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Beitrag vom 25.04.2015
Niels Lehmann, Christoph Rauhut (Hg.) - Fragments of Metropolis. Berlin
Teresa Lunz
Um 1920 sollte in Berlin der neue Mittelpunkt Europas entstehen. Dazu war eine zukunftsweisende Architektur gefragt, wobei dem Expressionismus eine heute häufig marginalisierte Schlüsselrolle...
... zufiel. Die Herausgeber dieses Fotobandes begeben sich auf Spurensuche durch die heutige Metropole.
Was ist Expressionismus, was wollte, was konnte er in der kriegsgeschädigten Weimarer Republik leisten? Und was bewirkt eine expressionistische Vision gerade beim Gebäudebau?
In einem einleitenden Essay wird eben diesen Fragen nachgegangen, Expressionismus auch als inzwischen medial überstrapazierter Begriff vorgestellt, den sich der Kapitalismus angeeignet hat. 1920 war das anders, wie das Vorwort "Expressionismus heute?" betont:
"Der architektonische Expressionismus wollte unbedingt Kunst sein und sei es um den Preis des Architektonischen."
Der Expressionismus wurde als Mittel zur Abgrenzung und Innovation kreiert, als Weg zur Utopie. Ein Aufsatz des Herausgebers Christoph Rauhut knüpft mit einem historischen Porträt Berlins an: Nach 1918 beginnt die biedere, vor allem militaristisch geprägte Kaiserstadt, sich als Weltmetropole zu erfinden: Künstlerische Offenheit und Experimentierfreudigkeit sind allgegenwärtig, es geht um die Schaffung neuer, zeitgemäßer Strukturen gerade im Bereich städtischer Baumaßnahmen. Der Expressionismus formiert sich gegenüber der Neuen Sachlichkeit, die vor allem das Bauhaus verkörpert, wobei viele Künstler_innen schulenübergreifend tätig sind. Hauptaufgaben sind die Erarbeitung moderner Erscheinungsformen von Sakralbauten und die Lösung der Wohnungsfrage. Ständig steigender Bedarf an Wohnraum besteht neben dem Drang, sich vom kaiserzeitlichen Modell der Mietskaserne zu lösen – das Enge, bescheidene Hygieneverhältnisse und Düsternis nach sich zieht. Diese Forderungen mündeten in die Entstehung von Großsiedlungen wie Britz oder die Wohnstadt Carl Liengen.
Freie Gestaltungsmöglichkeiten in den neuen Bezirken
Der expressionistische Baustil entwickelte sich vor allem in den frisch eingemeindeten Außenbezirken, wo der höchste Bedarf an neuen Gebäudetypen wie Autogaragen, Funk- und Kaufhäusern bestand, im Vergleich gewann Mitte eher musealen Wert. Immer war diese Bauweise mit dem Wunsch verbunden, eine "Stadtkrone" zu schaffen, ein weltliches Gebäude, das alle übrigen um sich schart und die Rolle des "Zentrums" einnimmt – zumindest auf die architektonische Substanz bezogen. Ein noch erhaltenes Beispiel ist die Buchdruckerei des Ullstein-Verlages am Mariendorfer Damm. Heute wird der expressionistische Wirkungsraum aufgrund der hohen Präsenz des Bauhauses häufig übersehen, doch war er, wie uns die Autoren durch Text und Bild erläutern, in den 1920ern eine essentielle Inspirationsquelle.
Umfangreiche Fotodokumentation mit Leerflächen
Anknüpfend an die theoretische Einführung werden Bauwerke ins Blickfeld der Betrachter_innen gerückt – im bunten Stadtbild Berlins leicht zu übersehen, sind ihnen hier imposante großformatige Fotografien gewidmet (alle zwischen 2010 und 2014 entstanden), jeweils mit der Angabe versehen, welche_r Architekt_in sie wann schuf: Das Gleichrichterwerk Zehlendorf in der Machnower Straße, 1928 von Heinrich Müller entworfen, oder die Rundkirche am Tempelhofer Feld, 1927 nach Skizzen Fritz Bräunings erbaut… Neben dem unmittelbaren Stadtgebiet werden auch der Spreewald und Potsdam, insgesamt die Mark Brandburg, fokussiert. Außer zahlreichen öffentlichen Institutionen sind Privathäuser wie das "Beamtenwohnhaus" am Zoologischen Garten aus dem Jahre 1929 abgelichtet. Die Betrachtung der Fotos sensibilisiert für die Erkennung der damaligen Ansprüche und Zielsetzung. So wird beispielsweise anschaulich klar, welch große Rolle die hanseatische Bautradition auf Basis von Backsteinen spielte.
Leider sind die Fotos nach einer eher knapp bemessenen insgesamt 12seitigen Einführung ohne weitere Unterteilungen oder besonders für Lai_innen hilfreiche Anmerkungen aneinandergereiht. Weitere Orientierungspunkte, zumindest in Form einer geographischen Gliederung, wären wünschenswert gewesen. So bleiben die Betrachter_innen durchwegs auf die eigene Analysefähigkeit angewiesen. Ein großes Versäumnis der Herausgeber ist die Ausblendung wichtiger historischer Fakten wie die hohe und bedeutende Präsenz jüdischer Architekt_innen im Berlin vor 1933. Diese bleiben komplett unerwähnt, obwohl der Band (unkommentiert) drei Bauwerke von Erich Mendelsohn aufführt.
Dennoch liefert er einen wertvollen Anstoß dazu, Berlin als "expressionistische Stadt" wiederzuentdecken. Routen durch eben dieses "expressionistische Berlin" lassen sich mit seiner Hilfe leicht erstellen, denn alle erwähnten Gebäude sind in den Stadtkarten im Anhang verzeichnet.
Das Buch ist zweisprachig abgefasst, auf deutsche Passagen folgt die englische Ãœbersetzung.
Zu den Herausgebern: Niels Lehmann und Christoph Rauhut sind Architekten und leben in Zürich. Gemeinsam haben sie im Hirmerverlag bereits den Fotoband "Modernism London Style. The Heritage of Art Déco" herausgegeben, zusätzlich lieferte Rauhut Beiträge zu "Bautechnik des Historismus". Rauhut studierte 2003–2009 Architektur an der RWTH Aachen und ETH Zürich und wurde 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich. Seit 2011 ist er Mitglied der Arbeitsgruppe Denkmalpflege, Stadtentwicklung, Umwelt des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalpflege, seit 2013 außerdem im Vorstand der Gesellschaft für Bautechnikgeschichte. Forschungsschwerpunkte sind Konstruktionswissen zu historischen Baukonstruktionen, die Verwissenschaftlichung des Bauwissens im 19./20. Jahrhundert und die Baugeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Dissertation schrieb er zum Thema Die Praxis der Baustelle um 1900: Das Zürcher Stadthaus Fraumünsteramt. (Quellen: Verlagsinformation, Website des IDB Zürich)
AVIVA-Tipp: "Fragments of Metropolis. Berlin" ist als akribische Fotorecherche in und um Berlin zu verstehen. Es deckt somit eine Nische in den Publikationen über die Baugeschichte der Zwischenkriegszeit ab. Wer allgemein Kenntnisse zum Expressionismus und seinen Ideen – etwa die Vorstellung von einer durch den Menschen erschaffbaren "Metropolis" – vertiefen will, sollte weitere Fachliteratur hinzuziehen. Die Neuerscheinung von Lehmann und Rauhut übergeht jedoch leider grundsätzlich relevante Informationen wie die Bedeutung jüdischer Architekt_innen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme.
Nils Lehmann, Christoph Rauhut (Hg.)
Fragments of Metropolis. Berlin
Hirmerverlag, erschienen im April 2015
Hardcover, 256 Seiten, 140 Abbildungen in Farbe,
55 Planzeichnungen und Kartenmaterial, zweisprachig
ISBN 9-783777-422909
24,90 Euro
www.hirmerverlag.de
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