: Leben in der Unterschicht
Julia Friedrichs: Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen
Naomi Klein - Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima
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