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Beitrag vom 11.05.2016
Anneliese Mackintosh - So bin ich nicht. (Gretas Storys)
Laura Seibert
Alkoholsucht, Trauer, Vergewaltigung: Romanhafte Kurzgeschichten ziehen die Leserin in den Strudel psychischer und körperlicher Abgründe der Ich-Erzählerin, die fortlaufend nach Remedien sucht und emotionale Oasen ersinnt. Ein gelungenes Debüt.
Als am 09. Mai 2016 abends um kurz nach halb acht die Lichter ausgingen und die Aufmerksamkeit sich auf die an der Rückwand des Buchladens aufgebaute Bühne richtete, waren alle aufgestellten Stühle besetzt. Neugier lag in der Luft, drei junge Autorinnen würden heute Abend lesen, zwei ihre eigenen Texte auf Englisch und eine dritte Übersetzungen auf Deutsch, von denen jede 2015 ihr erstes Buch veröffentlichte. Die Idee, eine zweisprachige Lesung zu veranstalten, setzte die Buchhandlung Uslar & Rai in der Schönhauser Allee erstmalig um.
Zu hören waren die britische Autorin Anneliese Mackintosh mit ihrem Debüt "Any Other Mouth" ("So bin ich nicht (Gretas Storys)") und die Australierin Abigail Ulman mit ihren Kurzgeschichten "Hot Little Hands" ("Jetzt – Alles – Sofort"). Ausgewählte Stellen wurden von der in Berlin lebenden russisch-jüdischen Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin Kat Kaufmann vorgetragen, die 2015 ihren Roman "Superposition" veröffentlichte.
Verletzliche Coolness
"No man needed" lautete Kat Kaufmanns Ansage, als sie als Erste zur Stelle war, um das Mikro für Anneliese Mackintosh in die richtige Position zu bringen - denn die britische Autorin trägt ihre Texte am liebsten im Stehen vor. Die Gelegenheit, ihre Lesung als Performance zu gestalten, lässt sie sich ungern entgehen.
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Kat Kaufmann richtet das Mikro für Anneliese Mackintosh ein. © AVIVA-Berlin, Laura Seibert |
Sie begann mit der Geschichte
"When I die this is how I want it to be", in der deutschen Ãœbersetzung
"Wenn ich einmal tot bin". Als großartige Performance-Künstlerin vermochte sie es, das Publikum durch eine facettenreiche Gefühlsachterbahn zu leiten, es wurde viel gelacht, wenn sie beispielsweise ganz unbescheiden mit ihrem Tod auch den Weltuntergang herbeiwünscht,
"just one tiny apocalypse".
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Anneliese Mackintosh beeindruckte mit einer Performance, die unter die Haut ging. © AVIVA-Berlin, Laura Seibert |
Das Publikum bannte sie mit ihren Worten. Die Traurigkeit war spürbar und in ihren Augen lesbar, als sie die Anleitung für ihre eigene Beerdigung mit den Worten schloss:
"I don´t want anyone to feel anything."Das bevorzugte Medium der wortgewandten Britin sind Kurzgeschichten, vorwiegend für Erwachsene, ihre Lieblingsthemen nach eigener Angabe Sexualität, Trauer, Frauen, Beziehungen, Abhängigkeit, und ganz besonders sie selbst. Das ist im Prinzip schon ein knappes Resümee ihrer ersten Buchveröffentlichung. Mit diesem legte sie ein autobiographisches Werk vor, in dem die Leserin die einschneidenden Momente des Lebens der Erzählerin teilt, die Trauer um den verstorbenen Vater, der Schmerz über die wiederholten Selbstmordversuche der Schwester und die eigene Alkoholsucht. Es vereint eine Reihe Kurzgeschichten, die jedoch alle von der gleichen Ich-Erzählerin Greta handeln, sodass mehr der Eindruck eines episodenhaften Romans entsteht. Wie genau sich ihr Werk einordnen lässt, ist auch für die Autorin nicht eindeutig zu benennen:
"It was actually very tricky deciding what to call my book. At first I called it a short story collection, because I´d been writing the stories separately, and getting them published in various anthologies and magazines. But then, as I began to edit them, I gave the stories the same central protagonist and one over-arching narrative, so I started calling the book `an experimental novel´", sagte sie in einem auf ihrer Internetseite veröffentlichten
Interview.
Kat Kaufmann trug aus
"So bin ich nicht" die Shortstory
"Wärst du ein Kaffeetrinker" vor, die von einem perfekten Tag mit einem imaginären Geliebten handelt.
"I´m Russian. I always read melodramatic" verkündete sie strahlend, bevor sie zu lesen begann. Auch sie ist eine überzeugende Textinterpretin, die die Fragilität und Verletzlichkeit der Ich-Erzählerin in der Modulation ihrer Stimme greifbar gemacht hat.
GretaAnneliese Mackintosh gibt ihrer Protagonistin einen deutschen Namen, wie sie selbst, ist sie in Deutschland zur Welt gekommen und wohnt als junge Frau eine kurze Weile in Berlin. Greta beobachtet und beschreibt das Leben und die Leute um sich herum, ihre Umwelt, aber vor allem ihren eigenen Gefühlen gilt eine ausführliche Auseinandersetzung. Nur um zu wissen, wie es weitergeht, setzt Greta sich unsicheren Momenten aus, in denen sie oftmals ungewollt involviert wird. Ohne die distanzierte Rolle der Beobachterin finden nicht alle Begegnungen einen glücklichen Ausgang:
Das ist so ein Problem, das Schriftsteller haben. Ich hätte aufstehen und gehen sollen, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die Begegnung in gedruckte Worte zu transformieren.Vertrieben aus einem Paradies – dieses Gefühl bewirkt die Schilderung der Kindheitsidylle, in den Erinnerungen an ihren geliebten Vater, der eine kleine, autarke Welt für sich und seine Familie aufzubauen versuchte. Als erwachsene Frau, als trauernde Tochter, zieht sie ohne Verankerung in der Welt umher, verlässt und bezieht Wohnungen, ohne ein Zuhause zu finden. Im Erinnern stößt sie auf verdrängte Verletzungen, die nicht verheilen:
Überhaupt hatte ich alles komplett vergessen, bis es mir Jahre später mit einem dermaßen brutalen Schock wieder einfiel, dass mir fast die Luft wegblieb. Wovon sie ihren vertrauten FreundInnen nicht erzählen kann, berichtet sie einem flüchtig Bekannten beim Sex, der sie nach ihrem dunkelsten Geheimnis fragt.
Ich habe Probleme, mein Herz ruhig und meinen Mund geschlossen zu halten. Also flüsterte ich ihm ins Ohr: `Ich bin mit achtzehn gruppenvergewaltigt worden.´Sie berichtet von Begegnungen, in denen sie sich betrogen fühlt, von der Vieldeutigkeit, die das Spiel mit den Erwartungen begleitet, und die dann doch nichts heißt, weil Ausgespartes zutage tritt. Wie die enttäuschende Begegnung mit einer Frau, die nach ein paar Tagen intensiver und freundschaftlicher gemeinsamer Zeit ihren Mann erwähnt, wie nebenbei, dabei hatte sich die Ich-Erzählerin Hoffnung auf mehr Nähe zwischen ihnen gemacht. Die unerwartete und unvorhergesehene Neuigkeit lässt ihr Hirn
einen panischen Achter vollführen.
Lieber unbeeindruckt als verzagtDer amüsante Höhepunkt an diesem Abend in der Buchhandlung war wohl die deutsche Lesung aus Abigail Ulmans Buch
"Jetzt – Alles – Sofort", dessen explizite Sexszenen den Moderator Joachim Bessing nach eigener Aussage dazu brachten, es beiseite zu legen und die Lektüre abzubrechen. Glücklicherweise hatte Kat Kaufmann keine Bedenken diese Szene vorzutragen. Die Komik einer unbefriedigenden Begegnung zwischen der Protagonistin Elise und einem Bekannten, die auf einer Party aus Langeweile miteinander schlafen, brachte sie hervorragend zur Geltung.
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Abigail Ulman und Kat Kaufmann auf der Lesebühne bei Uslar & Rai. © AVIVA-Berlin, Laura Seibert |
AVIVA-Tipp: "So bin ich nicht" liest sich fast zu schnell - so wenig möchte es mensch aus der Hand legen. Ein berührendes Werk, das einem Roman sehr nahe kommt, obwohl es keiner sein sollte. Glaubwürdigkeit ist die Stärke der Autorin, deren nächste Veröffentlichung gespannt erwartet werden darf, in der Hoffnung auf eine gekonnte Fortsetzung dieser ungewöhnlichen und doch alltäglichen Geschichten, über Verlust, Verletzung und Versagen.
Zur Autorin: Anneliese Mackintosh in Deutschland geboren, wuchs in England auf, wo sie heute in der Nähe von Cornwall zusammen mit ihrem Mann lebt. Sie besuchte die Universität von Nottingham und absolvierte einen Master in Kreativem Schreiben. Außer ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin tritt sie als Performance-Künstlerin auf, interpretiert ihre eigenen Texte, arbeitet als Verlegerin und unterrichtet Kreatives Schreiben. Ihre Geschichten wurden bereits in verschiedenen englischsprachigen Literaturmagazinen veröffentlicht, unter anderem "The Scotsman", "Edinburgh Review", "Litro Magazine and Gutter", "Citizens For Decent Literature" und 2013 in "The Best British Short Stories 2013" aufgenommen, sowie im Radio ausgestrahlt.
Mehr Informationen zur Autorin: www.anneliesemackintosh.comInterview von Rachel Connor mit Anneliese Mackintosh auf:
rachelconnorwriter.comZur Übersetzerin: Gesine Schröder, 1976 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Kiel und Berlin. Heute lebt sie als freie Übersetzerin in Berlin, nach Aufenthalten in den USA, Australien, Indien, England und Kanada. Sie übersetzte bereits Louise Erdrich, Kim Edwards, Curtis Sittenfeld und Jennifer duBois ins Deutsche.
Die Ãœbersetzerin auf der Verlagsseite:
www.aufbau-verlag.deAnneliese Mackintosh
So bin ich nicht (Gretas Storys)Originaltitel: Any Other Mouth
Aus dem britischen Englisch von Gesine Schröder
Aufbau Verlag, erschienen im April 2016
Gebunden mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN 978-3-351-03628-7
19,95 EUR
www.aufbau-verlag.deWeiterlesen zu Kat Kaufmann, "Superposition" sowie zu Abigail Ulman, "Jetzt – Alles – Sofort":Kat Kaufmann
SuperpositionHoffmann und Campe Verlag, erschienen am 15.08.2015
Mit Schutzumschlag, 272 Seiten
ISBN 978-3-455-40534-7
20,00 EUR
www.hoffmann-und-campe.deAbigail Ulman
Jetzt – Alles – SofortOriginaltitel: Hot Little Hands
Aus dem australischen Englisch von Anna-Christin Kramer
Kein & Aber Verlag, erschienen im Februar 2016
Hardcover, 368 Seiten
ISBN 978-3-0369-5738-8
19,90 EUR
keinundaber.chWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Abigail Ulman. Jetzt - Alles – SofortEine der besten jungen AutorInnen Australiens richtet in ihrem ersten Erzählband den Fokus auf die Erwartungen und Enttäuschungen junger Frauen und Teenagerinnen. Zuviel Sex and the City, aber anspruchsvolle offene Enden. (2016)
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