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Beitrag vom 17.04.2015
André Herzberg - Alle Nähe fern
Romina Wiegemann
Der Sänger der legendären Rockband Pankow erzählt in seinem Generationenroman die Geschichte seiner jüdischen Familie. Mit psychologischem Feinsinn und sprachlicher Klarheit stellt der Autor...
... schwierige Vater-Sohn-Beziehungen dar, die angesichts der Wucht der politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts endgültig zu zerbrechen drohen.
Heinrich, der Patriot
Heinrich Zimmermann hat sich in Hannover vom einfachen Lederhändler zum mittelständischen Unternehmer hochgearbeitet. Sein Bekenntnis zum liberalen Judentum ist für ihn ebenso selbstverständlich wie die freiwillige Teilnahme als Soldat im Ersten Weltkrieg, um das Deutsche Kaiserreich zu verteidigen. Den Aufstieg des Nationalsozialismus beobachtet er zunächst mit erstaunlicher Gelassenheit, Heinrich wiegt sich als deutscher Patriot in Sicherheit. Unbegreiflich ist es daher für ihn, dass die nationalsozialistische Judenverfolgung auch vor ihm nicht Halt macht. In letzter Minute gelingt ihm zusammen mit seiner Frau Rosa die Flucht. Sein Sohn Paul wird in die englische Emigration geschickt.
Paul, der Kommunist
Paul ist 17 Jahre alt, als er in England ankommt. Als "feindlicher Ausländer" landet er bald darauf in einem Kriegsgefangenlager, in dem überwiegend Nationalsozialisten festgehalten werden. Für den Juden Paul entsteht eine bedrohliche Situation. Schließlich lernt er im Lager den deutschen Kommunisten Helmuth kennen, der ihm die Schriften Marx´ und Lenins zu lesen gibt. Paul wird bald zum glühenden Anhänger ihrer Lehren und Auslandmitglied der KPD. Er befolgt Helmuths Rat und beginnt, seine jüdische und bürgerliche Herkunft zu verleugnen. Die Verheißungen des Kommunismus mit seiner Losung "Klasse statt Rasse" sind verführerisch für den jungen Mann, der sich auch schon früher nicht mit den bürgerlichen Werten seines Vaters identifizieren konnte. In der Gruppe lernt er Lea kennen, eine Jüdin aus Berlin, die sich ebenfalls ihrer Identität entledigen will, um ein gestaltendes Mitglied der neuen Bewegung zu werden. Noch in England bekommt das junge Paar sein erstes Kind, Johann.
Rückkehr nach Deutschland
Nach Kriegsende werden Paul und Lea von der Partei nach Berlin geschickt, um beim Aufbau des "neuen Deutschlands" mitzuhelfen. Dort angekommen, treten sie sofort aus der Jüdischen Gemeinde aus. Gleichzeitig erhält Lea traurige Gewissheit, dass ihre Mutter von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Das Land wird geteilt, Paul wird Journalist bei der Agentur für Nachrichten und die junge Familie bezieht eine Wohnung in Ostberlin. Johanns Schwester Lena wird geboren und einige Jahre darauf das jüngste Kind, Jakob. Immer wieder merken Paul und Lea, dass sie ihre jüdischen Wurzeln nicht einfach abschütteln können. Die von Stalin ausgehende antisemitische Hetze erreicht auch die DDR. Furcht befällt die beiden, die innerhalb der Partei aufgrund ihrer Herkunft immer wieder unter den Verdacht geraten, Anhänger_innen des "jüdischem Kapitalismus" zu sein. Sie sehen die einzige Lösung darin, ihr Judentum noch vehementer zu verleugnen und sich noch treuer als alle anderen an die Parteilinie zu halten. Lea wird Staatsanwältin. Die Ehe mit Paul zerbricht wegen seinem Verhältnis zu einer anderen Frau, nach der Scheidung wachsen die Kinder bei der Mutter auf.
Jakob, der Rebell
Jakob, das Alter Ego des Autors dieses Romans, ist ein kritischer Geist. In der Schule hat er immer wieder Probleme mit Lehrer_innen, deren ideologische Indoktrination er als lähmendes Korsett empfindet. Seinen Vater Paul sieht Jakob nur selten und wenn, dann begegnet dieser den kritischen Fragen seines jugendlichen Sohnes mit Parteiparolen. "Ich wünsche mir, dass Du einmal wie ein Vater zu mir sprichst und nicht wie ein Politiker", sagt Jakob einmal zu ihm, doch Paul will davon nichts wissen. Jakob verpflichtet sich zu drei Jahren Dienst in der DDR-Armee, um die Chance auf ein Musikstudium zu erhalten. Der militärische Drill treibt ihn an den Rande der Depression. Er wendet sich hilfesuchend an seinen Vater, der ihn nicht nur zurückweist, sondern die Verantwortlichen über die "negative politische Einstellung" seines Sohnes in Kenntnis setzt und sie auffordert, "hart mit ihm zu verfahren". Nach seiner Entlassung aus der Armee widmet sich Jakob ganz der Musik, startet eine erfolgreiche Karriere als Sänger und Liedtexter.
Die Wende
Der Zusammenbruch der DDR stürzt Jakob Zimmermann in eine tiefe Krise. Er begibt sich in psychologische Behandlung, setzt sich intensiv mit seiner jüdischen Herkunft auseinander und erlebt erstmalig, dass er diese nicht mit einem Tabu belegen muss. Spät, aber doch nähern sich auch seine Eltern dem Judentum wieder etwas an. Seine Mutter wird auf einem jüdischen Friedhof beerdigt und der inzwischen schwer kranke Paul organisiert ein Familientreffen, das anlässlich der Legung eines "Stolpersteins" vor der ehemaligen Villa seines Vaters Heinrich in Hannover stattfinden soll. Die seit der nationalsozialistischen Vertreibung auf der ganzen Welt zerstreute Familie kommt zusammen. Paul ist zu krank, um teilzunehmen, bittet Jakob aber darum, auf der Gedenkzeremonie das Kaddisch zu sprechen. Für Jakob symbolisiert diese Bitte eine Geste der von ihm lang ersehnten Versöhnung mit seinem Vater.
AVIVA-Tipp: André Herzbergs berührender Familienroman zeichnet sich insbesondere durch die feinfühlige Darstellung der Vater-Sohn-Konstellationen aus. Ohne jemals Anklage zu erheben, werden die Ursachen für das Misslingen dieser Beziehungen herausgearbeitet, die nicht losgelöst von den dramatischen politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden können. Durch Herzbergs Fähigkeit, mit wenigen Worten sehr viel auszudrücken – ein Talent, das ihn wohl auch als Songwriter so erfolgreich gemacht hat – gelingt es ihm, auf 272 Seiten ein drei Generationen umfassendes Porträt einer Familie zu entwerfen und die Leser_innen gleichzeitig durch die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zu führen. Wie jeder autobiographisch angelegte Roman erfüllt auch dieser eine bestimmte Funktion für den Autor. So lässt André Herzberg seinen Erzähler Jakob am Ende des Romans sagen: "Ich muss es aufschreiben, um zu wissen, wer wir sind und wie wir waren, damit ich besser leben kann." Das dürfte Herzberg mit Hilfe dieses Romans gelungen sein.
Zum Autor: André Herzberg wurde 1955 als jüngster Sohn streng kommunistischer Eltern in Ostberlin geboren. Der seit über dreißig Jahren im Musikgeschäft tätige Sänger ist vor allem als Frontmann der DDR-Rockband PANKOW berühmt geworden. Erste musikalische Gehversuche unternahm André Herzberg ab 1973 mit der Weißenseer Band BODYHALL. Während seines Musikstudiums an der Berliner Hochschule für Musik "Hanns Eisler" gründete er die GAUKLER ROCKBAND, welche die DDR-Hitparaden mit einem Nr. 1 Song eroberte. 1981 entstand die Band PANKOW. Mit ihrem ersten Album KILLE, KILLE, das 1983 erschien, landete die Gruppe mehrere Nr. 1 Hits. Ab 1986 unternahmen die erfolgreichen Musiker auch Reisen in die BRD und nach Westeuropa. Ab Anfang der Neunziger Jahre veröffentlichte André Herzberg auch Soloalben. 2006 erschien das vorläufig letzte Album von PANKOW, NUR AUS SPASS. Im Laufe seiner Karriere war Herzberg auch immer wieder als Schauspieler und als Songschreiber für Musicals engagiert. Sein erstes Buch veröffentlichte er im Jahr 2000, den Erzählband GESCHICHTEN AUS DEM BETT. 2005 folgte der autobiographische Tagebuchroman MOSAIK. André Herzbergs Familie lebt heute in Afrika, England und Deutschland.
(Quelle: Verlagsinformationen und Website des Autors)
Mehr Informationen unter: www.andreherzberg.de
André Herzberg
Alle Nähe fern
Ullstein Buchverlage, erschienen am 6. März 2015
272 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 9783550080562
21 Euro
www.ullsteinbuchverlage.de
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