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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.08.2015


Mirna Funk - Winternähe
Magdalena Herzog

Berlin-Mitte. Angesagte Gegend mit angesagten Menschen. Lola, 34, Fotografin, arbeitet in einer Agentur, ist (Ost)Deutsche, Jüdin und hat den Hals von ihrem antisemitischen Umfeld gestrichen voll.




Erster Teil: Das makellose Berlin-Mitte wird politisch

Berlin-Mitte in all seiner stereotypen Vorstellung stellt das Bühnenbild dar, vor dem sich der erste Teil des Debütromans von Mirna Funk abspielt. Der Roman eröffnet mit einem Skandal: Die Protagonistin Lola erkennt sich auf Facebook auf einem Bild wieder, auf dem sie ein Hitlerbärtchen trägt. Ihre Freund_innen haben es ihr aufgemalt und stoßen auf großen Gefallen und Abneigung – warum solch ein Schabernack alles andere als banal, geschweige denn witzig ist, können sie nicht nachvollziehen. Lola klagt gegen diese antisemitische Performanz. Ihr Anwalt verliert den Prozess, weil die Klägerin gemäß der Halacha keine Jüdin ist – denn: nur Lolas Vater ist Jude. Schachmatt. Nun hat Lola in ihrem Leben erstmalig handfesten Antisemitismus erlebt.

Die Spannung, welche die deutsche und jüdische Identität für Lola stets bedeutete, ist kaum mehr auszuhalten. Der Prozess und weitere antisemitische Attacken reißen Lola aus ihrer Welt. Die Bekannte, die sie jetzt und im Verlauf der Handlung trifft, repräsentiert eine weitere Position im so brisanten und zu oft antisemitisch aufgeladenen deutschen Diskurs über die Shoah und den israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Attacken und die Gespräche haben sie politisiert, sie möchte Eindeutigkeit in ihrer Zugehörigkeit zum Judentum haben und der Ambivalenz der Identitäten zumindest dahingehend entfliehen, dass es nicht Nichtjuden sind, die über ihr Jüdisch-Sein bestimmen können. Der Versuch einer Konversion scheitert: Während die anderen im Judaistik-Kurs entschlossen sind, religiös und damit unzweifelhaft jüdisch zu werden, wird es Lola klar, dass Ambivalenz Teil ihrer Persönlichkeit ist.

Ein neuer Bezugspunkt in diesem Berlin, in dem Lola sich nun nicht mehr wohlfühlt, bietet Shlomo. Ihm erlaubt Lola, sie als Liebhaber bei ihrem Weg stückweise zu begleiten. Er ist ein radikal linker Israeli, der konservative Israelis als Hitler-Juden bezeichnet und sich für seine politische Haltung aktiv einsetzt. Er wiederum ist damit beschäftigt, wie es der israelischen Linken und den Palästinenser_innen ergeht und mit dem, was er in seiner Zeit in der Armee erlebt hat. Während sie auf persönlicher Ebene emotional hier und da zueinander finden, bleibt ihnen später in Tel Aviv der Anschluss an das, was sie jeweils in ihrer Identität umtreibt, verschlossen.

Zweiter Teil: Tel Aviv – wo Ambivalenz und Komplexität sich nicht auflösen müssen, sondern Teil des Lebens sind

Lola folgt Shlomos Einladung nach Tel Aviv. Hier bricht der Gaza-Krieg 2014 aus und Lola lernt kennen, was für viele Israelis normal ist: Raketenalarm, In-den-Luftschutzkeller-Rennen und das Boom-Geräusch, welches das Zerschmettern der Raketen durch das Raketenabwehrsystem Iron-Dome markiert. Diese Erlebnisse sind zuviel für Lola, sie ist erschöpft und merkt immer deutlicher, dass sie auch hier keine neue Perspektive auf ihre jüdische und deutsche Identität findet.

In diesem Erzählstrang mäandert zusätzlich Lolas Familiengeschichte: der Vater war DDR-Flüchtling, immer abwesend, die Mutter ebenfalls und so wächst sie bei den Großeltern auf. Die dauernde emotionale Auseinandersetzung mit dem abwesenden Vater ist für die Protagonistin gerade deshalb so wichtig, weil dieser den Bezug zum Jüdischen darstellt und versucht hat, das "Oxymoron-Dasein" als deutsche Jüdin zu leben. Als ihr Großvater in Israel stirbt, ist Lola plötzlich eine mit Frau, die kein Familienmitglied mehr hat, mit dem sie in einem engen emotionalen Austausch steht.

Dritter Teil: Bangkok – Die Auflösung der emotionalen Zerrissenheit

Auf These und Antithese folgt Synthese. Lola findet keine emotionale Ruhe zur Trauer, und flüchtet, wie damals aus Berlin, nun nach Thailand, zieht sich zurück und findet die Ruhe, die sie sucht. Der Krieg, die Nähe zu Shlomo und der Verlust von Gerhsom müssen verarbeitet werden. Gleichzeitig beginnt sie einen Brief zu lesen, den ihr ihre Großmutter hinterlassen. Und dieser krempelt ihre Familiengeschichte um.

Resümee

Mirna Funk ist es gelungen, den hitzig geführten Diskurs über das Themenfeld Deutsche, Juden/Jüdinnen, Israel, Shoa, Antisemitismus und das Leben als deutsche Jüdin in einen Roman zu betten. Angesiedelt ist er in einem Milieu, das durch apolitische und hochpolitische Personen gekennzeichnet ist und in dieser Hinsicht teilweise stereotyp anmutet. Lola ist eine emotionale Frau, die beneidenswert frei agiert und kosmopolitisch lebt. Sie vereinigt die Perspektiven der Dritten Generation als Jüdin und als Nichtjüdin und damit die Traumata der Opfer und die Verleugnungen der Täter_innen. Die Verortung in die Metropolen Berlin und Tel Aviv neben dem sprachlich journalistischen Zugang macht "Winternähe" zu einem Roman, bei dem sich die Kenner_innen des Diskurses verstanden fühlen können, nicht aber überrascht werden. Für Neueinsteigende gibt es neue Perspektiven kennenzulernen, was "Winternähe" zu einem politisch sehr wichtigen Buch macht.

Ein Kommentar zur Resonanz auf den Roman

Die Reaktionen auf den Roman geben eine weitere Perspektive preis. So findet sich in der Rezension in theeuropean, die Aussage, die antisemitischen Ereignisse seien "in einer ersten Abwehrreaktion zu stark verdichtet" und im Gespräch im NDR bekennt der Rezensent Alexander Solloch sich selbstreflektierend als "naiv", wenn er zunächst annimmt, die von der Autorin genannten Antisemitismen seien überzeichnet und klärt zugleich auf, dass die Autorin dies alles erlebt hat. So bitter und schmerzhaft es ist: was Mirna Funk beschreibt, dürfte zwar schockierend, jedoch für keine/n überraschend sein, der in den letzten Jahren den gesellschaftlichen Diskurs verfolgt hat. Insofern trifft der Roman den Puls des Feuilletons und hat offensichtlich per se einen aufweckenden Charakter. Indem die Autorin neben den scharfen Analysen ihrer Protagonistin auch zentrale Autor_innen und Kunstproduktionen des Themenfeldes nennt, kann ihr Erstlingswerk als Einführung zu einem differenzierteren Verständnis des Themas verstanden werden.

Zur Autorin: Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für "Der Freitag" und das "Zeit Magazin", und schreibt über Kultur, Lifestyle und Kunst. Sie lebt in Berlin und Tel Aviv. Im Sommer 2014 berichtete sie für das Berliner Magazin "Interview.de" aus Israel und von ihrem Leben im Ausnahmezustand, über die Kunstszene Israels, über Künstler_innen, Galerien und Museen in Tel Aviv und Haifa.
Für "Winternähe" hat Mirna Funk den Uwe-Johnson-Förderpreis erhalten.

Weitere Infos unter: www.mirnafunk.com, www.fischerverlage.de und im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung

AVIVA-Tipp: "Winternähe" ist ein Roman, dessen zentraler Handlungsstrang sich in den gegenwärtigen deutschen Diskurs um das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis webt. Gleichzeitig geht es um die DDR, und darum, ohne emotional erreichbare Eltern aufzuwachsen. Nicht weniger geht es um eine Frau, die ein angenehm ungezwungenes Leben führt und einen Umgang mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und ihrer Verortung darin sucht.
Die schmerzhafte Aushandlung von Politik, Geschichte und die Freuden der Lifestylewelt werden hier zusammengebracht.

Mirna Funk
Winternähe

S. Fischerverlag, erschienen im Juli 2015
245 Seiten, Hardcover mit Banderole und Lesebändchen
19,99 Euro
ISBN 978-3-10-002419-0
Auch als E-Book erhältlich.
www.fischerverlage.de


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Magdalena Herzog