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Beitrag vom 15.11.2015
Charlotte Roche - Mädchen für alles
Christina Mohr
Vier Jahre nach ihrem letzten Buch "Schoßgebete" hat Charlotte Roche nachgelegt: "Mädchen für alles" heißt der neue Roman, dem automatisch und von vornherein ebensoviel Skandal-Potenzial...
... attestiert wurde wie Roches Debüt "Feuchtgebiete".
Derzeit ist frau jedoch besser beraten, Interviews mit Charlotte Roche wie zum Beispiel in der November-Ausgabe von Galore zu lesen: Dort präsentiert sich Roche als furchtlose, witzige, nachdenkliche und zuweilen paradoxe Gesprächspartnerin, die "sich rein gar nichts vorstellen kann, worüber man schweigen sollte". Das klingt prima, ein bisschen aufrührerisch und gewohnt tabubrechend, wie Roche es in ihren beiden früheren berüchtigten Romanen vorexerzierte.
Und auch "Mädchen für alles" kratzt durchaus an Tabus unserer Gesellschaft: Ich-Erzählerin Christine Schneider (bemerkenswert: Chrissies Blickwinkel wird kein einziges Mal verlassen. Wir lesen die gesamte Story durch ihre Brille, sozusagen) hat Haus, Mann und kleines Kind – und ist mit allem komplett überfordert, obwohl (oder weil) sie momentan nicht lohnarbeitet. Frau könnte rasch bei der Hand sein, Christine eine schlechte Mutter zu nennen, weil es schlicht und einfach nicht geht, nicht erlaubt ist, sich vorsätzlich nicht ums Kind zu kümmern, alle Sorge dem Vater zu überlassen, stattdessen biertrinkend TV-Serien glotzen, sich mutwillig selbst verletzen, um sich nicht kümmern zu müssen – oh ja, so wie sich Christine (nicht) verhält, darf eine Mutter nicht sein. Oder? Das Ausgangssetting ist von Roche schon mal gut gewählt, und gerade zu Beginn des Romans drängt sich beim Lesen der Gedanke auf, "Mädchen für alles" könne neben Anke Stellings "Bodentiefe Fenster" ein ebenbürtiger, ebenso bitterer Kommentar zur Lebensrealität der sogenannten "Bionade-Boheme" sein: Die schonunglose Offenlegung der Probleme einer Schicht, die oberflächlich betrachtet gar keine Probleme haben sollte.
Dass dem nicht so wird, ändert sich mit dem Auftreten der titelgebenden Figur: dem "Mädchen für alles", sprich der Kinderfrau und Haushaltshilfe Marie, die Christines ebenfalls überforderter Ehemann (von dem wir nicht viel erfahren, er bleibt meist wortlos anklagende, kümmernde Hülle) anstellt. Christines Slacker-Dasein gewinnt an Auftrieb, sobald Marie im Haus ist: Manisch plant sie die Verführung der unbedarften, schönen Studentin – die entsprechenden Masturbationsphantasien haben kaum etwas mit früheren Ausführungen zu Blumenkohl-Hämorrhoiden oder Sex mit Avocadokernen zu tun. Das ist völlig okay, warum auch sollte die Autorin nur um der Sensation willen die Skandal-Spirale weiter- und überdrehen? Es ist nur so, dass gerade der Teil der Geschichte, der besonders intensiv und saftig (Verzeihung) zu werden verspricht, blass und uninspiriert wirkt. Ganz so, als verlöre Roche auf halber Strecke buchstäblich die Lust am eigenen Projekt. Was genau wollte Christine nochmal von Marie? Und warum? Zunehmend unmotiviert streift frau mit der unablässig koksenden Chrissie und Marie weiter durch die hanebüchenen Irrungen und Wirrungen des Romans, der am Schluss in den ultimativen Tabubruch mündet: den Elternmord. Irgendwo in der Mitte des Romans tauchen sie schon mal auf, die geschiedenen Eltern, die Christine durch ihre Streitereien das jugendliche Leben zur Hölle machten. Doch Anfang und (ohnehin nur phantasierter, also gar nicht so tabuloser) Schluss wirken merkwürdig unverbunden. "Mädchen für alles" verzettelt sich, tragischerweise. Ausgerechnet deswegen, weil die unerschrockene Charlotte Roche sich diesmal vor allzu kompromisslosem Schreiben scheut.
AVIVA-Tipp: Es ist sicher falsch, aufgrund früherer Werke einer Autorin gegenüber eine Erwartungshaltung aufzubauen – andererseits wurde diese Haltung in wenigen Fällen so stark geschürt wie bei Charlotte Roches aktuellem Roman. Dieser kann also nur abfallen im Vergleich zu den Vorgängern "Feuchtgebiete" und "Schoßgebete". Charlotte Roche als Autorin ad acta zu legen, ist allerdings gewiss genauso falsch: Sie hat nach wie vor den unbestechlichen Laserblick für alles, was schmerzt und worüber gesprochen/geschrieben werden muss. Bleibt zu hoffen, dass "Mädchen für alles" nur ein kleiner Hänger in ihrem Schaffen ist.
Zur Autorin: Charlotte Roche, 1978 in High Wycombe, Großbritannien, geboren, bewegt nicht erst seit ihren Romanen "Feuchtgebiete" und "Schoßgebete" die Gemüter. Beide Bücher wurden fürs Kino verfilmt. Legendär sind ihre mit Chuzpe geführten Star-Interviews beim Musik-TV-Sender VIVA II, die sie als kluge und humorvolle Persönlichkeit auszeichneten. Charlotte Roche lebt heute mit ihrer Familie in Köln.
Mehr Infos: www.charlotteroche.de
Charlotte Roche
Mädchen für alles
Piper, 2015, 1. Auflage
240 Seiten, Klappenbroschur
€ 14,99
ISBN-13: 978-3-492-05499-7
www.piper.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Charlotte Roche – Feuchtgebiete
Feuchtgebiete. David Wnendts Verfilmung des Bestsellers von Charlotte Roche. Kinostart: 22. August 2013