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Beitrag vom 29.08.2015
Regina Steinitz mit Regina Scheer - Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin. Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Angelina Boczek
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" gibt die "Zeitzeugenreihe" heraus, in der Holocaust-Überlebende zu Wort kommen, von denen viele erst im hohen Alter von dem traumatisch..
... Erlebten ihrer Kindheit und Jugend berichten können.
Dazu gehören auch die Lebenserinnerungen von Regina Steinitz, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Ruth in Berlin überleben konnte.
Wie für die meisten der inzwischen schon über 80-Jährigen Verfolgten der NS-Zeit die in jener Zeit Kinder waren, ist es sehr schwer, sich all die Ausgrenzungen, Bedrohungen, Demütigungen und Gewalttätigkeiten wieder vor Augen zu führen, so auch für Regina Steinitz: "Ich habe viele Jahrzehnte gebraucht, um über meine Kindheit sprechen zu können. Erst mit über 80 Jahren entschloss ich mich, meine Erinnerungen oder doch einen Teil davon zu veröffentlichen – zum Gedenken an unsere Eltern und Brüder sowie an alle mutigen Menschen, die uns halfen zu überleben. Vor allem aber zur Erinnerung an alle die, deren Leben gewaltsam beendet wurde."
Als die Zwillinge 1930 geboren wurden, hatten sie bereits zwei Brüder aus der Ehe ihrer ehemals christlichen Mutter Martha Rajfeld, die wegen ihrer Heirat mit dem jüdischen Fotografen Moritz Rajfeld zum Judentum übergetreten war. Rajfeld starb früh an Tuberkolose. Es gab aber im Fotoatelier den Gehilfen Simon Welner, der der Vater der (unehelichen) Zwillinge wurde und auch für die beiden Rajfeld´schen Söhne Theo und Benno lebenslang Vater blieb.
Die Familie wohnte in Berlin-Mitte, in der Auguststraße, die Kinder besuchten den jüdischen Kindergarten und die jüdische Volksschule in der Rykestraße.
Dass Regina Steinitz sich teilweise sehr genau an ihre ersten Kinderjahre erinnern kann, liegt nicht zuletzt daran, dass ihr Vater Simon Welner die Kinder oft fotografierte und diese Fotos mitnahm, als er Anfang 1938 Deutschland verlassen musste. Sein in den USA lebender Bruder Aaron erwirkte für ihn eine amerikanische Einreisegenehmigung. Einige dieser geretteten Kinderfotos sind in dem Buch zu sehen. Dass der Vater ausreisen konnte, war zunächst von Vorteil, da die Hoffnung bestand, Mutter und Kinder nachzuholen – leider erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Erst 18 Jahre später sahen die Mädchen ihren "geliebten" Vater wieder: "Andere Menschen haben uns oft verständnislos gefragt: Wie konnte euer Vater die Familie verlassen und nur sich selbst retten: - Die haben nicht begriffen, was für eine Zeit das war, in welcher Gefahr ein Ostjude ohne Arbeitserlaubnis damals war. ... Deshalb waren wir bei aller Traurigkeit froh, dass es meinem Vater gelang zu entkommen. Natürlich war es schmerzhaft. Ich sehe ihn noch vor mir, er stand vor uns, seinen Püppchen, und weinte bitterlich. Niemals zuvor haben wir unseren Vater weinen sehen. Er umarmte und küsste uns, konnte sich nicht losreißen. ... wir waren noch keine acht Jahre alt."
Dass ein Jahr später, 1939, die Mutter mit nur 34 Jahren auch an Tuberkolose starb, war für ein weiterer Schlag für die bislang behütet aufgewachsenen Kinder. Die Mädchen wurden von den schon älteren Brüdern getrennt und es begann eine Odyssee. Zunächst kamen sie in das Jüdische Kinderheim Fehrbelliner Straße. Regina und Ruth konnten dort Freundschaften schließen und immerhin weiter die Schule besuchen. Auch gab es aufopferungsvolle Erzieherinnen, die das Schicksal der Kinder milderten.
Ab 1942 wurden jedoch jüdische Kinderheime, Schulen und andere Einrichtungen geschlossen, die beiden Mädchen landeten in Pflegefamilien und weiteren Heimen, unter anderem in dem brandenburgischen Ort Caputh.
Da Regina und Ruth zu dieser Zeit viel bewußter die Ereignisse um sich herum zu deuten wußten, sie waren jetzt zwölf Jahre alt, wuchsen auch die Ängste und Sorgen vor der Zukunft. Durch einen Zufall, der zusammenhing mit dem vorherigen christlichen Status der Mutter Martha Rajfeld, bestand deren Bruder Robert darauf, dass weder Mutter noch Kinder jüdischer Herkunft seien, eine vollständige Überprüfung der Geburtsurkunden unterblieb. So entfernte er den gelben Stern auf der Kleidung der beiden und brachte sie unter in seiner eigenen Familie: Regina blieb bei Onkel Robert und der Tante (an die Regina ungute Erinnerungen hat, die sie in dieses Buch nicht einfließen ließ, zu schrecklich müssen die sein...): "Bis zur Befreiung lebten wir in Todesangst. Jedes Klopfen an der Tür ließ unser Herz stillstehen. ... Nur das kleine Kind meiner Tante, um das ich mich kümmerte, war mir ein Trost. Und Ruth. Aber wir waren zum ersten Mal getrennt und jede musste allein mit allem fertigwerden", denn die Schwester Ruth kam zur Oma, bei der sie es besser hatte, als Regina bei der Tante, die nie mit Namen erwähnt wird.
Es folgen Schilderungen von Bombardierungen, von weiteren Gestapoverfolgungen: "... alles war von Angst durchtränkt". Dass die Geschwister von den berüchtigten "Zwillings-Experimenten" bedroht waren, haben sie zum Glück nicht vor Augen gehabt. Auch das Ende des Grauens und des Krieges schildert Regina Steinitz anschaulich, denn für die Mädchen war längst nicht alles ausgestanden, so heißt dieses Kapitel denn auch: Angst und Befreiung.
Die weiteren Kapitel lauten: Neuanfang, Nachricht von den Lebenden, Nach Israel, Ankuft im Kibbuz, Aufbruch in den Alltag, Erinnerungsarbeit.
Berichte wie diese, von einer noch lebenden Augenzeugin, können einmal mehr dazu verhelfen, dass Begriffe wie "Völkermord", "Judenverfolgung", "Holocaust" nicht abstrakt bleiben sondern die immer noch unfassbaren (!) Greueltaten, mitten in Berlin, begreifbarer machen.
AVIVA-Tipp: Die Mit-Autorin Regina Scheer erstellte das Manuskript auf sehr einfühlsame Weise, der Text ist sinnreich gegliedert und läßt sich wunderbar lesen, denn es gab von Regina Steinitz selbst keine schriftlichen Aufzeichnungen. Vielmehr waren zwei lange Interviews die Grundlage für dieses Buch, welches selbstverständlich autorisiert wurde. Ergänzt durch Archivrecherchen und Nachwort in der überaus preiswerten Ausgabe der "Zeitzeugenreihe", die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wird.
Regina Steinitz mit Regina Scheer
Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin. Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Berlin, 2014. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
175 Seiten mit Abbildungen in Farbe und Schwarzweiss. Klappbroschur.
ISBN 978-3-912240-16-1
Schutzgebühr: € 7,49 zzgl. Versandkosten
Erhältlich im Ort der Information (Denkmal für die ermordeten Juden Europas), im Buchhandel und unter info@stiftung-denkmal.de
Mehr Informationen unter:
www.stiftung-denkmal.de
Die Jugendwebsite "Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verbrechen":
www.stiftung-denkmal.de/jugendwebsite
Die deutschsprachigen Seiten von Yad Vashem:
www.yad-vashem.de
Yad Vashem The Holocaust Martyrs´ and Heroes´ Remembrance Authority:
www.yad-vashem.org.il
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