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Beitrag vom 18.10.2015
Clarice Lispector. Eine Biographie von Benjamin Moser
Dorothee Robrecht
Sie sah aus wie Marlene Dietrich und schrieb wie Virginia Woolf – so ein Zeitgenosse über die Grande Dame der brasilianischen Literatur, Clarice Lispector (1920 – 1977). Die vor zwei Jahren als ...
... Hardcover erschienene Biographie liegt jetzt auch als Taschenbuch vor.
Clarice Lispector ist eine Ikone der feministischen Literaturwissenschaft: Sie gilt als "weiblicher Kafka", und verglichen hat frau sie mit den Größten der Großen, mit Rilke und Rimbaud. Außerhalb feministischer Zirkel kennt frau/man sie hierzulande kaum, und das, so berichtet ihr Biograph, ist in Brasilien ganz anders:
In Brasilien ist die 1977 mit 57 Jahren an Krebs gestorbene Clarice Lispector ein Superstar: Ihr Konterfei schmückt Briefmarken, und zu haben sind ihre Bücher bis heute überall, selbst an Automaten in U-Bahn-Stationen. Was erstaunlich ist, denn leicht konsumierbar sind ihre Texte wahrlich nicht.
Ihr erster Roman, erschienen 1943 unter dem Titel "Nahe dem wilden Herzen", handelt von einer jungen Frau, die abgrundtief fremd ist in der Welt und sich nach kurzer Ehe zurückzieht in eine stolze, beinah arrogante Einsamkeit: "Ich weiß nie, was ich mit Menschen oder Dingen anfangen soll, die ich mag. Sie werden mir zu Last, das war schon von klein auf so. … Nein, nein, ich will allein sein." Allein sind ausnahmslos alle ihre Protagonist_innen, auch die in ihren letzten Texten noch – allein auf eine merkwürdige, beinah mystische Art. Alle leiden an sich und der Welt, doch so sehr sie auch leiden – sie kämpfen, bis zum Schluss. "Die schreckliche Pflicht ist, das Leben zu Ende zu leben", so Lispector in einem Interview, in dem sie den Vergleich mit Virginia Woolf zurückwies, nicht weil er unberechtigt gewesen wäre, sondern deshalb, weil Woolf aufgab und Selbstmord beging.
Warum Lispector das so sah, verwundert nicht angesichts ihrer Lebensgeschichte. Zunächst die Fakten, in groben Zügen: Geboren wird sie am 10. Dezember 1920 als dritte und jüngste Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine. Zwei Monate nach ihrer Geburt wandert die Familie nach Brasilien aus. Obwohl ihre Familie arm ist, gelingt Clarice eine geradezu unglaubliche Karriere: Sie, die Jüdin, wird zugelassen an einer Eliteuni, die Juden den Zutritt verwehrt. Sie kann ihre ersten Texte publizieren, weil ein antisemitischer Propagandaminister ihr den Weg freimacht. Und sie heiratet einen katholischen Diplomaten, trotz gesellschaftlicher Tabus, die die Ehe mit Juden ächten. Mit ihrem Mann geht sie nach Washington, Bern, Warschau, bekommt zwei Söhne und kehrt erst 1959 nach Rio de Janeiro zurück. Inzwischen geschieden, schreibt und publiziert sie weiter - bis zu ihrem Tod 1977 eher zurückgezogen lebend, aber sehr wohl wissend um die Bewunderung, die sie genießt, als Schriftstellerin und auch als Journalistin.
Ein ganzvolles Leben, zumindest den äußeren Eckdaten nach. Und doch – so zumindest erzählt es die Biographie von Benjamin Moser – wird es beherrscht von einem Trauma: 1919, ein Jahr vor Lispectors Geburt, war ihre Mutter vergewaltigt worden bei einem der zahllosen Pogrome, die auf die Oktoberrevolution folgten. Banden und eine marodierende Soldateska machten Jagd auf Juden, Schätzungen sprechen von bis zu 40.000 Toten. In ihrer einzigen direkten Anspielung darauf schreibt Lispector kurz vor ihrem Tod: "Ich wurde für meine Geburt so schön vorbereitet. Meine Mutter war damals schon krank, und einem recht verbreiteten Aberglauben folgend, dachte man, ein Kind zu bekommen, könne eine Frau von einer Krankheit heilen. Nur habe ich meine Mutter nicht geheilt. Und ich spüre bis heute, wie diese Schuld auf mir lastet."
Die Vergewaltigung hatte ihre Mutter mit Syphilis infiziert. Clarice war zehn, als sie starb, nach Jahren qualvollen Dahinsiechens. Sie hatte die Mutter nicht retten können, durch ihr Geborenwerden nicht und auch durch die Geschichten nicht, die sie als Kind für sie erfand. Versucht allerdings hat sie es ihr Leben lang. Der Wunsch erlösen zu wollen durchzieht die Texte von Clarice Lispector wie ein Leitmotiv: "Ich suche jemanden, den ich retten kann", lässt sie die Hauptfigur in einer ihrer letzten Erzählungen sagen, einen Mann, dessen Lebensgefährtin nur in seiner Phantasie existiert. "Die einzige Person, die mir das ermöglicht, ist Angela. Und indem ich ihr Leben rette, rette ich auch meines."
AVIVA-Tipp: Eine mehr als lesenswerte Biographie, zum einen natürlich wegen Clarice Lispector. Vielleicht schafft Mosers Biographie, was feministischer Literaturwissenschaft nicht gelang – ein breiteres Publikum für Lispectors Werk zu gewinnen. Inzwischen sind zwei ihrer Romane wieder aufgelegt worden, "Nahe dem wilden Herzen" und "Der Lüster" (beide im Schöffling Verlag). Beeindruckend ist die Biographie aber auch aufgrund der Anschaulichkeit und der Empathie, mit der Benjamin Moser Geschichte erklärt: Wer wissen will, was ein Pogrom für seine Opfer noch in 2. und 3. Generation bedeutet, kann es hier nachlesen.
Zum Autor: Benjamin Moser geb. 1976 in Houston, Texas, lebt in den Niederlanden, wo er an der Universität Utrecht promovierte. Er verfasst regelmäßig Beiträge für Harpers Magazine und The New York Review of Books und ist als Biograph von Clarice Lispector außerdem Herausgeber ihrer Werkausgabe in neuer Übersetzung bei New Directions.
Mehr Infos unter: benmoser.com
Zu Clarice Lispector, geboren 10. Dezember 1920, gestorben am 9. Dezember 1977, wurde in der Ukraine geboren, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. (Verlagsinformation)
Benjamin Moser
Clarice Lispector. Eine Biographie
Originaltitel: Why this World. A Biography of Clarice Lispector. Originalverlag: Oxford University
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
btb Verlag, erschienen 13. Juli 2015
Taschenbuch, Broschur, 576 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-442-74904-1
€ 14,99
www.randomhouse.de
Benjamin Moser
Clarice Lispector. Eine Biographie
Originaltitel: Why this World. A Biography of Clarice Lispector. Originalverlag: Oxford University
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Schöffling Verlag, erschienen 2013
584 Seiten. Gebunden, Lesebändchen
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-89561-622-8
€ 36,95
www.schoeffling.de
Weiterführende Links
Offizielle Webseite zu Clarice Lispector: www.claricelispector.com.br (auf Portugiesisch)
Ein Portrait auf Jewish Women´s Archive jwa.org
Video von einem Interview mit Clarice Lispector in São Paulo, 1977 (mit englischen Untertiteln)