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Beitrag vom 17.04.2015
Amos Oz - Judas
Lisa Sophie Kämmer
In seinem neuen Roman widmet sich der renommierte israelische Schriftsteller ebenso nüchtern wie eindringlich dem berühmtesten Verrat der Geschichte: dem Verrat Judas´ an Jesu. Indem er das Motiv...
... der Tat aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet, wonach der Kreuzigung die unendliche Liebe des ergebensten Jüngers Jesu vorausging, entführt Oz seine Leserin in die Welt der historischen Deutungen und Zuschreibungen des Christentums, die er als veränderlich begreift.
Dank Mirjam Pressler, die diesen rührenden Roman "mit kunstvoller Zurückhaltung" – wie es in der Begründung der Jury heißt, die ihr für die Übersetzung vom Hebräischen ins Deutsche den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Sparte Übersetzung verlieh –, ist die geistreiche Sprache Oz´ nun auch auf Deutsch erfahrbar.
Jerusalem 1959
Ein kalter, rauer Wind durchzieht die winterliche Stadt, deren Häuser zum Teil noch von den Spuren des Unabhängigkeitskrieges gezeichnet sind. Trotz der sternenklaren Nächte und des pfeifenden Windes scheint es, als umgebe die Heilige Stadt eine dumpfe Glocke. Die Luft ist dünn, das Verhältnis zwischen dem jungen Staat Israel und den arabischen Nachbarländern angespannt.
Im geteilten Jerusalem, an dessen östlicher Grenze nachts jordanische Scharfschützen patrouillieren, während im Westteil Katzen durch einsame Straßenzüge streunen, lebt Schmuel Asch. Ein kräftiger junger Mann von 25 Jahren, geboren und aufgewachsen in Haifa, Sohn jüdischer Flüchtlinge aus Lettland, Verfechter des "wahren" Sozialismus und bis vor Kurzem ambitionierter Student der Geschichts- und Religionswissenschaften.
Ein verheißungsvolles Gesuch
Nachdem ihn seine Freundin für einen anderen verlassen und die Firma seines Vaters Konkurs gemeldet hat, wodurch dessen finanzielle Unterstützung für den Sohn vorerst versiegt, entschließt sich Schmuel, sein Studium abzubrechen und die Stadt, die auch ihn atmosphärisch zu erdrücken scheint, zu verlassen.
Wie gelegen kommt ihm da ein Aushang an der Uni, in dem ein wortgewandter Student der Geisteswissenschaften gesucht wird, der sich gegen freie Kost und Logis jeden Abend für einige Stunden mit einem 70-jährigen körperbehinderten Mann anregend unterhalten soll.
Geistige und körperliche Begehrlichkeiten
Obwohl Schmuel kein guter Zuhörer ist, der – sobald sein Gegenüber spricht – ermüdet und nicht selten sogar einschläft, geht er auf das Angebot ein und gelangt so in die sonderbare Wohngemeinschaft des Gerschom Wald und der Atalja Abrabanel. Neben den Gesprächen mit dem kränklichen Alten, an denen er zunehmend Gefallen findet, weil sie sein Denken anregen, ist es besonders die unnahbare Atalja, zu der sich Schmuel trotz ihres Alters – sie könnte seine Mutter sein – körperlich hingezogen fühlt. Entgegen seinem monologisierenden Naturell beginnt er, Atalja Fragen zu stellen, sich für ihr Leben zu interessieren, wodurch er erfährt, dass sie die Schwiegertochter Walds ist, dessen Sohn im Unabhängigkeitskrieg gefallen ist.
Atalja wiederum erblickt in Schmuel, den "naiven alten Jungen mit dem Bart eines Höhlenmenschen" etwas liebevolles, das sie – deren Herz von einem tiefen Schmerz durchdrungen ist – unweigerlich berührt.
Der Verrat in der Antike und der Neuzeit
Im Zuge seiner Gespräche mit dem scharfsinnigen Gerschom Wald beginnen Schmuels Gedanken – sollten sie nicht bei der geheimnisvollen Atalja sein –, um den Verrat in der Geschichte zu kreisen, dessen zum Teil verschiedenartige Beurteilung durch Zeitgenossen und nachfolgende Generationen ihn besonders interessiert. Wie kommt es, so der junge Mann, dass einige Personen, die zu ihrer Zeit als Verräter gebrandmarkt wurden, heute eine gegensätzliche Wertung erfahren? Wurde nicht das Attentat um Stauffenberg von den meisten "Volksgenossen" scharf verurteilt, während man der beteiligten Offiziere heute in respektvoller Anerkennung gedenkt? Auch die Leserin wird so vor die Frage gestellt, ob Verrat zwangsläufig Böswilligkeit und Zerstörung bedeutet, oder nicht auch Mut, Befreiung und Fortschritt.
Judas, der ewige Verräter als erster und letzter Christ?
Die Zuschreibungen und historischen Dimensionen des Verrats treiben Schmuel um. Dabei ist es vor allem die Rezeption des Judas, Jehuda ben Schimon, des Jüngers aus Kariot, der im christlichen Europa wie kein Zweiter dämonisiert wurde. Worin, so fragt sich Schmuel, liegt sein Verrat an Jesu? Ist er nicht der ergebenste Schüler des Nazareners gewesen, der sich nach dessen Kreuzigung als einziger aus Trauer und Verzweiflung darüber, dass die von ihm initiierte Passion, die allein dem Heilsplan dienen sollte, misslang, das Leben nahm, während Petrus seinen Glauben leugnete? Indem Oz den Verrat des Judas und dessen Motivlage so von einer anderen Seite betrachtet, wie bereits einige Theologen vor ihm, gelangt Schmuel schließlich zu der Überlegung, Judas sei womöglich der einzig wahre Christ auf Erden gewesen.
Schmuels Verrat
Der Verrat, so Schmuel im persönlichen Fazit, ist etwas ambivalentes, etwas in seiner Bewertung nicht statisches, dessen Konsequenzen sich oft erst über einen längeren Zeitraum ermessen lassen. Und so ist er am Ende seiner Zeit bei Atalja und Wald bereit, sich einzugestehen, dass auch er verraten hat: seine ursprünglichen Lebensentwürfe, seine Eltern und seinen Professor, die an eine akademische Karriere Schmuels geglaubt und diese unterstützt hatten.
Und dennoch oder gerade deswegen fühlt er sich so frei wie nie zuvor in seinem Leben. Verrat, so Schmuel, bedeutet immer auch Neuanfang.
Zum Autor: Amos Oz wurde 1939 als Amos Klausner in Jerusalem geboren. Seine Eltern, der Bibliothekar und Literaturwissenschaftler Jehuda Arie Klausner und seine Ehefrau Fania Klausner, waren osteuropäische Flüchtlinge, die zu Beginn der 1930er Jahre nach Palästina emigrierten. Nach dem Freitod seiner Mutter trat Oz 1954 dem Kibbuz "Chulda" bei und nahm einen neuen Namen an, der auf Hebräisch so viel wie Stärke, Kraft bedeutet.
Von 1960 bis 1963 studierte er Philosophie und Literatur an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Während seiner Studienjahre veröffentlichte er erste Kurzgeschichten, die in der Literaturzeitung "Kesher" erschienen. In den nachfolgenden Jahren verfasste er eine Vielzahl von Romanen, Erzählungen, Artikeln und Essays, die in insgesamt 37 Sprachen übersetzt wurden. Oz ist damit der bis heute meistübersetzte israelische Schriftsteller, der zahlreiche Preise und Auszeichnungen wie den Israel-Preis der Literatur (1998) oder den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a.M. (2005) erhielt. Seine Romane und Erzählungen, die vor dem Hintergrund des politischen Lebens in Israel spielen, zeichnen sich durch eine präzise Beobachtungsgabe und ein besonderes Sprachgefühl aus. Amos Oz ist seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 in der israelischen Friedensbewegung aktiv, wo er sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt. Er ist Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung "Schalom Achschaw" (Peace now). Er lebt in der Stadt Arad an der Grenze zur Negev-Wüste.
Zur Übersetzerin: Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt geboren. Sie studierte an der Akademie für Bildende Künste in Frankfurt a.M. und in München. Nachdem sie ein Jahr lang in einem Kibbuz in Israel gelebt hat, kehrte sie 1970 nach Deutschland zurück. In der Folgezeit zog sie ihre drei, mittlerweile erwachsenen Töchter alleine auf und verfasste mehr als 30 Kinder- und Jugendbücher. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin ist Pressler als Übersetzerin tätig. Zahlreiche Originaltitel auf Hebräisch, Niederländisch und Englisch verdanken sich ihrer Übersetzung, darunter Werke von Uri Orlev ("Lauf, Junge, lauf"), Amos Oz ("Unter Freunden") und Zeruya Shalev ("Späte Familie"). Für ihre "Verdienste an der deutschen Sprache" wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet und für ihr Gesamtwerk als Autorin und Übersetzerin 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis. Für ihre Übertragung von Amos Oz´ "Judas" erhielt Pressler 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Übersetzung. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Landshut.
Weitere Infos: www.mirjampressler.de
AVIVA-Tipp: Amos Oz ist auch mit seinem neuen Roman ein feingliedriges Werk gelungen, dessen ausgeklügelte Erzählstränge auf authentische und sensible Weise die Vielschichtigkeit menschlichen Denkens und Fühlens freizulegen vermögen. Die Leserin findet sich aufgrund dieser Nähe, die Oz zwischen ihr und seinen ProtagonistInnen herstellt, selbst im Gespräch mit Atalja, Schmuel und Wald, von deren Überzeugungen sie aus nächster Nähe erfährt und an deren Diskursen sie gedanklich partizipiert. Auf diese Weise wird auch sie vor die Frage gestellt, was Verrat bedeutet und wie dieser – ob selbst erfahren oder begangen – zu werten ist. Indem sich die Diskussionen um Rechtmäßigkeit, Verantwortung und Schuld in dem Roman, dessen Schauplatz das geteilte Jerusalem ist, vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts abzeichnen, hat Oz zugleich ein politisches Buch geschrieben.
Amos Oz
Judas
Originaltitel: Habesora al pi Jehuda (Keter, Jerusalem 2014)
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler
Suhrkamp Verlag, erschienen am 7. März 2015
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 335 Seiten.
ISBN 978-3-518-42479-7
22,95 Euro
www.suhrkamp.de
Weitere Infos unter:
www.zeit.de Amos Oz - Ein Verrat aus übergroßer Liebe. Interview zu seinem neuen Roman "Judas" in DIE ZEIT vom 27.03.2015
www.zdf.de Kulturzeitgespräch mit Amos Oz vom 13.03.2015 über seinen Roman "Judas" und 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen
www.deutschlandradiokultur.de "Ich habe alles Deutsche boykottiert, nur nicht die Literatur" - Amos Oz im Gespräch mit Carsten Hueck, Beitrag vom 14.11.2014
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