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Beitrag vom 28.05.2016
Jagoda Marinić - Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?
Nana Nkrumah
In der hitzigen Debatte zur Flüchtlingspolitik meldet sich die deutsch-kroatische Aktivistin und Autorin Jagoda Marinić mit der Forderung nach einem neuen nationalen Identitätsverständnis zu Wort...
... und hinterfragt damit kritisch den deutschen Integrationsdiskurs der vergangenen Jahrzehnte.
Braucht Deutschland ein neues nationales Bewusstsein? Sind die hier lebenden Nicht-"Ursprungsdeutschen" – seien es sogenannte Geflüchtete, AusländerInnen, MigrantInnen oder Menschen mit Migrationshintergrund – Teil des deutschen Identitätskonzepts, oder können es in Zukunft werden? Diese Fragen stellt Jagoda Marinić ins Zentrum ihres Sammelbandes "Made in Germany". Enthalten sind neben einem neu verfassten Vorwort fünf Reden der deutsch-kroatischen Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin Marinić aus den vergangenen vier Jahren, die sie bundesweit bei Konferenzen zum Thema Integration und Diversity oder als deutsche Repräsentantin in den USA gehalten hat.
Marinić hat sich beispielsweise in ihrem von Kristine Tencic, AVIVA-Berlin rezensierten Roman "Restaurant Dalmatia" (2013) als Schriftstellerin mit den Themen Identität und Herkunft sowie mit der Geschichte der GastarbeiterInnen in Deutschland auseinandergesetzt. "Made in Germany" gibt nun Einblicke in ihr politisches Engagement:
"Ich fürchte, ich hatte keine andere Wahl, als sowohl Aktivistin als auch Autorin zu werden. Vielleicht wäre ich gern Letzteres geworden. Aber dieses Privileg wurde mir nicht gegeben, weil ich das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärfen wollte, wie wir mit Geschichten umgehen und was für uns ein deutscher Roman ist, was eine deutsche Geschichte, was ein deutsches Gedächtnis", reflektiert Marinić in "Made in Germany" ihren Werdegang.
Der verleugnete Erfahrungsschatz – Erfolgsgeschichten von EinwandererInnen
Marinić – und hier zeigt sich ihre Perspektive vom Standpunkt einer Geschichtenerzählerin – vertritt im Sammelband "Made in Germany" die These, dass sich ein nationales Identitätsgefühl aus den Geschichten bildet, die in der Öffentlichkeit erzählt werden. Die Geschichten der EinwandererInnen bezeichnet sie als "narrativen weißen Fleck" im nationalen Bewusstsein, weil diese in Romanen, Schulbüchern, Fernsehserien oder anderen massenwirksamen Plattformen kaum vorkommen. Und weil "Identität Narration ist", seien die EinwandererInnen im öffentlichen Bewusstsein auch nicht Bestandteil der deutschen Identität, so die Schlussfolgerung.
Marinićs Eltern sind ehemalige "GastarbeiterInnen" aus Dalmatien. In ihrer Argumentation verweist Marinić auf die Erfahrungen der GastarbeiterInnen seit den 1950er Jahren, deren Ankommen in der deutschen Gesellschaft in ihren Augen oftmals Erfolgsgeschichten darstellen – so sieht sie ihre Eltern als "Helden ihrer Träume", die sie für ihr Streben nach einem besseren Leben bewundert. In den Erfolgsgeschichten stecke, argumentiert Marinić, ein großer Erfahrungsschatz, aus dem der Integrationsdiskurs schöpfen könne, doch stattdessen würden diese authentischen Lebensgeschichten im öffentlichen Diskurs ausgeblendet und die EinwanderInnen als "bildungsferne[] Exbauern", als "Schafhirteneltern ohne Alphabetisierungshintergrund" abgestempelt.
Die "verleugnete Einwanderungsvergangenheit" zeuge, so Marinić, vom Unwillen der "Ursprungsdeutschen", EinwanderInnen sowie deren Kinder zum Teil der deutschen Identität zu machen. Von diesem Ausschlussmechanismus betroffen, würden sie in die Rolle des "Underdogs" ("Bushido-Ghetto-Deutsche mit Migrationshintergrund") gedrängt oder seien als “"überassimilierte Vorzeigeausländer" gezwungen, die Herkunft der Eltern zu verdrängen, um anerkannt zu werden, spitzt Marinić zu.
Auf der Suche nach einer neuen, zeitgemäßen "Identität Made in Germany"
Da Deutschland faktisch immer mehr zum Einwanderungsland werde, ist für Marinić eine "neue Identitätspolitik", die der Vielfalt Rechnung trägt, unerlässlich:
"In den meisten deutschen Städten leben inzwischen Menschen, die mehr als eine Kultur kennen, die meisten Menschen wechseln im Laufe des Tages Milieus, Sprachen, Lebenswelten und Stimmungen. Sechzig Jahre Einwanderung, und noch immer suchen wir eine Sprache für dieses Land, die unser nationales Selbstverständnis erweitern könnte, ohne dass Konturen verschwinden, Grenzen einfach aufgelöst werden und Gleichmacherei betrieben wird."
Aber wie sieht für Deutschland ein "Identitätsangebot für alle" aus, das ethnische und kulturelle Diversität einschließt? Marinić gibt dafür Denkanstöße, versucht aber nicht mit einem Programm Lösungsansätze mitzuliefern.
Auf Nachfrage antwortet sie bei ihrer Buchpremiere am 23. April 2016 beim READ!BERLIN Literaturfestival im Galli Theater: Der richtige Weg sei für sie kein intellektuelles, von oben entwickeltes Modell, sondern in Zukunft müssten verstärkt Wertediskurse geführt werden, in die EinwandererInnen beispielsweise mithilfe des kommunalen Wahlrechts für AusländerInnen noch stärker einbezogen werden. Das Paradigma Mehrheitsgesellschaft versus Minderheiten müsse zugunsten eines pluralistischen Diskurses aufgebrochen werden, wo der "Aushandlungsprozess als das Gemeinsame" wahrgenommen wird und die Menschen lernen, mit der Differenz zu leben. (Die Lesung und Diskussion zur Buchpremiere gibt es zum Nachhören unter: voicerepublic.com)
AVIVA-Tipp: "Made in Germany" enthält starke Thesen, oft überspitzt und mit viel Wortwitz formuliert. Der zentrale Gedanke, dass Deutschland in Zukunft ein Identitätskonzept braucht, das die im Land lebenden Menschen unabhängig von der Herkunft oder der Ethnie zusammenhält, wurde von der Autorin überzeugend und anhand vieler bildhafter Beispiele herausgearbeitet.
Zur Autorin: Jagoda Marinić, wurde 1977 im schwäbischen Waiblingen geboren und studierte in Heidelberg Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik. Die deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin veröffentlichte u.a. Erzählbände wie "Eigentlich ein Heiratsantrag" (2001) oder "Russische Bücher" (2005) wofür sie den Grimmelshausen-Förderpreis erhielt. Ihr Roman "Die Namenlose" wurde vom Spiegel zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2007 gezählt. 2013 erschienen ihre "Gebrauchsanweisung für Kroatien" sowie ihr Roman "Restaurant Dalmatia", der die Lebensgeschichte von Gastarbeiterfamilien in Deutschland in den Fokus stellt. Als Journalistin schreibt sie u.a. für die Frankfurter Rundschau und die taz. Nach Aufenthalten in Zagreb, Split, New York und Berlin lebt Marinić derzeit in Heidelberg, wo sie das Kulturprogramm des bundesweit ersten International Welcome Center leitet.
(Quelle: Verlagsinformationen; Autorinnenwebsite)
Mehr Infos unter: www.jagodamarinic.de und www.hoffmann-und-campe.de
Jagoda Marinic
Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?
Hoffmann und Campe Verlag, erschienen Mai 2016
Gebunden, 176 Seiten
ISBN: 978-3-455-50402-6
www.hoffmann-und-campe.de
Aktuelle Lesetermine von Jagoda Marinic sind auf den Verlagsseiten zu finden unter: www.hoffmann-und-campe.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin
Jagoda Marinić – "Restaurant Dalmatia"
In ihrem Roman porträtiert Marinić feinfühlig die Verbunden- und Zerrissenheit einer sogenannten Gastarbeiterfamilie aus Ex-Jugoslawien in Berlin (2014)
"Russische Bücher" von Jagoda Marinić
In den drei Erzählungen geht es um Verlust, den Verlust von PartnerInnen, FreundInnen und Eltern. Die Schwierigkeit, Beziehungen aufzubauen und das eigene Leben zu meistern (2005)