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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 01.07.2015


Marina Stepnowa - Die Frauen des Lazarus
Teresa Lunz

Die Übersetzerin aus dem Rumänischen und erste weibliche Chefredakteurin bei einem Männermagazin schreibt Romane und Erzählungen für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Schriftstellerin ...




... thematisiert in "Die Frauen des Lazarus" das Leben des Physikers Lazarus Lindt, dessen Leben von zwei Frauen geprägt ist: Von seiner Ziehmutter Marusja und seiner Ehefrau Galina

Mehr noch als den wissenschaftlichen Durchbruch ersehnt er Geborgenheit und familiären Halt – doch erst seiner Enkelin, der zum Erfolg gedrillten Balletttänzerin Lidotschka gelingt es, ein Zuhause aufzubauen.

Lidotschka ist fünf Jahre alt, als ihre Mutter bei einem Familienurlaub verunglückt und der Vater sie zu ihrer selbstverliebten, gefühlskalten Großmutter gibt, der steinreichen Witwe Galina Lindt. Das kleine Mädchen flüchtet vor der unnahbaren, bis dato fremden Person in die Isolation – vergräbt sich in die vielen Bücher, die sich in der Villa befinden, und nähert sich über sie dem verstorbenen Großvater an: Dem genialen Physiker Lazarus Lindt.

In der Wissenschaft erreichte Lindt, der 1918 bettelarm, als zerlumpter und verwaister Jugendlicher, an die Tür des renommierten Professors Tschaldonow klopfte, alles. Ein erfülltes Privatleben blieb ihm verweht: Jahrelang quälte ihn die unerwiderte und unerfüllbare Liebe zu Marusja, der warmherzigen Gattin seines Mentors Tschaldonow. Weil ihnen der Kindersegen verwehrt geblieben war, nahm sie sich wie eine Mutter des jungen Lindt an, begleitete und bejubelte seine Karriere… Doch sie und ihr Mann waren unzertrennlich.

Marusjas Tod bringt Lindt an den Rande der Raserei: Weder die allmächtige Sowjetregierung noch sein Erfindungsreichtum können dabei helfen, die entstandene Lücke zu füllen, Trost zu schaffen. Bald darauf ermöglicht ihm seine Stellung als Akademiemitglied und Mitentwickler der RDS-1 – der ersten atomaren Testbombe auf Seite der Sowjetunion –, die junge Studentin Galina rasch heiraten zu können. Der alternde Lindt will nun endlich ein familiäres Nest begründen – dass seine Erwählte bereits verlobt ist und ihn ablehnt, nimmt der erfolgsverwöhnte Lazar kaum wahr. Doch Glück kann nicht erzwungen werden. Liebe ist nicht kalkulierbar. Galina bekommt Depressionen, tut in der Abgeschiedenheit der Klinik alles, um Lindts Kind zu verlieren – Borik, Lidotschkas späteren Vater.

Erst nach und nach vollzieht sich der Wandel der Gattin Lindt zur Ikone der russischen Gesellschaft, bestechend elegant und umschwärmt, der es mühelos gelingt, Lindts Haushalt zu dominieren und die auf Luxus in allen Facetten besteht – "unbegreiflich für den schwerfälligen Verstand des Pöbels und deshalb besonders begehrenswert". Lindt lässt sich als Jahrhundertgenie feiern, forscht, betet Galina an und driftet allmählich in geistige Umnachtung ab. Geborgenheit bleibt ihm verwehrt. Die Witwe empfindet Jahre später, als die Enkelin in ihren Haushalt zieht, tiefen Widerwillen vor dem Mädchen, weil es so sehr an den intellektuellen, hochpräsenten und komplizierten Großvater erinnert: "Galina Petrowna, die nach vier Jahren als Witwe beinahe den animalischen, lebendigen Ekel vergessen hatte, den ihr Mann in ihr hervorgerufen hatte, verfolgte voller Abscheu, wie aus dem pummeligen, fröhlichen Körper des agilen, hübschen Mädchens wie in einem Albtraum Lazarus Lindt hervortrat. Sein mürrischer Blick, sein Lächeln, seine Hände…"

Der Roman zeigt eine Familie am Rande des selbstgeschaffenen, scheinbar unüberwindlichen Abgrunds. Gleichzeitig ist er auch ein Sittengemälde, ein Abriss der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert – geprägt durch Bürger_innen– und Weltkrieg. Die Leser_innen erfahren von der Bedeutung der orthodoxen Ikone und des Wodkas, den landesweiten Verzweiflungsstürmen, die der Tod Stalins auslöst. Auf beklemmende Weise wird die unhinterfragte Allmacht der Sowjetregierung ersichtlich, die diese mitunter erbarmungslos nutzt, um für das Glück der Vorzeigebürger_innen zu sorgen – geschehe dies auch zum Leiden Dritter: Die 18jährige Galina muss ihr Elternhaus verlassen, die Ausbildung aufgeben und ihre Verlobung lösen, als Professor Lindt sein Interesse für sie bekundet. So treten die historischen Einschnitte, endend mit dem Regimesturz 1989, neben die kleinen Miseren des Alltags, etwa die ewigen Schwierigkeiten bei der Toilettenpapierbeschaffung. Dieser vielschichtige Roman fächert sich um die verschiedenen Frauenperspektiven auf, mitten darin erscheint immer wieder der schroffe, unsympathische und dennoch anziehende Lindt, der alle Handlungsfäden vereinigt.

Anfangs wirken alle Personen aalglatt, frei von Ecken und Kanten. Dies ändert sich jedoch mit dem Auftritt der eigenwilligen Galina, die die Erste ist, die sich Lindts Charme entzieht. Nach der lange fokussierten schablonenhaften Marusja, deren Charakterbild nur Bescheidenheit und Selbstlosigkeit enthält, nimmt sich das launische junge Mädchen mit seinem persönlichen Ehrgeiz erfrischend realistisch aus. Sie lädt zur Identifikation ein, weil sie eine natürliche Entwicklung durchläuft: Sie lernt, ihre Vorteile zu nutzen – wie die übrigen Mitglieder der Sowjetelite. Strebt nach Macht und erlernt es, ihre Gefühle vollendet zu verbergen, weil dies der einzige Weg scheint, sich weitere Verletzungen durch die Staatsmacht, die verlorene Jugendliebe und den ältlichen Gatten an ihrer Seite zu ersparen.

AVIVA-Tipp: Marina Stepnowa schreibt in blumigem Stil, mit zahlreichen, teilweise etwas schwerfälligen Metaphern, wenn sie etwa das Glück im Hause Tschaldonow als so vollkommen beschreibt, "dass sogar die sauberen Teller in seinen [des Hausherrn] Händen zufrieden aufseufzten." Dieses Pathos wie auch die Fülle an Nebenfiguren machen "Die Frauen des Lazarus" zur optimalen Lektüre für Leserinnen, die Zeit mitbringen – vielleicht den Sommerurlaub? – und es mit dem Fortschreiten der wesentlichen Handlung nicht eilig haben. Eine steile Spannungskurve oder rasante Entwicklungen dürfen hier nicht erwartet werden. Dafür aber atmosphärische Schilderungen und ein denkwürdiger Protagonist, der im Laufe des Buches immer mehr an Farbe und Tiefe gewinnt.

Zur Autorin: Marina Stepnowa wurde 1971 in Jefremow, einer kleinen Stadt in der Region Tula, geboren. Sie wuchs in Moskau auf, wo sie heute noch lebt, und studierte dort am Gorki-Literaturinstitut sowie am Institut für Weltliteratur, außerdem arbeitet sie als (erste weibliche) Chefredakteurin bei dem Männermagazin "XXL" und als Übersetzerin, sie schreibt Romane und Erzählungen. Aus dem Rumänischen übersetzte sie das Drama "Der Stern ohne Namen" von Mihail Sebastian, das in Russland an einer Reihe von Theatern aufgeführt wurde. Für "Die Frauen des Lazarus" erhielt sie den Preis "Das große Buch" 2012 und war im selben Jahr in der engeren Wahl für den "Nationalen Bestsellerpreis" und den russischen "Booker-Preis".
(Quelle: Verlagsinformation und readrussia)

Interview mit der Autorin (auf russisch, mit französischer Untertitelung):

www.youtube.com

Mehr Infos auf: bgs-agency.com und readrussia.org

Marina Stepnowa
Die Frauen des Lazarus

Originaltitel: Zhenshchiny Lazarya
Aus dem Russischen von Kerstin Monschein
Deutsche Erstausgabe
Btb-Verlag, erschienen 16. März 2015
Hardcover, 447 Seiten
ISBN 978-3-442-75378-9
21,99 Euro
www.randomhouse.de

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Beitrag vom 01.07.2015

AVIVA-Redaktion